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Editorial: dekoder #1 – ein Begleiter für komplizierte Zeiten

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Dem ferner rückenden Russland wieder näher kommen – das ist Ziel, Sinn, Wesenskern und Ursprung von dekoder. In fast fünf Jahren haben wir im weltweiten Internetz einen Kosmos aufgespannt aus Bildern, Berichten, Interviews, Reportagen, Kommentaren, Gnosen. Es ist ein komplexes Netz, es bedarf konzeptioneller Jonglierkunst – und wir sind die umtriebigen Jongleure für die russische Wirklichkeit. 

Doch manchmal möchte man die Bälle ruhen lassen. Zuweilen durchzog uns ein sehnsüchtiger Seufzer, wenn wir uns ausmalten, wie wir das, was wir hier vielstimmig in den Online-Kosmos schicken, ganz ruhig und sanft und klar zwischen zwei Buchdeckel verpacken. 

Und so machten wir uns auf den Weg. Zunächst brauchte es einen Verlag, der versteht, was dekoder will und mit dem es Freude macht, das Aus-online-mach-analog-Experiment anzugehen. Diesen Verlag gab es, er heißt Matthes & Seitz Berlin und besticht durch sein vielstimmiges und kluges, begeisterndes und modern kuratiertes Programm. Vielstimmig, klug, begeisternd und modern kuratiert – das ist auch dekoder. Das passte zusammen.

Der nächste Schritt bestand dann darin, einen Textkörper zusammenzubauen, der die mittlerweile fast fünf Jahre dekoder abbildet: das, was in Russland passiert ist, das, was Russland ausmacht, das, was in Russland gedacht wird und nicht zuletzt das, was in Russland zu sehen ist. 

Und jetzt ist es da: das aktuelle Vademecum zu dem Riesenland im Osten, das wir lieben, mit dem wir leben und arbeiten. Und zwar gerne, jeden Tag – und da ist es schön, wenn man mal, statt auf den Bildschirm zu starren, einfach zum dekoder #1 greifen, und darin beglückt blättern und selig lächelnd lesen kann. 

Das Coverfoto von Anastasia Khoroshilova war übrigens als letzter Streich ein „Genau, das ist es“. Es leuchtet aromatisch und lecker. Und ist somit hoffentlich ein genaues Abbild des Buchinhalts.

Lasst es euch gut gehen bei der Offline-Lektüre, die sich gerade dann lohnt, wenn man dekoder sonst immer online genießt … und die in Zeiten von offizieller Verwirrung einen informierten Überblick schafft.

Have a good read!
Das wünschen euch Tamina und Rike

PS: Ein erstes Interview zum Buch gibt's auf Deutschlandfunk Kultur – Lesart.

PPS: Eine Klub-dekoderin schrieb uns: „Hier der Kommentar meines Mannes, den ich genötigt habe, das Buch zu lesen: ,Der Band hat mir jetzt ein Studium in Osteuropäischer Geschichte erspart.‘“

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Lew Tolstoi

Während einer Vorlesung über russische Literatur „ging Vladimir Nabokov, ohne ein Wort zu sagen, über das Podium zur rechten Wand und schaltete die drei Deckenlampen aus. Dann zog er schweigend die Rollos der großen Fenster im Hörsaal hinunter und lief zurück zu den Lichtschaltern“, erinnerte sich ein Student: „,Am Firmament der russischen Literatur‘, verkündete Nabokov, ,ist das hier Puschkin!‘ Er schaltete die Lampe in der linken Ecke unseres Planetariums wieder an. ,Das hier ist Gogol!‘ Die Lampe in der Mitte leuchtete auf. ,Das ist Tschechow!‘ Die Lampe rechts erleuchtete. Dann löste Nabokov das Rollo, das mit einem lauten Knall in die Höhe schnellte. Ein breiter, heller Sonnenstrahl brach in den Hörsaal, Nabokovs Stimme donnerte los: ,Und das, das ist Tolstoi!‘“1

 

Mit Licht, Glück und ethischer Bestimmtheit wandte sich Lew Tolstoi in seinen Werken gegen das Motiv des Leids – und somit gegen seine Epoche. Denn die russische Literatur des 19. Jahrhunderts war vom Motiv der Leiderfahrung durchzogen. Dostojewski etwa enthüllte die Fragmentiertheit des menschlichen Bewusstseins mit seinen tiefen und dunklen Schichten und führte seine Protagonisten durch die Erfahrung der Sünde und des Leidens zur Wahrheit. Bei Tolstoi dagegen ist der Mensch in erster Linie ein ungeteiltes und glückliches Wesen, und „das menschliche Leben, soweit wir es kennen, ist eine Welle, die völlig in Glanz und Freude gehüllt ist“2. Als eine Art Gegenentwurf zu Dostojewski tritt bei Tolstoi ein intensives moralisches Empfinden an die Stelle der Sünde. Auch Tolstois eigenes Leben war das Produkt eines solchen Empfindens.

Leben und Wirken

Lew Tolstoi wurde am 28. August (9. September) 1828 auf dem Familiengut Jasnaja Poljana geboren, etwa 200 Kilometer entfernt von Moskau. Er gehörte dem Adelsgeschlecht der Grafen von Tolstoi an und wuchs in einer aristokratischen, von literarischem Schaffen weit entfernten Umgebung auf.

Er studierte Östliche Philologie und Rechtswissenschaften an der Universität Kasan, leistete seinen Wehrdienst, war in den Jahren 1854 und 1855 während des Krimkriegs an der Verteidigung von Sewastopol beteiligt, wurde mit dem Tapferkeitsorden der heiligen Anna ausgezeichnet und bewegte sich fern jeglicher literarischer Kreise.

So kam es völlig unerwartet, als Anfang der 1850er Jahre im Journal Sowremennik die Erstschrift eines bislang unbekannten Autors erschien, der sich hinter dem Kürzel L. N. verbarg. Es war der erste Teil von Tolstois biografischer Trilogie Kindheit, Knabenjahre, Jugendzeit. Sie begründete den Ruhm Tolstois.

Bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Klassiker der russischen Literatur – Lew Tolstoi

Der Protagonist der Trilogie, Nikolenka Irtenjew, der drei Stadien des Erwachsenwerdens durchläuft, gleicht dem Autor. Allerdings nicht im biografischen Sinne, sondern der psychologischen Erfahrung nach. Diese steht über viele Jahre im Mittelpunkt von Tolstois Werken: in seinen drei großen Romanen Woina i Mir (dt. Krieg und Frieden, 1865–1869), Anna Karenina (1875–1877) und Woskressenije (dt. Auferstehung, 1899), in einer Vielzahl von Erzählungen, Dramen, publizistischen Essays und religionsphilosophischen Traktaten. Immer beschäftigt sich Tolstoi mit dem Finden der Wahrheit, die im Menschen verborgen und nur dadurch zu erkennen ist, dass man das Wesen des Menschen in seinem konkreten Sein ergründet.

Tolstois Anthropologie

„Der Mensch ist Alles und ein Teil von Allem“ – das ist die Kernthese der tolstoischen Anthropologie. Den Sinn seines Romans Krieg und Frieden sieht der Autor darin, die Menschen „dazu zu bringen, das Leben in all seinen unzähligen und unerschöpflichen Erscheinungen zu lieben“. Anna Karenina verkörpert laut Tolstoi das Leben „mit all der unausdrückbaren Kompliziertheit von allem Lebendigen“.

Der zweite Grundpfeiler in Tolstois Anthropologie ist das intensive moralische Empfinden. Alles im Leben wird als gut oder schlecht wahrgenommen. Dabei ergeben sich grundlegende Probleme, die es zu klären gilt: Was genau ist das Gute und das Schlechte? Was ist charakteristisch nur für mich und was ist charakteristisch für den Menschen allgemein? Was sind die Grenzen der Selbsterkenntnis? Das sind die Fragen, die sich Konstantin Lewin in Anna Karenina stellt, aber auch andere Protagonisten, die als „tolstoische Menschen“ bezeichnet werden.

Weltanschauliche Sinnkrise

Tolstoi selbst dachte über all diese Fragen sein ganzes Leben lang nach. All das findet sich in den Tagebüchern wieder, die er von der frühen Jugend an bis zu seinem Tod führte. Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre durchlebte Tolstoi eine tiefe weltanschauliche Sinnkrise. In einer Reihe von religionsphilosophischen Werken suchte er nach theoretischen Begründungen für seine neuen Sichtweisen zu den Themen Religion, Moral, Kunst, Politik und Zivilisation. In dieser Zeit begann er, sich nicht mehr in erster Linie als Künstler zu begreifen, sondern als Religionsphilosoph. In seinen Traktaten erklärt Tolstoi, dass er zwar der Verkündigung Jesu glaube, nicht jedoch der Institution Kirche, in der der Glaube durch Ritualismus ersetzt würde. Das führte zu seinem Ausschluss aus der Kirche, der bis heute nicht aufgehoben wurde.

Schriftsteller, Moralist und Philosoph

Während der Schriftsteller Tolstoi bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Klassiker der russischen Literatur war, erfuhr der Religionsphilosoph starken Gegenwind. Seine späten Werke, vor allem die religionsphilosophischen Traktate und der Roman Woskressenije mit ausführlichen Zitaten aus dem Neuen Testament, wurden massiv kritisiert. Tolstoi sah sich mit Vorwürfen des Moralismus und Utopismus konfrontiert. Es gab heftige Kritik an seiner religiösen Lehre sowie an der um Tolstoi in den 1880er Jahren gegründeten Bewegung Tolstowstwo. Unter anderem solche Philosophen wie Iwan Iljin oder Nikolaj Berdjajew traten damit hervor.

In seinen Tagebüchern bemerkte Tolstoi, dass er zunehmend darunter gelitten habe, nicht im Einklang mit seinen Überzeugungen gelebt zu haben. Der berühmte Literaturkritiker Viktor Schklowski vertrat die These, Tolstoi sei „Gewissen und Spiegel“ seiner Epoche zugleich gewesen. In seinen Werken habe er schließlich auch die eigenen Laster verteufelt.

 

Porträt von Lew Tolstoi, Datum der Aufnahme unbekannt / Foto © Fine Art Images/Heritage Images/imago-images

Ein großer Teil der Rezeption sieht in Tolstois Verzweiflung darüber, den eigenen moralischen Ansprüchen nicht zu genügen, den Grund für sein tragisches Ende. In der Nacht auf den 28. Oktober (10. November) verließ Tolstoi unbemerkt Jasnaja Poljana. Wenige Tage später bekam er eine Lungenentzündung, die ihn zwang, seine Reise an der Bahnstation Astapowo zu unterbrechen. Nach einer Woche schweren Leidens starb er am 7. (20.) November im Haus des Leiters der Bahnstation.


1.zit. nach: Boyd, Brian (1991): Vladimir Nabokov: The American Years, Princeton, S. 221-222
2.Tagebucheintrag vom 27. Mai (8. Juni) 1884: Tolstoj, Lev (1952): Polnoe sobranie sočinenii, Moskau, Bd. 49, S. 98
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Nikolaj Berdjajew

Nikolaj Berdjajew (1874–1948) war ein russischer Philosoph mit weltweiter Wirkung. Zunächst marxistisch beeinflusst, stellte er sich noch vor der Oktoberrevolution gegen den Atheismus der Kommunisten und wurde 1922 ausgewiesen. Seine christlich-existenzialistische Philosophie stellt die Freiheit des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, zielt dabei aber auf eine geistige Erneuerung der Gemeinschaft. Die religiöse Rückbesinnung in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beruft sich vielfach auf Berdjajews Denken.

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Nikolaj Nekrassow

Nikolaj Alexejewitsch Nekrassow war ein Autor, Kritiker und einflussreicher Publizist, der insbesondere in politisch-revolutionär gesinnten Kreisen eine breite Anhängerschaft fand. Im westlichen Ausland kaum bekannt, gilt Nekrassow in Russland als Nationalheld der Literatur des 19. Jahrhunderts und als moralische Instanz der Kulturgeschichte. Nekrassow begriff Literatur in erster Linie als Medium zum Ausdruck sozialer und politischer Belange.

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Wassili Aksjonow

Heute vor 14 Jahren verstarb Wassili Aksjonow. Er gilt als einer der wichtigsten, vielleicht der wichtigste, russische Autor der Nachkriegszeit. Im Tauwetter als Kultautor einer neuen Generation verehrt, unter Breshnew repressiert und schließlich des Landes verwiesen, durchlief Aksjonow das klassische Drama des sowjetischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Torben Philipp über Leben und Wirken des Bestsellerautors.

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Russki Mir

Das Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten. 

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Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

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Kasimir Malewitsch

Sein Name ist untrennbar mit seinem größten Coup verbunden – dem Schwarzen Quadrat (1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau). Sein im doppelten Sinn ikonisches Gemälde stellt eine Tabula rasa für das Medium Malerei dar und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gegenstandslosen Abstraktion, die bis heute andauert. Malewitsch verstarb am 15. Mai 1935.

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