Am vergangenen Sonntag waren viele russische Bürger an die Wahlurnen gerufen: Mehr als 4500 Referenden und Wahlen fanden statt. Unter anderem haben 22 Föderationssubjekte Gouverneure gewählt, sieben Wahlkreise stimmten bei Nachwahlen für die Staatsduma ab, einige Städte wählten Bürgermeister und Stadträte.
Der sogenannte Einheitliche Wahltag wurde vielerorts in Russland durch massive Proteste gegen die Rentenreform begleitet. Das Bürgerrechtsprojekt OWD-Info zählt russlandweit derzeit mehr als 1000 Verhaftungen, im Netz kursieren Videos, auf denen Mitarbeiter der Polizei und der Nationalgarde auf Demonstranten einprügeln.
Obwohl die Proteste sich hauptsächlich gegen die Regierungspartei Einiges Russland richteten, wurde vermehrt auch gegen den Präsidenten Putin skandiert. Darin sehen viele Beobachter veränderte Rahmenbedingungen: Die in der Gesellschaft äußerst unpopuläre Rentenreform ziehe nicht nur Einiges Russland runter, sondern auch den Präsidenten. Schlechtere Zustimmungswerte sind dabei genauso die Folge, wie schlechtere Wahlergebnisse.
In Moskau etwa, wo wochenlang massiv für den Urnengang bei der Bürgermeisterwahl geworben wurde, blieb die Wahlbeteiligung gering: Nach vorläufigen Zahlen gingen nur rund 31 Prozent zu den Wahllokalen. Damit ist die Wahlbeteiligung gegenüber der letzten Wahl im Jahr 2013 um rund einen Prozentpunkt gesunken. Damals holte der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny 27 Prozent der Stimmen, Sergej Sobjanin gewann die Wahl mit rund 51 Prozent. Diesmal war die politische Konkurrenz Sobjanins schon im Vorfeld unterbunden, und der Bürgermeister erhielt rund 70 Prozent der Stimmen.
In der Oblast Irkutsk, in Chakassien sowie in der Oblast Uljanowsk haben laut vorläufigen Zahlen die Jedinorossy gar ihre Macht im Parlament verloren. Stattdessen wurden die Kommunisten, die landesweit für die Proteste gegen die Rentenreform trommelten, hier die stärkste Kraft. Nach jetzigem Stand müssen außerdem in vier Föderationssubjekten Gouverneure nachgewählt werden, weil keiner der Kandidaten 50 Prozent plus eine Stimme erreichte. Dies ist im Russland der letzten Jahre sehr ungewöhnlich und wird von einigen Beobachtern ebenfalls als Klatsche für die Regierungspartei Einiges Russland gewertet. Schließlich ist ersten Meldungen zufolge vielerorts der Anteil von ungültigen Stimmen höher und die Wahlbeteiligung niedriger als bei der letzten Wahl. Beides wird in Russland oft als Ausdruck von Protest gewertet.
Die Novaya Gazeta hat noch am Wahltag verschiedene Politologen um eine erste Einschätzung gebeten. dekoder bringt Ausschnitte daraus, zeigt Fotos von Protestveranstaltungen in unterschiedlichen russischen Städten und die interaktive dekoder-Infografik gewährt Einblicke ins Moskauer Wahlverhalten.
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbild-Modus wechseln. Quelle: ZIK
Die Wahl ist sinnentleert
Nikolaj Petrow
Politologe
Das harte Vorgehen von Staatsseite könnte dafür sprechen, dass sie es als ernsthafte Gefahr empfindet, dass die Opposition vor dem Hintergrund dieser – aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung – nicht sehr legitimen Wahl recht ordentliche Protestaktionen vorlegt. Und das diskreditiert die Kandidaten der Regierungspartei zusätzlich.
Der Opposition ist es wohl gelungen, den ordentlich konstruierten Feiertag namens Wahltag zu verderben, denn es hat geklappt, an diesem Tag die Leute auf die Straße zu holen.
Was Moskau angeht, so werden bei all den Anstrengungen, die von Staatsseite zur Steigerung der Wahlbeteiligung unternommen wurden, die schlussendlichen Ergebnisse wohl dennoch eher ein Flop sein. Andererseits wird die Wahlbeteiligung vielleicht niedriger, aber nicht radikal niedriger sein als 2013. Vergleichen muss man jedoch die Wahlen als solche: Damals gab es zumindest noch den Mythos einer Konkurrenz. Jetzt haben wir genau genommen nur den Versuch von seiten der Regierung zu zeigen, dass ein gewisser Teil der Moskauer Sobjanin unterstützt. Die Wahl in Moskau ist sinnentleert.
Es gibt einen tiefen Bruch
Gleb Pawlowski
Politologe
Als Ergebnis der Proteste gibt es bislang keine Veränderung, die der Staat als Signal der Opposition verstehen könnte, aber es gibt auch kein Signal von Staatsseite, dass sie auch nur irgendwas von dem versteht, was da vor sich geht.
Mögliche neue Wahlgänge in mehreren Regionen sind zweifelsohne eine Folge davon, dass die Bevölkerung unzufrieden ist mit der Regierung.
Die Rentenreform hat etwas in dem Konsens zwischen Bevölkerung und Regierung aufgerissen. Aber der Bruch ist noch nicht vollständig zu Tage getreten, hat sich ins Innere verzogen, und dieser Bruch ist ein schlimmer. Die Regierung hat sich allzu klar und offen der Verantwortung dafür entledigt, unter welchen Bedingungen die Menschen leben.
Mit der Faust in der Tasche zur Wahl
Grigori Melkonjanz
Mitbegründer der Bewegung Golos
In den Regionen werden unterschiedlich schwere und umfangreiche Verstöße beobachtet. Entscheidend ist dabei die Bewertung: Wie schwer oder nicht schwer wiegt für die ZIK beispielsweise der zusätzliche Einwurf von Wahlzetteln.
Zum Beispiel das Problem, Wähler zum Wählen zu zwingen. Im Zusammenhang mit der geringen Konkurrenz und dem intrigenfreien Wahlkampf ist erstens die Zahl der Wahlbeobachter stark zurückgegangen (in Moskau waren es 2013 8000, in diesem Jahr nur 1000). Zweitens ist die Zahl der Wähler gesunken.
Die Rentenreform hat starken Einfluss auf den Wahlkampf genommen. Ein Teil der Menschen ist mit geballter Faust in der Tasche zur Wahl gekommen und mit der Absicht, einzig und allein gegen den Kandidaten oder die Partei zu stimmen, denen sie die Schuld an der Rentenreform geben.
Die Straßenproteste fügen sich in das allgemeine Bild der Rentenreform, aber Festnahmen am Wahltag sind nicht besonders hübsch, deswegen bedeutet es einen Imageschaden für die Kandidaten.
Protest-Volk gegen Spoiler-Kandidaten
Wladimir Perewostschikow
Polittechnologe
Am besten lassen sich diese Wahlen dadurch charakterisieren, dass Ella Pamfilowa, die offiziell als wichtigste Kämpferin gegen Fälschungen bezeichnet wird, noch vor Schließung aller Wahllokale gesagt hat, es gebe keine ernsten Verstöße. Doch die Überraschungen in Form von Regionen mit eventuell zweiten Wahlgängen zeigen: Das Protest-Wahlvolk hat es ungeachtet der ihm präsentierten Spoiler-Kandidaten geschafft, seine Meinung zu den jüngsten Aktionen der Regierung zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere bezüglich der Rentenreform: Die Menschen haben entschieden, dass sie egal wen wählen, nur nicht den Kandidaten der Regierungspartei.
Sankt Petersburg
Festnahmen*: mehr als 452
In Sankt Petersburg fand diesmal keine Wahl statt. Hier gab es aber mit Abstand die meisten Verhaftungen von Protestteilnehmern.
(Fotos: David Frenkel für Mediazona)
Jekaterinburg
Festnahmen*: mehr als 183
In Jekaterinburg und der Oblast Swerdlowsk wurde das Parlament neu gewählt. Rund 22 Prozent der Wahlberechtigten gingen laut vorläufigen Zahlen an die Wahlurnen. Einiges Russland gewann mit rund 32 Prozent der Stimmen.
(Foto: Wladislaw Lonschakow/Kommersant)
Moskau
Festnahmen*: mehr als 43
Der jetzige Bürgermeister Sergej Sobjanin holte laut Hochrechnungen rund 70 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 31 Prozent.
(Fotos: Alexander Miridonow/Kommersant)
Nowosibirsk
Festnahmen*: 10
In der Oblast Nowosibirsk wurde der Interims-Gouverneur im Amt bestätigt: Der Kandidat von Einiges Russland, Andrej Trawnikow, konnte rund 65 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 29,5 Prozent und damit etwa einen Prozentpunkt unter der von 2014.
(Fotos: Waleri Titijewski/Kommersant)
Perm
Festnahmen*: 23
Im Permski Kraj (Region Perm) fanden Kommunalwahlen statt. Rund 26 Prozent der Wahlberechtigten nahmen daran teil, sie wählten 1860 Abgeordnete. In zwei Stadtparlamenten verlor Einiges Russland die Mehrheit an die KPRF.
(Foto: Maxim Kimerling/Kommersant)
Samara
Festnahmen*: keine Angaben
In der Oblast Samara fanden die Nachwahl für die Staatsduma, die Gouverneurswahl sowie Kommunalwahlen statt. Der als Technokrat geltende Interims-Gouverneur Dimitri Asarow war hier Kandidat der Regierungspartei Einiges Russland. Er bekam rund 73 Prozent der Stimmen. Die offizielle Wahlbeteiligung lag bei 48 Prozent. In den Städten Toljatti und Sysran gewann allerdings die KPRF die Wahl für die Stadtparlamente.
(Fotos: Juri Ztrelez/Kommersant)
Woronesh
Festnahmen: keine Angaben
In der Oblast Woronesh gingen offiziell rund 38 Prozent der Wahlberechtigten an die Wahlurnen. Sie bestätigten den Kandidaten von Einiges Russland und Interims-Gouverneur Alexander Gussew mit rund 73 Prozent im Amt.
(Foto: Oleg Charsejew/Kommersant)