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„Sie trinken aus Angst. Aber das hilft nicht“

Alle Männer zwischen 18 und 27 sind in Russland per Gesetz zum Wehrdienst verpflichtet. Dienstdauer: ein Jahr. Seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine beteuert die russische Führung stets, dass pflichtdienstleistende Soldaten (russ. Srotschniki) nicht an der sogenannten „Spezialoperation“ teilnehmen – entgegen zahlreichen Hinweisen in unabhängigen Medien zu dem Thema. Nur „professionelle Militärs lösen die gestellten Aufgaben“, so Putin wenige Tage nach dem Beginn der Aggression. Damit meinte Putin die sogenannten Kontraktniki – also Berufssoldaten der regulären Streitkräfte. Mit der sogenannten Teilmobilmachung kamen auch Mobilisierte an die Front. Dazu werden sowohl Söldner gezählt als auch Soldaten, die vom Verteidigungsministerium rekrutiert werden. Manche von ihnen ziehen aus Überzeugung in den Krieg, andere werden dazu faktisch gezwungen. Schließlich gibt es auch Mobilisierte, die wohl von Aussichten auf umgerechnet etwa 2500 Euro pro Monat angetrieben werden – ein Vielfaches des offiziellen Medianeinkommens in Russland.

Vielerorts besteht die russische Militärtaktik aus Wellen von Frontalangriffen mit immensen personellen Verlusten. Einige der Mobilisierten dürften das wohl ahnen, wenn sie in den Krieg ziehen. Auf ihrem Weg dorthin kommen sie an Zwischenstationen, Mobilisierte aus dem Ural und Sibirien etwa auch nach Jelanski – eine Militärsiedlung in der Oblast Swerdlowsk. Hier treffen sie aufeinander und auch auf Srotschniki und Berufssoldaten. Es entsteht ein eigentümliches Soziotop, das von Angst geprägt ist, von Verzweiflung und einer gewissen Abgestumpftheit. Diese Eindrücke liefern Journalistinnen von The New Tab, die sich in Jelanski umgesehen haben.

Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen, alle Namen sind geändert.

Источник The New Tab

Jelanski (die Einheimischen nennen es einfach Jelan) ist eine Militärsiedlung in der Oblast Swerdlowsk, die als Zwischenstation für die Mobilisierten aus dem Ural und Sibirien dient. Hier leben um die 7000 Menschen, vor allem Armeeangehörige und ihre Familien. Die Siedlung besteht aus ein paar Blocks grauer vierstöckiger Plattenbauten, von denen manche weder Fenster noch Türen haben, verlassen und zugemüllt sind. Hier befindet sich auch ein großes Trainingszentrum für Pflichtdienstleistende, auf dessen Gelände die Mobilisierten unterbracht sind, während sie auf ihren Einsatz an der Front warten. Jenseits der Siedlung, in der Steppe und im Wald, liegen die Übungsplätze. Von dort hört man immer wieder Explosionen.

In die geschlossene Siedlung kommt man nur mit Genehmigung. Wir rufen eine der Nummern an, die uns die Frau am Ticketschalter des Bahnhofs gibt. Sonja kommt uns abholen. Am Kontrollpunkt hält sie dem Wachmann ein Kärtchen hin, der Mann nickt, und wir dürfen ohne Durchsuchung passieren.

Sonnenaufgang über der Kaserne in Jelanski / Foto © The New Tab„Hier ist das Lokal namens Bunker, der Supermarkt Monetka und dort die Kirche“, zählt Sonja die wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Jelan auf, während sie im Takt der Musik auf das Lenkrad trommelt.

Der Sonnenaufgang über Jelan ist strahlend und klar. Auf der Straße sieht man alle paar Meter Urinpfützen und Kotzlachen 

Der Sonnenaufgang über Jelan ist strahlend und klar. Aber auf der Straße sieht man alle paar Meter Urinpfützen und Kotzlachen mit Bröckchen von Frühstücksbrei oder Suppenresten. Hinter der Soldaten-Banja liegt eine leere Wodkaflasche im Schnee. Zerdrückte Bierdosen ragen aus den Schneehaufen. Die Straßen sind menschenleer, nur ab und zu sieht man Männer in Militäruniform und schwarzen Mützen oder Sturmhauben. Sie tragen Aufnäher mit dem Buchstaben Z in den Farben der russischen Trikolore.

Manchmal sieht man Pflichtdienstleistende. Sie sind leicht zu erkennen: Ihre Uniform ist anders, ohne Aufnäher und ohne schwarze Mützen. Es sind sehr junge Männer ohne Bart, oft mit schüchternem oder verängstigtem Blick. Manche wirken völlig verloren, vor allem im Vergleich zu den Mobilisierten.

Das Einkaufszentrum namens Bunker ist der zentrale Treffpunkt / Foto © The New Tab

Vor dem Einkaufszentrum liegt eine Jacke, der Besitzer ist nirgendwo zu sehen / Foto © The New Tab

Das Einkaufszentrum namens Bunker ist der zentrale Treffpunkt. Hier befinden sich das gleichnamige Lokal, der Supermarkt, ein Geschäft für Textilwaren und Souvenirs, in dem man unter anderem Wasserpfeifen, Flachmänner in Form von Pistolen oder Medaillen mit der Aufschrift „Teilnehmer der Militäroperation in Syrien“ erwerben kann. Es gibt eine Abteilung mit Plüschtieren – die kaufen die Mobilisierten, wenn sie ihre Familien nach einer Verwundung oder bei einem kurzen Heimaturlaub wiedersehen. Außerdem ist hier der Schönheitssalon Tscharodeika [dt. Wundertäterin], wo man die Haare ohne neuen Haarschnitt waschen lassen kann.

Der Eingang zum Lokal liegt an der Straße. Auf dem Schild ist eine junge, mit Blumenkranz und Stickereien geschmückte Frau zu sehen. Es ist kurz nach 9 Uhr morgens, aber die ersten Gäste sind schon da: Mobilisierte. Sie sind in Uniform. Manche tragen ihre Armeejacken offen, oder die Mützen sitzen schief. Die Männer hocken an den Tischen, kauen, spucken und diskutieren lauthals über Militärtechnik:

„Jungs, habt ihr auch so krass viele große Typen?“
„Nur ein paar.“
„Das wird schon klappen, da passen auch Große rein.“
„Echt? Ich bin 1,86. Was soll ich in dieser verfickten Blechkiste. Luke zugeschweißt und Ende fertig aus. Ich würd lieber mit ner Haubitze rumfahren.“
„Besser in so’ner Blechkiste als ne Mine. Sappeure haben keine Chance.“

Festgefrorenes Blut klebt auf dem Asphalt 

Am Eingang zum Lokal sieht man, genau wie vor dem Supermarkt Monetka, festgefrorenes Blut auf dem Asphalt. Auf den vereisten Betonblöcken überall Flaschen und Dosen. Vor dem Eingang steht eine Gruppe von Männern. Einer davon, ein kräftiger Typ in Uniform, setzt eine Bierdose an und kippt sie, den Kopf zurückgeworfen, in sich hinein.

Ein Mobilisierter kauft Wodka / Foto © The New TabSechs bestätigte Todesfälle hat es seit Beginn der Mobilmachung in der Garnison Jelanski gegeben. Zwei davon hängen unmittelbar mit Alkoholkonsum zusammen: Ein Mann ist betrunken am Erbrochenen erstickt, der zweite hatte einen epileptischen Anfall, weil er zu viel getrunken hatte. Ein dritter Mobilisierter beging Selbstmord. Ein vierter, Denis Koslow, starb später zu Hause – die Obduktion ergab eine Leberzirrhose aufgrund alkoholbedingter Kardiomyopathie (Herzmuskelerkrankung). Er hatte vor seinem Tod seinem Bruder noch erzählt, dass er in seiner Einheit verprügelt worden war. Ein anderer Mann konnte nach einem Herzinfarkt nicht mehr gerettet werden. Der sechste Mobilisierte aus Jelan, Jewgeni Dus, starb auf der Corona-Station in Tscheljabinsk, wo er in lebensbedrohlichem Zustand eingeliefert worden war.

Im Dezember erzählte ein Offizier aus der Militärsiedlung Journalisten, dass die Mobilisierten schon betrunken aus den Einberufungsstellen nach Jelan kommen und ganze Reisetaschen und Rucksäcke voller Wodka mitbringen würden.

Das Alkoholproblem hat solche Ausmaße angenommen, dass man ein Verbot verhängte

Schon im Oktober 2022 hatte das Alkoholproblem unter den trinkenden Mobilisierten solche Ausmaße angenommen, dass man schlichtweg ein Verbot verhängte. „Die Situation mit der Trinkerei hat sich dann gebessert, die Disziplin zugenommen. Nach unserem Eingreifen hat eines der beiden Geschäfte den Verkauf von Alkohol komplett eingestellt, das andere hat die Verkaufszeit auf zwei Stunden pro Tag begrenzt“, berichtete der Duma-Abgeordnete Maxim Iwanow Anfang Oktober auf VKontakte.

Morgens sind die Straßen von Jelanski menschenleer, nur ab und zu kommen Männer in Militäruniform und mit Sturmhauben vorbei / Foto © The New TabAls wir von dem Alkoholverbot in der Siedlung gelesen hatten, steuerten wir den hiesigen Schnapsladen an – in der Erwartung, dass er geschlossen wäre. Aber der Laden ist offen und läuft ganz normal. Die Regale sind gefüllt mit Wodka, Bier und Wein.

Ein Kunde drängelt sich wankend an uns vorbei zum Regal. Er trägt eine schmutzige Uniform, die Mütze sitzt schief, er riecht streng nach ungewaschenem Körper und Alkohol. Der Mann nimmt mit zittrigen Händen Wodkaflaschen aus dem Regal. Eine. Zwei. Drei. Trägt die weißen Glasflaschen zur Kasse. Bezahlt und packt sie vorsichtig in den Armeerucksack.

„Und eine Schachtel Camel“, lallt er heiser.

Ich gehe zu dem Verkäufer:

„Mir wurde gesagt, dass hier kein Alkohol verkauft wird …“

„Ja, so war das vor den Neujahrsfeiertagen. Die Kommandantur hat unseren Chef angerufen, sie haben sogar unsere Kassen für drei Monate gesperrt, aber dann wurde der Laden geöffnet und seitdem nicht wieder zugemacht“, sagt er. „Wir dürfen per Gesetz den Verkauf nicht verweigern, und die Mobilisierten saufen wie die Schweine. Sie können nicht mehr geradeaus laufen, randalieren die ganze Zeit, schlagen alles kurz und klein. Ich würde sagen, es ist nicht ungefährlich hier. Die Berufssoldaten und die einfachen Jungs verhalten sich im Gegensatz zu den Mobilisierten ruhig.“

„Warum trinken die denn so viel?“
„Weiß nicht. Vielleicht steigt ihnen das Geld zu Kopf – sie bekommen je 200.000 Rubel [rund 2500 Euro – dek]. Der vor euch hat gerade drei Flaschen gekauft und ist jetzt schon hackedicht.“
„Wie unterscheiden Sie sie von den Berufssoldaten?“

„Das ist leicht“, erklärt der Verkäufer, „sie sehen schmutzig aus: Die können nur einmal die Woche in die Banja. Als sie hier ankamen, war das wie im Saustall. Die lagen hier überall in ihrer eigenen Kotze rum. Das ist die bittere Wahrheit. Die Jungs kommen hier zu mir rein und erzählen mir, dass sich jemand mit dem Messer verletzt hat oder an seiner Kotze erstickt ist.“

Vor einem der Gebäude kratzt ein Hausmeister mit einer Schaufel die festgefrorene Schneeschicht ab. Daneben rutschen Kinder auf Plastikschalen vereiste Stufen runter, stoßen die Vorbeilaufenden fast um, die sich auch so kaum auf den Beinen halten können. Der Schnee ist voller Kippen und Rotzspuren.

Bierdosen und Schnapsflaschen liegen hier und da im Schnee / Foto © The New Tab„Da, siehst du“, der Hausmeister deutet auf eine Gruppe wankender Soldaten. „Überall laufen hier die besoffenen Mobilisierten herum. Man erkennt sie gleich, sie sehen anders aus. Hier waren sehr viele von denen, 7500 – aus Perm, Tscheljabinsk, ChMAO [Autonomer Kreis der Chanten und Mansendek], aus den umliegenden Dörfern. Jetzt sind es weniger.“

Der Großteil der Mobilisierten ist in Zelten untergebracht

Ende September klagten die Mobilisierten über überfüllte Sammelpunkte – Jelan war eigentlich für 3500 Pflichtdienstleistende ausgelegt. Die Männer schliefen auf dem nackten Boden, auf dem Garnisonsgelände musste sogar eine Zeltstadt aufgeschlagen werden. Nachdem sich die Mobilisierten beschwert hatten, versicherte der stellvertretende Militärkommissar der Region, Sergej Tschirkow, Journalisten gegenüber, dass „alle Normen eingehalten“ würden. Es seien „zwar eine bestimmte Zahl von Menschen in der Jelansker Garnison zusammengezogen worden, das bedeutet aber nicht, dass irgendetwas überfüllt ist“, sagte er.

Laut Berichten von Einheimischen wird der Großteil der Mobilisierten nicht in Kasernen untergebracht wie die Vertragssoldaten, sondern in Zelten. Es wird Holz angeliefert, das sie selbst sägen und hacken müssen, um die Zelte mit Öfen zu heizen.

„Diese betrunkenen Jungs hier, die sind keine Ausnahme?“, fragen wir einen Hausmeister hier in Jelan.

„Neee. Siehst du den da?“ Er zeigt auf einen vorbeilaufenden Mann, in dessen Armeejackentasche eine Saftpackung steckt. „Das ist kein Saft. Der hat da Wodka oder Cognac drin. Die haben hier schon ein System.“
„Und wie verhalten sie sich, wenn sie getrunken haben?“

„Schlimm, ganz schlimm. Die hiesige Chirurgie ist überfüllt – sie prügeln sich, brechen sich alle Arme und Beine, stechen sich gegenseitig mit dem Messer ab, manchmal sich selbst. Es ist ein Albtraum. Hier haben längst alle die Nase voll von denen, aber was soll man machen. Vorgestern wurde einer abgeholt, ein 43-Jähriger. Sie haben seine Leiche in die Einberufungsstelle in Tawda gebracht. Entweder hat er sich aufgehängt oder jemand anders hat ihn drangekriegt – uns sagt ja keiner, was genau passiert ist. Ich schätze, jemand ist mit dem Messer auf ihn los, vielleicht war er’s auch selbst. Er wurde operiert, aber drei Stunden später war er tot (die Redaktion konnte diesen Fall nicht bestätigen, offiziell wurden keine neuen Todesfälle in Jelan gemeldet – Anm. d. Red.). Sie rotten sich selbst aus.“

 Anstellen zum Essen im Bunker / Foto rechts: Manche tragen Aufnäher am Ärmel – manche ein Z in der russischen Trikolore, manche die Oma mit der Sowjetflagge / Fotos © The New Tab

Der Mann erzählt, die Mobilisierten würden unter Alkoholeinfluss in die Wohnungen der Einheimischen einbrechen und in den Treppenhäusern schlafen (ob das stimmt, konnten wir nicht überprüfen – Anm. d. Red.). „Als kein Alkohol verkauft werden durfte, kauften sie palettenweise Energydrinks, tranken sich dumm und dämlich, die waren total auf Entzug. Sie haben das ganze verfluchte Rasierwasser leergesoffen“, sagt der Hausmeister und deutet auf den Parfüm- und Kosmetikladen hinter ihm.

Genau wie der Spirituosen-Verkäufer ist er der Meinung, dass die meisten nicht aus Pflichtgefühl hier sind, sondern wegen dem Geld.

„Die bekommen über 200.000, klar trinken sie. Die Einheimischen verdienen an ihnen: vermieten Zimmer für 3500 [rund 45 Euro – dek] die Nacht, spielen Taxi für ein paar verfickte Rubel. Aber nicht nur die Einheimischen, auch die Armeeleute selbst haben die Schnauze voll von ihnen, weil sie nicht gehorchen. Die Armeeangehörigen und die Mobilisierten haben jeweils eigene Kommandeure. Mit denen kommen sie hierher. Und was sollen die dann machen? Ihnen den Mund zunähen, damit sie nicht saufen?“

Manche trinken aus Angst. Jeder hat seine Gründe

Maria ist eine von denen, die den Mobilisierten ein Zimmer in ihrer Wohnung vermietet. Eine Nacht 2000 Rubel [etwa 25 Euro – dek]. Sie empfängt uns in Leggins und ausgebeultem Pullover. Wundert sich, dass wir keine Männer dabeihaben. In dem Zimmer, das sie uns zeigt, stehen ein Bett und ein Sofa, auf dem Regal stehen ganz oben Kinderfotos von ihrer Tochter und deren Sohn. Maria bittet uns, nicht an den Türknäufen zu drehen – die wurden in den vier Monaten seit Beginn der Mobilisierung schon mehrfach von den Untermietern kaputtgemacht oder rausgerissen. In der Küche riecht es nach Zwiebeln, auf dem Herd blubbert ein Eintopf vor sich hin. Im Fernsehen läuft ein Sender mit Filmen über Krieg.

Die Kaserne in Jelanski war eigentlich für 3500 Pflichtdienstleistende ausgelegt, um alle Mobilisierten aufzunehmen, musste man umbauen / Foto © The New Tab

Maria erzählt, dass im September und Oktober, also den ersten Wochen der Mobilmachung, in der Siedlung die Hölle los war: „Wenn einer zu Hause wie ein Loch gesoffen hat, dann macht er hier weiter. Und wenn er sich daheim noch vor seiner Frau verstecken musste, dann fühlt er sich hier völlig frei. Manche trinken aus Angst. Jeder hat seine Gründe.“

„Warum haben die überhaupt Zeit zum Trinken? Müssen sie nicht von früh bis spät auf den Übungsplatz?“, frage ich Maria.

„Ach kommen Sie, wer soll sie hier schon trainieren!“, winkt Maria ab. „Höchstens bis Mittags. Wenn sie von ihrem Acker hierher kommen, wo sie zehn bis fünfzehn Tausend verdient haben, und hier gibt’s plötzlich 200.000 – denen fallen die Augen aus dem Kopf. Klar besaufen die sich zur Feier des Tages und vergessen, dass sie Familie und Kredite haben. Es gab natürlich auch gute Jungs, manche kamen zum Duschen her. Einer sagte zu mir: ‚Was hab ich getan, dass ich hier bin? Hab ich vielleicht irgendwo einer Oma nicht über die Straße geholfen?‘“

Alle kratzen sich andauernd. Es gibt nicht genügend Waschgelegenheiten 

Maria erzählt, dass die „Mobiki“ nur selten in die Banja dürfen und ihre Wäsche nirgendwo waschen können, weswegen manche bei ihr duschen.
Im November beschwerte sich einer der in Jelan untergebrachten Mobilisierten bei der Jekaterinburger Nachrichtenagentur EAN über Läuse: „Alle kratzen sich andauernd. Es gibt nicht genügend Waschgelegenheiten.“ Er erzählte, dass ihnen die Einheimischen stundenweise ihre Badezimmer vermieten. Der Duma-Abgeordnete Maxim Iwanow bestätigte das Problem damals zwar den Journalisten gegenüber, leugnete es aber eine halbe Stunde später in seinem Telegram-Kanal und schrieb, es gebe in Jelan keinen Läusebefall, und die Mobilisierten hätten „die Möglichkeit zur Körperpflege“, genau genommen „Waschbecken mit Warmwasser“. 

Im Fernsehen läuft ein Sender mit Filmen über Krieg / Foto © The New Tab

Marias Mieter sind mal so, mal so. Es gab schon welche, die das Haus auseinandergenommen hätten, sodass Maria und ihr Mann sie mit vereinten Kräften vor die Tür setzen mussten. Einmal übernachtete ein Paar bei ihnen: Der Soldat hatte Besuch von seiner Frau, und während die Wohnungsbesitzer im Nebenzimmer lagen, prügelte er sie die ganze Nacht „grün und blau“ – am nächsten Morgen sah das Gesicht der Frau fürchterlich aus, sagt die Hausfrau. Trotzdem hat sie nicht die Polizei gerufen. 

Viele Mädchen und Frauen kommen, um ihre Männer hier zu heiraten

Viele Mädchen und Frauen kommen, sagt Maria, um ihre Männer auf dem Standesamt in Kamyschlow zu heiraten: „Die kommen als Braut angefahren und reisen als verheiratete Frau wieder ab.“
„Vorgestern hatte ich auch welche einquartiert, aber die waren noch ledig – die Jungs hatten sich Mädels aufgerissen. Irgendwie brauchen sie ja auch noch ihren Spaß, bevor sie einrücken“, sagt Maria. „Das Leben geht weiter, das ist die Natur. Bevor sie in den *** (die Spezialoperation) ziehen, kommen die Ehefrauen und mieten diese Zimmer und Wohnungen stundenweise. Dann sitzen sie beisammen, trinken Tee, steigen in die Kiste und fahren wieder ab. So ist das Leben.“

Sortiment eines der Geschäfte im Bunker / Foto © The New Tab

Im Bunker gibt es ein Geschäft, in dem man unter anderem Wasserpfeifen, Flachmänner in Form von Pistolen oder Medaillen mit der Aufschrift „Teilnehmer der Militäroperation in Syrien“ erwerben kann / Foto © The New Tab

Im Hof eines Wohnhauses entdecken wir einen Laden namens Fassol [dt. Bohne]. In der Vitrine liegt ein knusprig gegrilltes Huhn. An der Kasse steht ein feister Kerl mit quadratischem Gesicht. Einer der Mobilisierten. Vor ihm ein voller Einkaufswagen: Fleisch, Brot, Konserven, Dosenbier. Neben ihm steht ein Mädchen. Sie verlässt mit ihm den Laden, hakt sich bei ihm unter, und so steuern sie auf den nächsten Hauseingang zu.
Ein Stück weiter in derselben Straße befindet sich noch ein Schnapsladen. Drinnen ist es stickig, ein süßlich-fauliger Geruch liegt in der Luft. Vor uns steht einer in Uniform. Er will zwei Flaschen Wodka Lesnaja kaufen. Die Kassierin entschuldigt sich, sie könne nichts verkaufen – die Kasse habe sich aufgehängt, das dauert 20 Minuten. 

„Ääähh …“, der Mann ist enttäuscht. Er schnauft schwer, stinkt nach Zigaretten und Alkohol. Er dreht sich um und wankt hinaus, hinterlässt auf dem Boden Dreckspuren. 

Der nächste Laden im Dorf heißt Wodolei [dt. Wassermann]. Im Schaufenster gammeln rötliche Würstchen vor sich hin. An der Scheibe klebt ein Zettel mit der Telefonnummer der Verkäuferin. Auch sie vermietet eine Wohnung an Soldaten.  

„Haben Sie viele Gäste?“, fragen wir.    

„Momentan ist besetzt. Eine Frau ist drin, sie hat ihren Mann besucht und ist geblieben. Er liegt hier im Krankenhaus. Er wurde mobilisiert, obwohl sie das gar nicht gedurft hätten, er war gerade operiert worden. Jetzt gibt es schwere Komplikationen, und er muss hierbleiben, kann weder aus dem Krankenhaus noch nach Hause. Und zu Hause warten die Kinder.“

Die Gäste sind um die Vierzig – abgerackert, aus dem Leim gegangen und aufgedunsen, ramponierte Fressen

Wir gehen zurück zum Bunker, um uns ein wenig aufzuwärmen. Vor uns geht ein Mann rein. Beim Versuch, sich auf den Beinen zu halten, wirft er einen Kleiderständer mit Armeejacken um. 

Das Lokal füllt sich. Der Dunst von Wein und Wodka, der von manchen Tischen aufsteigt, vermischt sich mit säuerlichem Kantinengeruch. Dem Aussehen nach sind die Gäste alle um die Vierzig. Abgerackert, aus dem Leim gegangen und aufgedunsen, ramponierte Fressen, mit eitrigen, verkrusteten Wunden und glasigem Blick. Sie tragen verschiedene Aufnäher am Ärmel – manche ein Z in der russischen Trikolore, manche die Oma mit der Sowjetflagge, manche einfach die russische Flagge oder das Erkennungszeichen ihrer Einheit. Es ist laut. Sie sind betrunken und aufgedreht:

„Morgen geht’s los! Da fahren wir verfickt noch mal in die Ukraine und bombadieren sie platt!“, brüllt einer der Gäste in sein Handy, wobei er immer wieder auf die Tischplatte haut.   

Derzeit tendieren die Chancen der Mobilisierten auf eine Heimkehr gegen Null

Derzeit tendieren die Chancen der Mobilisierten auf eine Heimkehr gegen Null. In Wladimir Putins Erlass vom 21. September 2022 wird weder die Dauer des Einsatzes erwähnt, noch sind Gründe dafür angeführt, jemanden nach Hause zu schicken. Auch im föderalen Gesetz Nr. 31-F3 „Über die Mobilmachungsvorbereitung und die Mobilmachung“ findet man dazu nichts. Die Einberufung ist also praktisch unbefristet, die Front verlässt nur, wer schwer verletzt oder tot ist. 

Mit dem Sonnenuntergang wird es in Jelan still / Foto © The New Tab

Ein Grüppchen von Männern in Uniform gießt sich Bier ein. Vor ihnen stehen unangetastet Würstchen im Teigmantel, Kompott und Fruchtsaft. Sie diskutieren lebhaft und liegen sich in den Armen. Musik spielt. Die Soldaten werden auf uns aufmerksam:

„Mädels, alles Gute zum Feiertag! Wie wär’s mit ’nem Eisloch?“
„Nein, danke.“

Einer stellt sich als Sanja vor und kommt auf mich zu. Ich stehe instinktiv auf. Er nähert sich, versucht, mich in die Ecke zu drängen. Er stinkt nach Rauch, Wodka und Schweiß.   

„Tschuldigung, ich hatte eine Gehirnerschütterung, hör nix, verdammt noch mal. Auch wenn’s kein Eisloch gibt, wir hacken eins!“ Drohend holt er aus wie mit einem Beil. „Mit was auch immer. Wir finden verdammt noch mal immer was.“   

Sein Blick ist verschwommen. Er tritt ganz dicht an mich heran. Und brüllt, sein Speichel fliegt mir ins Gesicht:

„Ich bin seit heute raus. Aus dem Dienst entlassen! Los, Mädels, lasst uns neue Soldaten machen. Richtige Männer!!! Wartet, ich zeig euch mal … meine Zwillinge“, seine Augen werden feucht. „Seht ihr? Fünfte Klasse.“

Auf dem Display ist ein Foto von zwei kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen. Neben ihnen eine junge Frau. 

„Wieso entlassen?“

„Egal“, sagt er ruppig. „Jedenfalls ist heut mein letzter Tag.“

„Und das feiern Sie gerade?“

„Ja. Morgen geht’s nach Hause. Nach Hause, verdammt. Nach Hause!“ Sanjas Gesicht verzieht sich, er beginnt zu weinen, fasst sich aber schnell wieder. „Ich geh mal eine rauchen.“

Gott wird schon wissen, wen er zu sich ruft

Er geht weg. Die Männer an seinem Tisch rücken mit den Stühlen, tuscheln miteinander und zwinkern uns zu. Plötzlich werden sie ganz still, die Stimmen dumpf, und man hört:

„Dein leiblicher Bruder?“

„Mein Cousin“, sagt ein Mann im blauen Pulli unter der Camouflage-Jacke. Seine Augen sind vom Weinen gerötet.

Sanja, der schon wieder zurück ist, wendet sich ab und schweigt, starrt ins Nichts. Dann sieht er uns an:

„Mädels. Es ist was Schreckliches passiert. Sein Cousin. Ein Zweihunderter. Scheiße, es reicht. Gerade haben sie angerufen. Na, ihr Lieben?“
Der Mann, dessen Cousin gefallen ist, starrt noch ein paar Minuten auf die Tischplatte. Bald sind seine Augen wieder trocken, und er ruft uns an den Tisch, als wäre nichts passiert.  

„Gott wird schon wissen, wen er zu sich ruft“, hört man noch.

Das Lokal leert sich. Nur ein paar Männer sind noch da, und Mischa. Er sitzt alleine, ist deutlich jünger als die anderen. Ein magerer Bursche mit großen Augen und traurigem Blick. Wegen einer Verletzung zieht er ein Bein nach. Vor ihm steht ein Tablett mit Fleisch in einer undefinierbaren Soße. Er rührt das Essen nicht an. Mischa war drei Monate lang in der Ukraine. Alle paar Sekunden zuckt sein Kopf – ein nervöser Tick, ein Souvenir aus dem *** (der Spezialoperation). Mischa versucht erfolglos, nach Hause zu kommen.

Alle paar Sekunden zuckt sein Kopf – ein nervöser Tick, ein Souvenir aus dem *** 

„Man sollte da nicht hingehen“, sagt er leise und verloren. „Ich war dort. Und jetzt sitze ich da, sehen Sie. Wir haben dort nichts verloren. Dort ist es beschissen. Einfach beschissen. Ich bin mitgefahren, und jetzt lassen sie mich nicht einmal gehen, verstehen Sie? Mein Vertrag ist zu Ende, aber sie lassen mich nicht gehen, wegen der Mobilisierung.“

Mischa sagt, er sei aus Überzeugung in den *** (in die Spezialoperation) gezogen. Aber jetzt ist er enttäuscht von der Armee. 

„Man wird behandelt wie Vieh. Normale Kommandeure gibt es fast keine, es haben doch alle Angst, keiner will sterben. Es fehlt an Essen. Jeden Tag Verluste. Das ist nur im Fernsehen alles so rosig. In Wahrheit gibt es Kommunikationsprobleme, Versorgungsprobleme. Nichts ist, wie es scheint. Ich bin seit Oktober in psychiatrischer Behandlung. Manchmal sterben Kameraden sinnlos, und sie werden nicht einmal rausgeholt. Einer meiner Kameraden hat drei Monate lang [tot] unter einem Baum gelegen. Sie trinken alle genauso wie hier, und viele sterben daran. Und hier trinken die Mobilisierten wirklich viel. Sind doch lauter erwachsene Leute. Ich hab auch getrunken, als ich hier ankam. 28 Mann waren wir, viele haben richtig gesoffen. In unserem Land trinken doch alle, es gibt viele Alkis. Und erst recht, wenn sie einberufen werden. Sie wissen selbst nicht, wohin sie geschickt werden, auch deswegen trinken sie – aus Angst. Aber das hilft nicht.“

Zwei Soldaten stützen einen dritten, der kaum gehen kann. Er hängt zwischen ihnen, fällt alle paar Meter hin / Foto © The New Tab

Mischa erzählt, dass er keine Angst hatte, in den *** (in die Spezialoperation) zu ziehen. Angst hatte er erst, als er dort war. Seiner Meinung nach trägt die Armee aufgrund von Fehlern der Befehlshaber große Verluste davon.

Von zweihundert Mann blieben zwanzig übrig

„Von meinen Bekannten, mit denen ich hingefahren bin“, erzählt er, „sind alle als Dreihunderter zurückgekehrt, und drei sind gefallen. Ich wurde dann in eine andere Einheit verlegt, da sind auch Kameraden umgekommen. Ein Mobilisierter, mit dem ich zusammen in Behandlung war, kam aus Moskau. Er erzählte von seinem Kommandeur. Der wollte befördert werden und wollte unbedingt an die vorderste Frontlinie – von zweihundert Mann blieben zwanzig übrig. Das ist es nicht wert. Auf ukrainischer Seite kämpfen Söldner. Polen, Amis, Afrikaner, alles da. Auf die kannst du schießen, so viel du willst, die sterben nicht. Die haben ordentliche Panzerwesten.“

Wie in Tschetschenien – wer brauchte das, was hatten wir da zu suchen?

Maria, die Vermieterin, sagt, sie würden alle ungefähr dasselbe erzählen wie Mischa. Tote und Verletzte müsse es wohl sehr viele geben, aber darüber werde im Fernsehen nicht berichtet. „Unser Onkel da oben hat den *** (die Spezialoperation) erklärt, war aber nicht darauf vorbereitet“, ärgert sie sich. „Wie in Tschetschenien – wie viele unserer Burschen sind da draufgegangen, wer brauchte das, was hatten wir da zu suchen? Da war Putin gerade an die Macht gekommen, musste wohl zeigen, was er kann. Die Jungs haben erzählt, sie werden in Gruppen von 30, 40 Mann in den Kampf geschickt, und wenn zwei oder drei überleben, ist es schon gut. Menschliche Schutzschilde. Kanonenfutter.“

Aber schuld daran, dass der *** (die Spezialoperation) begonnen habe, sei Amerika, davon ist Maria überzeugt:

„Jeder Krieg ist Geldwäsche. Irgendjemand braucht ihn – Sie und ich bestimmt nicht, so viel ist klar. Kyjiw war schon fast eingekesselt, aber dann sind alle wieder abgezogen. Warum wohl? Schalten Sie doch einfach Ihr Hirn ein, da muss man nichts weiter wissen. Das brauchen nur die da oben. Und zwar nicht die hier, in Russland, sondern die im Ausland. Wenn du bei uns die Rechnungen der Wohnungsbetriebskosten hernimmst und das Firmenkonto eingibst, dann siehst du, wohin das ganze Geld geht – lauter amerikanische Konten. Was, das wussten Sie nicht?“

Ich lass dich gleich hier liegen, du Wichser

Draußen tauchen im Licht der Straßenlaternen drei Gestalten auf. Zwei Soldaten stützen einen dritten, der kaum gehen kann. Er hängt zwischen ihnen, fällt alle paar Meter hin. Sie fluchen.

„Heb die Beine, du Stück Scheiße!“
„Ich lass dich gleich hier liegen, du Wichser.“
„Fuck, ich dreh dir gleich den Hals um …“   

Der in der Mitte fällt wieder hin. Mit Tritten versuchen sie, ihn wieder hochzuholen. Wieder hängt der Betrunkene zwischen ihnen, verliert aber sofort wieder das Gleichgewicht und sackt zu Boden. Sie lassen ihn im Schnee liegen. Der Mann hustet und spuckt. Es sieht aus, als würde er kotzen, mit dem Gesicht im Schneehaufen. Dann steht er mühselig auf und geht selber weiter. Die anderen beiden folgen ihm. Ihre Silhouetten verschwinden in der Dunkelheit.  

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Schwarzmeerflotte

Die Schwarzmeerflotte ist eine der vier Flotten der russischen Marine. Sie operiert im Schwarzen und im Asowschen Meer.1 Das Hauptquartier befindet sich in Sewastopol auf der ukrainischen, von Russland annektierten, Halbinsel Krim. Die strategische Bedeutung der Schwarzmeerflotte hat sich parallel zu historisch-geopolitischen Entwicklungen stark gewandelt. Ihre Symbolkraft ist in Russland nach wie vor hoch.

Die Schwarzmeerflotte entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie spielte eine wichtige Rolle im Ausbau der russischen Vorherrschaft im Schwarzmeerraum gegenüber dem mehr und mehr weichenden Einfluss des Osmanischen Reiches. Die Flotte war dabei an zahlreichen Russisch-Osmanischen Kriegen beteiligt (so etwa 1787–1792, 1828–1829 und 1877–1878).

Russland versuchte im 19. und 20. Jahrhundert kontinuierlich, die Kontrolle über die Dardanellen-Meerenge zwischen dem Schwarzen und dem Mittelmeer zu erlangen, um Verbindungslinien zu sichern und der Schwarzmeerflotte einen größeren Wirkungsbereich zu verschaffen. Das schwächere Osmanische Reich widersetzte sich und wurde dabei im Laufe der Zeit von verschiedenen Großmächten unterstützt, die ein Interesse an der Eindämmung des russischen Einflusses hatten. Dies galt beispielsweise für Großbritannien und Frankreich im Krimkrieg (1853–1856) und für Deutschland im Ersten Weltkrieg (1914–1918).

Dieses Muster setzte sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg fort, als die siegreiche und militärisch übermächtige Sowjetunion verstärkt auf die Kontrolle der Dardanellen drängte. Dies trug zur Entwicklung der Truman-Doktrin, dem Beginn des Kalten Krieges und zum Nato-Beitritt der Türkei 1952 bei. Das westliche Bündnis verwehrte hierdurch der Sowjetunion den strategischen Zugang zum Mittelmeer und verringerte die militärische Bedeutung der Schwarzmeerflotte.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der neuen Unabhängigkeit der Ukraine seit 1991 wurden die Schwarzmeerflotte und insbesondere die in Sewastopol stationierten russischen Soldaten zu einem wichtigen Einflussfaktor Russlands in der Ukraine.2 In den 1990ern rangen beide Seiten um die Kontrolle über das alte sowjetische Militär. Die Flotte wurde 1997 aufgeteilt. Die Ukraine erhielt einen deutlich kleineren Teil der Schiffe, und Russland pachtete die Stützpunkte auf der Krim bis 2017. Die russisch-ukrainischen Beziehungen verschlechterten sich seit den frühen 2000ern zunehmend. Die Schwarzmeerflotte war dabei Mittel und Zweck einer russischen Politik der Einflussnahme und der Verhinderung ukrainischer Nato-Ambitionen.3

So setzte Russland 2008 die Schwarzmeerflotte im Zuge des Georgienkriegs ein – gegen den ausdrücklichen Willen der ukrainischen Regierung. Im folgenden Jahr kündigte die Ukraine unter Präsident Viktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julia Timoschenko an, den Pachtvertrag nicht über 2017 hinaus zu verlängern. Daraufhin verschärfte Russland seine Position im andauernden Konflikt über ukrainische Gaspreise, Gastransitgebühren und ukrainische Schulden. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Ukraine in einer schweren Wirtschaftskrise. Als 2010 Viktor Janukowitsch zum Präsidenten gewählt wurde, verlängerte er den Stationierungsvertrag bis 2042 im Austausch gegen eine erhöhte Pacht und verringerte Gaspreise.4 Noch im selben Jahr zog die Ukraine ihren Nato-Beitrittsantrag zurück.5

2014 nutzte Russland die auf der Krim stationierten Truppen um die dortige Regionalregierung zu unterwandern, das ukrainische Militär zu neutralisieren und die Krim zu annektieren.6 Beim Einsatz des russischen Militärs in Syrien wird die Schwarzmeerflotte zur Unterstützung des Assad-Regimes und im Kampf gegen syrische Rebellen eingesetzt.7

Neben ihrer strategischen Bedeutung spielt die Schwarzmeerflotte auch seit jeher eine Rolle in der Vermittlung politisch gewünschter Interpretationen der Geschichte. Sergej Eisensteins berühmter Film Panzerkreuzer Potemkin (1925) bezieht sich beispielsweise auf eine reale Meuterei auf einem Schiff der Schwarzmeerflotte im Zuge der gescheiterten russischen Revolution von 1905. Die Hafenstadt Sewastopol, in der ein Großteil der Flotte stationiert ist, gilt zudem in der dominanten Geschichtsauffassung des heutigen Russlands als Symbol für Heroismus und historische Größe. Neuere offizielle Darstellungen in Russland deuten Sewastopol und den dortigen Einsatz russischer Soldaten bei der Angliederung der Krim als Zeichen der Wiedererstarkung Russlands.


1.Details zur heutigen russischen und ukrainischen Marine, inklusive der Stützpunkte sowie der Zahl, Zusammensetzung und geographischen Position von Truppen und Kriegsgerät sind zu finden in: International Institute for Strategic Studies (Hrsg.): The Military Balance 2015, London, S. 159-206
2.hier und im Folgenden: Donaldson, Robert H. / Nogee, Joseph L. / Nadrakarni, Vidya (2014): The Foreign Policy of Russia: Changing Systems, enduring Interests, New York, S. 172-175 und S. 179; Mankoff, Jeffrey (2012): Russian Foreign Policy: The Return of Great Power Politics (2nd edition), Lanham, S. 23
3.vgl. Driedger, Jonas J. (2015): Fear and power as main drivers of Russo-Ukrainian relations 1990-2014, Natolin / Warschau; Subtelny, Orest (2014): Ukraine: A History (4th edition), Toronto, S. 601
4.Chyong, Chi Kong (2014): Why Europe should support Reform of the Ukrainian Gas Market – or risk a Cut-off, in: European Council on Foreign Relations ECFR Policy Brief, No. 113; Gvosdev, Nikolas K. / Marsh, Christopher (2014): Russian Foreign Policy: Interests, Vectors, and Sectors, Washington DC, S. 192-193;  Mankoff, Jeffrey (2012): Russian Foreign Policy: The Return of Great Power Politics (2nd edition), Lanham, S. 234
5.Mankoff, Jeffrey (2012): Russian Foreign Policy: The Return of Great Power Politics (2nd edition), Lanham, S. 228
6.Putin erklärte 2015 in einem öffentlichen Interview, dass im Kreml die Entscheidung zur Krimannektion vier Tage vor dem Tag getroffen wurde, an dem das Parlament der Krim von professionellen Truppen besetzt und ein neuer Ministerpräsident von der bis dato marginalen Russischen Einheitspartei eingesetzt wurde, vgl. The Guardian: Vladimir Putin describes secret meeting when Russia decided to seize Crimea
Einen Überblick über die Konfliktereignisse liefern Driedger, Jonas J. (2015): Russia – Ukraine, in: Heidelberg Institute for International Conflict Reserach (Hrsg.): Conflict Barometer 2014, Heidelberg, S. 37-38; Driedger, Jonas J. (2015): Fear and power as main drivers of Russo-Ukrainian relations 1990-2014, Natolin / Warsaw, S. 61-62 und  International Institute for Strategic Studies (Hrsg.) (2015): The Military Balance 2015, London, S. 159-206, S. 169-170
7.Brookings.edu: Russia’s military is proving Western punditry wrong
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