Medien

„Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGB gehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. 
Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.

Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.

Quelle Reformation

Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner

„Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“

Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.

Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“ 

Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.

Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.

Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat

Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.

Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“

Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass? 

Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.

Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“

„Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“

Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“

Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache. 

Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen

In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“

„Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“

Mit Kuhmist gegen Proteste

Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.

Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.

Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.

Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.

Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“

Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“

Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.

Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?

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Der Große Terror

Am 30. Juli 1937 unterzeichnete NKWD-Chef Nikolaj Jeschow den Befehl № 00447. Damit verschärfte sich der politische Terror in der Sowjetunion. Praktisch jeder Sowjetbürger konnte nun zum sogenannten „Volksfeind“ erklärt werden. Die Welle von Massenverhaftungen ließ das Jahr 1937 zur Chiffre des Terrors werden.

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Heldenstadt Minsk

Nach wie vor beeindrucken die Bilder, die vom Sommer 2020 erzählen, als in Minsk Zehntausende auf die Straßen gegangen sind. Die weiß-rot-weißen Proteste spielten sich an einem Ort ab, der nach 1945 mit seinen überdimensionierten Plätzen und ausladenden Alleen als Musterstadt des Sozialismus inszeniert worden ist. In demographischer Hinsicht hatte Minsk als Millionenstadt den von den sowjetischen Planern vorgesehenen Rahmen allerdings bereits in den 1970er Jahren gesprengt. 
Lange lag Minsk im Schatten seiner Vergangenheit als sowjetische Heldenstadt. Dabei hat die Stadt im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte bereits ungeahnte Metamorphosen von der altrussischen Burgsiedlung und litauischen Marktgemeinde über die zarische Gouvernementsstadt und das jüdische Schtetl vollzogen. Obgleich unter dem Lukaschenko-Regime Anklänge an die Sowjetzeit und der Kult um den Zweiten Weltkrieg heute wieder starke Relevanz erfahren, hat sich mittlerweile eine belarusische Metropole entwickelt, die zwischen sozialistischen Traditionen, europäischen Kulturmustern und den Insignien des herrschenden Autoritarismus changiert. 

Der Obelisk, der für den sowjetischen Titel „Heldenstadt“ 1985 errichtet wurde. Er steht für den Kampf im Zweiten Weltkrieg. Im Sommer 2020 gab es auch dort Massenproteste gegen Machthaber Lukaschenko / Foto © Homoatrox, Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Die erste Erwähnung der Stadt „Menesk“ findet sich im Jahr 1067 ganz beiläufig am Rande der Schilderung einer Schlacht zwischen den Fürsten der Kiewer Rus. Die Rede war von einem Handelsumschlagplatz, der an das Flusssystem zwischen Ostsee und Schwarzem Meer angeschlossen war. 
Wechselnde Herrschaftssysteme prägten fortan die Gestalt der Stadt und die Struktur der Bevölkerung. Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts geriet sie in den Einflussbereich des Großfürstentums Litauen. Über den Katholizismus, dessen Spuren sich im Stadtbild noch heute an den Kirchengebäuden widerspiegeln, und über die Verleihung des Magdeburger Rechts im Jahre 1499 wurden der Stadt Traditionen der damaligen lateinischen Welt zuteil, und es konstituierte sich seither eine Marktgemeinde. In der ostslawischen Kanzleisprache des Großfürstentums lautete ihr Name noch „Mensk“1.  

Russifizierung und sowjetisches Jerusalem

Erst nach den Teilungen Polen-Litauens wurde die Stadt 1793 unter ihrer russischen Bezeichnung „Minsk“ ins Zarenreich eingegliedert. Sie geriet ins Zentrum des Ansiedlungsrayons für die jüdische Bevölkerung, die im Russländischen Imperium keine Freizügigkeit genoss. Damit bekam Minsk den Charakter eines jüdischen Schtetls. 
Hatte der Handel vor dem Ersten Weltkrieg lediglich regionale Bedeutung, führte die sowjetische Industrialisierung dazu, dass Minsk für die ländliche Bevölkerung immer anziehender wurde: Waren bei der Volkszählung von 1897 noch 90.900 Einwohner registriert, zeigte die Statistik 1939 rund 230.000 Einwohner. Weil die Belarusen überwiegend als Bauern in den Dörfern lebten, stellte die Titularnation am Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal acht Prozent der Minsker Bevölkerung. Juden machten zu dieser Zeit noch über die Hälfte der Einwohnerschaft aus. Jüdische Unterschichten wanderten nach der Oktoberrevolution in die russischen Industriestädte ab, die belarusischen Bauern aber zogen nach Minsk, um sich der Zwangskollektivierung ihrer Höfe zu entziehen. 

Von Relevanz für die belarusische Hauptstadt erwies sich die sowjetische Kulturpolitik der Indigenisierung (korenisazija), die die Einbindung der nationalen Minderheiten in das Projekt der Bolschewiki durch die Gewährung von Freiräumen im Bildungssektor zum Ziel hatte. Daher profitierten die säkularisierten Minsker Eliten in den 1920er Jahren noch von einem mehrsprachigen kulturellen Milieu aus Belarusisch, Jiddisch, Polnisch und Russisch. Der in den 1930er Jahren propagierte Sowjetpatriotismus stand dann aber wieder im Zeichen der Russifizierung. 
Das Stadtwachstum führte in Minsk dazu, dass die Bevölkerungsmehrheit bis zum Zweiten Weltkrieg von den Belarusen übernommen wurde. Das jüdische Leben erlosch erst durch den Holocaust, nachdem die Nationalsozialisten die Stadt ab 1941 besetzten. Letzte Spuren verwischte der Antisemitismus im späten Stalinismus mit der Schließung der Synagoge und des jüdischen Theaters. 

Der Plan für die sozialistische Musterstadt 

Mit Stalins Programm der forcierten Industrialisierung begann für Minsk in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine Phase der radikalen Stadtsanierung. In bewusster Abkehr von der historisch gewachsenen kapitalistischen Stadt, deren Urbanität sich auf die Verdichtung von Gebäuden, Straßen und Plätzen gründete, hieß die Devise nunmehr aufgelockerte Bebauung und Verbesserung der Infrastruktur. Die Hauptstadt der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) sollte die Rolle eines Verwaltungs-, Industrie- und Kulturzentrums übernehmen und zudem einen sozialistischen Vorposten gegenüber dem kapitalistischen Westen bilden. 
Dass die Minsker Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg zu mehr als 70 Prozent zerstört worden war, bot den aus Moskau und Leningrad angereisten Planern die Chance, eine sozialistische Musterstadt zu errichten. Ein Wiederaufbau im eigentlichen Sinne wurde nicht angestrebt. Der Generalbebauungsplan von 1946 sah neben monumentalen Gebäuden im Zentrum ein System von radial-ringförmigen Hauptstraßen vor. Die Architektur sollte sowohl das Erbe der klassischen Antike als auch die volkstümliche belarusische Kunst widerspiegeln. In der Folge traten im Meinungsstreit der Architekten zwei Richtungen auf: Die eine setzte auf die Einfachheit der Formen und blieb dem Konstruktivismus der 1920er Jahre verpflichtet. Die andere orientierte sich an der dekorativen Pracht der Zarenzeit und gab dem Neoklassizismus Vorrang. Letztere gewann die Oberhand, weil ihre Auffassung dem Sozialistischen Realismus der Stalinzeit entsprach. 

Der typisierte Plattenbau ergänzte am Stadtrand die neoklassizistischen Wohnpaläste des Minsker Zentrums / Foto © Andrey Bondar/Flickr unter CC BY SA 2.0

Zwischen alter Bauernmetropole, Wohnpalästen und Plattenbauten 

Allerdings leitete Chruschtschow bereits auf dem Baukongress von 1954 eine Wende ein. Seine Kampagne gegen den dekorativen Luxus der Stalin-Ära setzte auf Typenprojekte. Seitdem stand nicht mehr das gesamtstädtische Ensemble im Vordergrund, sondern der Mikrorayon – der fünfstöckige Mietshäuser mit Versorgungseinrichtungen zu einer Nachbarschaft kombinierte. Auf diese Weise ergänzte der typisierte Plattenbau am Stadtrand  die neoklassizistischen Wohnpaläste des Minsker Zentrums. Zugleich lebte ein Großteil der Bevölkerung bis in die sechziger Jahre noch in den hölzernen Gehöften der innerstädtischen Areale, die der Hauptstadt noch lange den Charakter einer Bauernmetropole verliehen.

Das Scheitern des schönen Plans von der sozialistischen Stadt symbolisiert in Minsk kein anderer Ort so sehr wie der Zentrale Platz: Nicht einer der in zahlreichen Architekturwettbewerben vorgelegten Entwürfe ist je realisiert worden. Die Gründe dafür sind im Bereich der Interessengegensätze von Planungsbürokratie und Stadtökonomie zu suchen. Einerseits bestand zwischen dem belarusischen Architektenverband und der staatlichen Architekturverwaltung ein latentes Spannungsverhältnis. Andererseits zeigte sich, dass Infrastrukturprobleme wie etwa die Wasserversorgung viel drängender waren und gelöst werden mussten. 
Heute wird der Zentrale Platz, der seit der Öffnung einer U-Bahn-Station im Jahre 1984 in Oktoberplatz umbenannt wurde, von einem postmodernen Kulturpalast ausgefüllt – der noch zu Sowjetzeiten geplant, aber erst in den 1990er Jahren unter Präsident Alexander Lukaschenko fertig gebaut worden war. Er ließ mit dem Palast der Unabhängigkeit gleich noch ein weiteres pompöses Gebäude in Minsk errichten, einen orientalisch anmutenden Bau an der Siegerallee, in dem er seit 2013 seinen Amtssitz hat. 

Palast der Republik am Oktoberplatz in Minsk, Belarus / Foto © Julian Nyča/Wikimedia unter CC BY SA 4.0

Das „Minsker Phänomen“ 

In der BSSR hatte die Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg einen Verstädterungsprozess ausgelöst, der in der Hauptstadt zu einem explosiven Bevölkerungswachstum führte und den Begriff „Minsker Phänomen“ prägte. Für Zuzug sorgten besonders das Lastkraftwagenwerk (MAZ) und das Traktorenwerk (MTZ), die zu den sowjetischen Industriegiganten gehörten. Obgleich die Produktionspalette der Werke bereits 1956 begrenzt wurde, stieg die Einwohnerzahl zwischen den Volkszählungen von 1959 und 1989 immer noch um das Dreifache, von 509.500 auf 1.612.900. Die in den sechziger Jahren erzielte jährliche Wachstumsrate von 5,5 Prozent ist von keiner anderen sowjetischen Großstadt je erreicht worden. Trotz der Einführung eines rigiden Meldesystems, demzufolge eine Aufenthaltsberechtigung in der Stadt nur beim Nachweis von neun Quadratmetern Wohnfläche pro Person erteilt wurde, konnte der massenhafte, teils illegale, teils über einen Arbeitgeber oder eine Hochschule legitimierte Zuzug vom Land in die Stadt nicht verhindert werden. Weder der Wohnungsbau noch die Versorgung mit Geschäften und Dienstleistungsbetrieben kamen den gestiegenen Bedürfnissen nach. Dennoch waren die den Angeboten der sowjetischen Moderne folgenden Übersiedler bereit, ihre lokale Identität preiszugeben und sich an das russischsprachige Milieu der Hauptstadt zu akkulturieren. So gab es seit den siebziger Jahren in Minsk keine Schulen mit belarusischer Unterrichtssprache mehr. 

Sowjetische Heldenstadt und Breshnews Widerwillen

Als sich in der Breshnew-Ära abzeichnete, dass die Utopie der sozialistischen Stadt an der Lebensrealität zerbrach, wurde der Versuch unternommen, einen neuen Mythos für Minsk zu kreieren. Seit Mitte der sechziger Jahre vertrat die belarusische Parteiführung dem Moskauer Kreml gegenüber den selbstbewussten Anspruch, eine „Partisanenrepublik“ zu repräsentieren. In diesem Sinne wurde Minsk trotz der erlittenen nationalsozialistischen Besatzung als zehnte Stadt der Sowjetunion der Ehrentitel „Heldenstadt“ zugesprochen. Allerdings nahm Breshnew bestehende Unstimmigkeiten mit der belarusischen Führung zum Anlass, der Stadt die ihr gebührende Anerkennung erst 1978 offiziell zuteilwerden zu lassen: mit der Verleihung des Leninordens und der Goldener-Stern-Medaille. Neben der Stelle, an der 1985 der Obelisk der Heldenstadt errichtet wurde, ließ das Lukaschenko-Regime im Jahr 2014 das neue Museum für die Geschichte des Vaterländischen Krieges bauen. Insgesamt gesehen ist die Erinnerungskultur im Stadtbild immer noch sowjetisch geprägt. Bis heute blieben die Denkmäler des Staatsgründers Lenin und des Tscheka-Chefs Dsershinski vor den Gebäuden von Regierung und Staatssicherheit unangetastet. Auch von Urbanität war Ende des 20. Jahrhunderts noch wenig zu spüren. In der Dekade, die in Russland als „wilde Neunziger“ beschrieben wird, blieb Minsk als Millionenstadt noch post-sowjetische Provinz.



Ein Fünftel aller Belarusen lebt in Minsk

Von einer Transformation des Stadtbildes kann aber seit der Jahrtausendwende gesprochen werden. Im Sinne einer postsowjetischen Nationalstaatsbildung wurde eine Altstadt rekonstruiert, allen voran das zur Zarenzeit abgerissene Rathaus, das noch auf das Großfürstentum Litauen zurückging. Auch wurde der repräsentative Schwerpunkt der beiden zentralen Verkehrsachsen von der stalinistischen Magistrale im Zentrum zum postmodernen Boulevard am Swislatsch verlagert. Am äußeren Stadtring schießen in den Wohngebieten prächtige russisch-orthodoxe Kirchen aus dem Boden. Als Ausdruck einer verhaltenen Europäisierung sind in der Innenstadt Cafés und Bistros und in den Grünzonen Fahrradwege entstanden. Die zunehmende Automobilisierung und die zahlreichen Shopping-Malls am Stadtrand lassen sich als Sinnbilder einer Amerikanisierung deuten. 
Auf den ersten Blick wirkt Minsk noch wie ein Museum der Sowjetunion: In städtebaulicher und architektonischer Hinsicht beeindrucken die Dimensionen der öffentlichen Räume und die Durchschlagskraft des Sozialistischen Realismus bis heute. Kaum ein Stadtzentrum weist so breite Straßen, so große Plätze und so viele neoklassizistisch-stalinzeitliche Gebäude auf wie dasjenige von Minsk. Doch auf den zweiten Blick kristallisiert sich entlang des Swislatsch eine neue Stadtsilhouette heraus, die von einer postmodernen Architektur und von Insignien eines Heldenkults konturiert wird, welcher sich in Denkmälern und Inschriften widerspiegelt. 

Ansicht von Minsk um 1870 / Foto © gemeinfreiIn den letzten 30 Jahren hat sich auch die Einwohnerschaft der belarusischen Hauptstadt gewandelt: Ende 2019 wurde die Zahl von zwei Millionen überschritten, sodass Minsk in der Reihe der europäischen Großstädte nach Rom und vor Wien den zehnten Rang einnimmt. Sage und schreibe ein Fünftel aller belarusischen Staatsbürger lebt in der Hauptstadt. Die neue Generation entstammt einer postindustriellen Gesellschaft, die als urban bezeichnet werden darf, zumal die Republik Belarus den Verstädterungsgrad von 70 Prozent bereits im Jahr 2001 überschritt. Dabei unterliegt die Nutzung der gebauten Umwelt nicht nur der Erfindung nationaler Traditionen, sondern auch der Kreativität der Menschen. In der brutal niedergeschlagenen Protestbewegung von 2020 hatte Letzteres durch die Bevölkerung von Plätzen und Höfen einen beredten Ausdruck gefunden.


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.Es handelte sich um eine Schreibweise, die bei der Kodifizierung der belarusischen Sprache am Anfang des 20. Jahrhunderts wieder populär werden sollte. Die auf die Emanzipation des Bürgertums zielenden Elemente wurden mit der Eingliederung von „Minsk“ in das Russländische Reich 1793 aber wieder unterdrückt. 
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