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Presseschau № 37: Putschversuch in der Türkei

Rund 300 Tote, 1400 Verletzte, 6000 Festnahmen und 2700 abgesetzte Richter. Das ist die bisherige Bilanz nach dem türkischen Putschversuch in der Nacht zu Samstag.

Russische Medien debattieren die offenen Fragen: Wer steckt hinter dem Putsch? War am Ende alles nur inszeniert?

Aber auch: Könnte Gleiches in Russland passieren? Und was bedeutet der Putsch für die NATO sowie für die gerade erst aufgefrischte türkisch-russische Freundschaft?

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Izvestia: Ende der russisch-türkischen Freundschaft?

Andrej Manoilo, Politikwissenschaftler und Professor an der Moskauer Staatlichen Universität, außerdem Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Russischen Sicherheitsrats, vermutet in der kremlnahen Izvestia eine Einmischung der USA und ein baldiges Ende der russisch-türkischen Freundschaft:

Deutsch
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Womöglich wurden die türkischen Generäle zu diesem verfrühten Aufmarsch von ihren „Partnern“ aus Washington angestoßen, mit denen die Aufständischen ihren finalen Handlungsplan abgestimmt haben.

[...] Der Putsch wurde von der Armee organisiert, die eintritt für „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“. Er sollte die Position Moskaus untergraben (die durch die Wiederaufnahme der Beziehungen zur Türkei gestärkt worden war) und gleichzeitig der ganzen Welt zeigen, was mit politischen Führern passiert, die sich Russland annähern. [...]

Doch Erdogan hat letzten Endes sowohl die aufständischen Generäle als auch die Amerikaner ausgespielt. [...]

[...] als sein [Erdogans] Schicksal am seidenen Faden hing, brauchte er wenigstens einen Verbündeten oder Partner. Ein Land, das ihm im Fall des Falles politisches Asyl gewährt. Jetzt, nach dem Sieg und Gericht über die aufständischen Generäle, wird er zum echten Diktator und braucht keine Hilfe mehr, von niemandem. Und so werden die russisch-türkischen Beziehungen möglicherweise wieder zurückgedreht.

Возможно, к преждевременному выступлению подтолкнули турецких генералов их «партнеры» из Вашингтона, с которыми мятежники согласовывали окончательный план действий. [...] путч, организованный военными, выступающими за «демократию, свободу и права человека», должен был подорвать позиции Москвы (восстановление отношений с Турцией эти позиции укрепило) и одновременно показать всему миру, что бывает с политическими лидерами, взявшими курс на сближение с Россией. [...]

Но Эрдоган в итоге переиграл и мятежных генералов, и американцев. [...]

В условиях, когда его судьба висела на волоске, ему нужен был хотя бы один союзник или партнер — страна, которая в случае чего предоставит ему политическое убежище. Теперь же, после победы и суда над мятежными генералами, он станет полноценным диктатором и ни в чьей помощи уже нуждаться не будет. И тогда, возможно, российско-турецкие отношения будут отыграны назад.

Vedomosti: Gut für Russland in Syrien

Pawel Aptekar dagegen schreibt in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti, dass Russland nun leichteres Spiel mit der Türkei haben wird, wenn es um Syrien geht:

Deutsch
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Russlands Verurteilung des Umsturzversuchs ist ein unzweideutiger Wink, dass man von der Türkei Veränderungen in ihrer Haltung gegenüber Syrien erwartet. Zwar wird Erdogan wohl kaum auf die Unterstützung der [dortigen] Opposition verzichten, aber für Russland wird es nun leichter sein, sich mit der Türkei über „rote Linien“ zu einigen. Ankara wird sich auf den Norden konzentrieren, Moskau auf Latakia, Tartus und wahrscheinlich Damaskus.
Осуждение Россией переворота – недвусмысленный намек, что от Турции ждут изменения позиции по Сирии. Эрдоган вряд ли откажется от поддержки оппозиции, но, вероятно, теперь России будет легче договориться с Турцией о «красных линиях», Анкара сконцентрирует свое внимание на севере, а Москва – на Латакии, Тартусе и, вероятно, Дамаске.

Colta: Besser so

Politologe Wladimir Frolow ist auf dem unabhängigen Portal colta.ru davon überzeugt, dass der Westen froh darüber sein kann, dass der Putsch misslang – und nicht nur der Westen:

Deutsch
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Für Russland gilt ungefähr [folgende] Logik: Es ist besser, es mit der bekannten Größe Erdogan und einer stabilen Regierung zu tun zu haben, mit denen die Beziehungen nach einstweiligen Schwierigkeiten nun fast in Ordnung sind, als mit der nicht allzu bekannten Größe der Militärs, die traditionell gegen Moskau eingestellt sind. Sogar hinsichtlich Syriens, in der Kurden-Frage, deutet sich heute zwischen Moskau und Ankara gegenseitiges Verständnis an.
Для России действует примерно та же логика: лучше иметь дело с понятным Эрдоганом и стабильным правительством, с которыми после временных трудностей отношения уже почти налажены, чем с не очень понятными военными, традиционно настроенными против Москвы. Даже в связи с Сирией между Москвой и Анкарой сегодня намечается взаимопонимание по курдскому вопросу.

Slon: Türkisches Szenario als Vorbild

Oleg Kaschin stellt auf dem unabhängigen Portal slon.ru fest, dass der Kreml Umstürze weltweit stets mit großer Aufmerksamkeit verfolge. Und er stellt die Frage, ob ein Putschversuch seitens der Armee auch in Russland möglich wäre – oder ob vielleicht Putin selbst sich von den Ereignissen in der Türkei inspirieren lassen könnte:

Deutsch
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Es lohnt sich, auf 1918 zurückzublicken, als die Bolschewiken für ihre Armee Soldaten und Kommandeure mobilisierten und deren Familienmitglieder als Geiseln nahmen – diese Erfahrung ist sehr wichtig, um das Grundprinzip der Roten Armee zu verstehen, das sich bis heute gehalten hat, wie der Donbass mit seinen anonymen Bestattungen und den Verzichtleistungen der Ehefrauen gezeigt hat: Russische Armeeangehörige muss man sich eher als bewaffnete Geiseln vorstellen und nicht als eine klassische Armee. Und ihr derzeitiger Häuptling, der Volksheld Sergej Schoigu – der ist eben ein Kommissar, also ein vom Kreml eingesetzter Vorgesetzter, und keineswegs der Anführer eines Offizierskorps, das eigene Interessen und Werte besitzt. Sollte es Sergej Schoigu plötzlich in den Sinn kommen, sich an Wladimir Putins Macht zu vergreifen, müsste er mindestens mit Viktor Solotow ein knallhartes Gespräch führen – allein das Sicherungssystem des Kreml vor politischen Überraschungen kann als Meisterwerk der Verteidungskunst gelten [...]

Die russische Armee kann dem Beispiel der türkischen nicht folgen und sich gegen den Kreml erheben – aber den Kreml hindert nichts daran, das türkische Szenario in der Version russischer Verschwörungstheoretiker zu wiederholen und bei uns einen drolligen Putsch zu veranstalten, dessen drollige Niederschlagung zu allem anderen als drolligen Ergebnissen führen wird.

[...] стоит иметь в виду опыт 1918 года, когда, мобилизуя в свою армию солдат и командиров, большевики брали в заложники членов их семей, – этот опыт очень важен с точки зрения понимания базового принципа Красной армии, сохранившегося, как показал опыт Донбасса с анонимными похоронами и отречениями жен, до сих пор – к российским военным правильнее относиться как к вооруженным заложникам, а не как к классической армии, и нынешний ее предводитель, народный герой Сергей Шойгу – он как раз комиссар, то есть назначенный Кремлем начальник, а вовсе не лидер офицерского корпуса, имеющего какие-то свои интересы и ценности. Если вдруг Сергею Шойгу придет в голову посягнуть на власть Владимира Путина, ему придется иметь очень суровый разговор как минимум с Виктором Золотовым – система защиты Кремля от политических неожиданностей сама по себе может считаться шедевром оборонительного искусства. [...]

Да, российская армия не может последовать примеру турецкой и выступить против Кремля – но самому Кремлю вообще ничто не мешает повторить турецкий сценарий в пересказе российских конспирологов и устроить у нас потешный путч, потешное подавление которого приведет к совсем не потешным результатам.

Arkadi Babtschenko (facebook): Da kann Putin noch was lernen

Kriegsreporter Arkadi Babtschenko zeigt sich auf seinem persönlichen Facebook-Account unmittelbar nach den Ereignissen in der Türkei überzeugt, dass Erdogan den Putsch selbst inszenierte:

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Hm. Erdogan als Regisseur einer Show – geht so. Das ist der erbärmlichste „militärische Umsturz“, den ich kenne. Obwohl – meiner Meinung nach hat er nicht mal selbst kapiert, wie nah er die Türkei gestern an den Rand des Bürgerkriegs gebracht hat. Die Chancen standen wirklich fifty fifty. Es hätte auch schiefgehen können, ganz unerwartet. Nun, es hat hingehauen. Alles paletti [...] Was solls, meinen Glückwunsch an die Erdogansche Türkei zu ihrem langersehnten Sieg über die Demokraktie und die Rückkehr zu geistigen Klammern, Größe und Obskurantismus. Galt der Genosse früher in Bezug auf das Ansichreißen von Macht als kleiner Putin, so kann Putin nun sicherlich selbst etwas dazulernen. Im Grunde hat in der Türkei tatsächlich ein Staatsstreich stattgefunden, und Erdogan hat die Macht ergriffen. Den Kurden natürlich mein herzliches Beileid.

Нда. Ну, как постановщик шоу, Эрдоган - не очень. Это самый лажовый "военный переворот", который я знаю. Хотя, по-моему, он даже сам не понял, насколько вчера поставил Турцию на грань гражданской войны. Там расклад реально пятьдесят на пятьдесят. Могло бы полыхнуть, как и не ожидал. Ну, прокатило. Сработало. [...] Что ж, мои поздравления эрдоганской Турции с её долгожданной победой над демократией и возвращению к скрепам, величию и мракобесию. Если раньше товарища считали за маленького Путина в плане захвата власти, то теперь, безусловно, Путину есть чему поучиться самому. Собственно, государственный переворот в Турции то как раз и состоялся. Власть захватил Эрдоган. Курдам мои соболезнования, конечно.

Komsomolskaja Prawda: Armutszeugnis der NATO

Im Interview mit dem Radiosender Komsomolskaja Prawda, das vom gleichnamigen Boulevardblatt verschriftlicht wurde, sieht Igor Korotschenko, Chefredakteur der monatlichen Militärzeitschrift „Nationale Verteidigung“, den Putschversuch vor allem als Niederlage der NATO:

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Die NATO ist nicht im Stande, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Verzeihen Sie, aber die NATO, die in Warschau verkündet hat, dass die größte Sicherheitsbedrohung von Russland ausgehe, erlebt in Nizza einen Schlag durch den internationalen Terrorismus und gleich am nächsten Tag einen Militärputsch in der Türkei. Wir sollten der NATO jetzt sagen: Schaut mal in den Spiegel … aber stattdessen versucht ihr den Spieß in Richtung Russland umzudrehen. Das heißt, wir sollten Zähne zeigen auf der Informations-Ebene. Aktiv sein. Das mag vielleicht zynisch klingen, aber die Situation sieht so aus, dass wir der NATO mal ordentlich zeigen können, wo der Hammer hängt.
НАТО не может обеспечить свою собственную безопасность. Извините, НАТО, которое заявило в Варшаве, что главная угроза безопасности – Россия – фактически получило удар от международного терроризма в Ницце и дальше на следующий день - военный переворот в Турции. И мы должны сейчас НАТО сказать – посмотрите в зеркало… а вы пытаетесь стрелки переводить на Россию. То есть, мы должны здесь зубки показать информационные. Быть активными. Ну, знаете, может, это цинично звучит, но ситуация такова, когда мы можем ткнуть НАТО «фейсом об тейбл».

dekoder-Redaktion

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Präsidialadministration

Staraja Ploschtschad – außer dem Kreml ist auch diese Moskauer Adresse das Synonym für politische Macht. Unweit der Kreml-Mauern gelegen, hat das Gebäude an der Staraja Ploschtschad 4 eine bewegte Geschichte: Erbaut 1915, befand sich hier zunächst ein Warenhaus, bevor in den 1920er Jahren das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (ZK) einzog. Heute ist hier einer von drei Standorten der Präsidialadministration. Anders als das ZK hat die Präsidialadministration kein verfassungsmäßiges Recht auf das Machtmonopol im Land. Dennoch wird sie wegen ihrer informellen enormen Machtfülle häufig mit dem ZK verglichen.

Die Präsidialadministration (PA) wird laut russischer Verfassung vom Präsidenten gebildet. Dieser regelt durch seine Ukase (dt. Dekrete) die genaue Struktur der Behörde, die Ausgestaltung ihrer Kompetenzen und die personelle Besetzung. 

Die mehr als 2500 Beschäftigten der PA gehören zu den bestbezahlten Staatsbediensteten in Russland, die Gehaltsstufen sind denen im Militär angepasst. Die wichtigsten Personen sind der Leiter der PA (derzeit Anton Waino), seine beiden Ersten Stellvertreter (Sergej Kirijenko und Alexej Gromow), der Pressesprecher (Dimitri Peskow), die präsidialen Vertreter in den föderalen Staatsorganen und in den Föderalbezirken sowie die Abteilungsleiter und Berater des Präsidenten. 

Struktur der PA

Die Struktur der Abteilungen sichert die Ausübung der Kompetenzen ab, die dem Präsidenten formal in der Verfassung zugeschrieben werden. Zu den bedeutendsten gehören: Die Kontrollabteilung, in der 1996 einst Wladimir Putin seine Moskauer Karriere begann und die für die Kontrolle von präsidialen Anweisungen und Gesetzen verantwortlich ist. Sie ist aufgrund weitreichender Kompetenzen zu einem Grundpfeiler der Machtvertikale geworden. 

Desweiteren gehört die Expertenabteilung dazu, die für die Akquisition von Fachwissen aus Think-Tanks und Universitäten sorgt. Außerdem sind hier zu nennen die Abteilungen für Innen- und Außenpolitik sowie die Abteilung für Staat und Recht (GPU). Diese ist für juristische Fragen, etwa bei Gesetzesentwürfen oder Präsidialerlassen zuständig. Die Leiterin der GPU, Larissa Brytschewa, machte zuletzt im Februar 2014 bei einer Vorlesung in der Staatsduma auf sich aufmerksam, als sie die hohe Geschwindigkeit, in der Gesetze erlassen werden und gleichzeitig die mangelnde juristische Qualität der verabschiedeten Gesetze bemängelte.

Informelle Macht

Die Spiegelung vieler Regierungsfunktionen bezeichnet Eugene Huskey als institutionelle Redundanz1. Er deutet damit an, dass, obwohl der Präsident das Staatsoberhaupt, nicht aber Chef der Exekutive ist, die eigentliche exekutive Vorrangstellung dennoch beim Präsidenten liegt. So ist das administrative Gewicht des Leiters der PA, welcher regelmäßig bei Expertenumfragen zu den mächtigsten Politikern gezählt wird, durchaus mit dem des Regierungschefs gleichzusetzen.

Die informelle, gut belegte und rechtlich in keiner Weise gedeckte Einflussnahme der PA auf Parlament, Parteien, Gerichte, Medien, NGOs und Wirtschaftsunternehmen zeugt davon, dass es sich bei ihr keineswegs nur um ein Hilfsorgan des Präsidenten handelt, sondern um eine mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattete Behörde. Ihr Steuerungs- und Kontrollanspruch ist dabei in der politischen Praxis nicht mit Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit vereinbar.


1.Huskey, E. (1999): Presidential power in Russia (Vol. 1), New York
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Sergej Iwanow ist ein russischer Politiker und zählt zu den engsten Vertrauten Wladimir Putins. Von 2001 bis 2007 war Iwanow Verteidigungsminister und galt vor den Präsidentschaftswahlen 2008 neben Dimitri Medwedew als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat. Zwischen 2011 und 2016 leitete er die mächtige Präsidialadministration und gehörte damit zu den wichtigsten politischen Akteuren in Russland.

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