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„Meine Überlebensstrategie: jeden Tag mindestens eine Straftat”

Seit dem Jahr 2020 ist nichts mehr, wie es war in Belarus. Das Regime von Alexander Lukaschenko reagierte auf die historischen Massenproteste mit einer Brutalität, die selbst für belarussische Verhältnisse eine neue Dimension erreichte. Rund 60.000 Menschen wurden festgenommen, über 2000 NGOs und Parteien liquidiert und verboten, immer noch befinden sich fast 1200 politische Gefangene in den Gefängnissen und Lagern des Regimes, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Bis zu 600.000 Menschen flüchteten aus ihrer Heimat. Noch immer fahndet der KGB nach Protestteilnehmern, fast täglich kommt es zu Festnahmen

Warum sind viele trotz der brutalen Staatsgewalt im Land geblieben? Wie lebt man unter einem derart hochrepressiven Regime? Wie blicken die Menschen auf die Proteste von 2020? Welche Hoffnungen haben sie? Die Journalistin Mascha Rodé hat in Zusammenarbeit mit belarussischen Kollegen und Kolleginnen vor Ort mit vier Protestteilnehmern gesprochen.  

Recherche und Umsetzung des Projekts wurden von der Marion Dönhoff-Stiftung unterstützt. dekoder veröffentlicht die Interviews, die seltene Einblicke in das Seelenleben der Menschen in Belarus und in die Lage im Land selbst zulassen, in zwei Teilen. 

Im zweiten Teil berichten ein 38-jähriger Mann und eine 55-jährige Frau von ihren Ängsten, Überlebensstrategien und Beobachtungen in einer unterdrückten Gesellschaft.  

Quelle dekoder

„Lasst uns dieses Buch mit dem Titel 2020 zuschlagen”  

Pawel – nach seiner Inhaftierung und Haftzeit wegen der Teilnahme an den Protesten ist der 38-Jährige heute arbeitslos.  

Graffito Ne waine (kein Krieg) auf Belarussisch in einem Hof im Zentrum von Minsk. 2022 gab es sehr viele Graffiti, doch sie wurden umgehend übermalt, die Sprayer wurden häufig von Überwachungskameras aufgezeichnet, März 2023 / Foto © privat 

Du bist bereits seit einigen Jahren arbeitslos. Wie schaffst du es, über die Runden zu kommen? 

Anfangs war es viel schwieriger als jetzt, da war ich noch eher eine Ausnahme. Alle haben das Leben noch in vollen Zügen genossen. Ich erinnere mich, dass ich jeden Tag meine 10-Kilometer Runde in der Stadt gedreht habe, bin aus der U-Bahn raus, und dann nach zehn Kilometern wieder in dieselbe Station rein. So habe ich meine Energie abgebaut und meinen Kopf freigekriegt. Und ich dachte, wer weiß, vielleicht treffe ich einen Bekannten, der mir hilft, einen neuen Job zu finden. 

Das Land zu verlassen, war für mich keine Lösung. Ich glaube, dass diejenigen, die weggegangen sind, die volle Verantwortung dafür tragen, dass alles so gekommen ist, wie es ist. Ihr habt angefangen zu protestieren und ihr hättet diesen Weg bis zum Ende gehen müssen. Ihr habt die Menschen nur verführt und seid dann abgehauen. Wärt ihr diesen Weg zusammen mit eurem Land gegangen, wären wir heute nicht in dieser schlimmen Lage.  

Aber die Menschen hatten doch Angst! 

Alle hatten Angst, auch ich.  

Wie hast du deine Angst überwunden?  

Ich weiß nicht, wie ich sie überwunden habe. Eigentlich habe ich sie nicht überwunden.  

Du hast also noch immer Angst? 

Ja klar. Aber ich bin noch immer hier. Weil ich denke, dass es wichtig ist, dass ich hier bin. Es gibt ja nicht so viele von uns Belarussen. 

Fällt dir die Arbeitslosigkeit schwer? 

Das erste Jahr ohne Arbeit war das schwierigste. Ich bin immer wieder nachts aufgewacht und habe mich wie ein Stück Scheiße gefühlt. „Du hast keine Arbeit, du verlierst deine Qualifikation!” Ich wollte einfach nicht aufwachen. Ich war verzweifelt.  

Ich habe kaum noch jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann. 

Wie hast du erfahren, dass dein Name auf der schwarzen Liste steht?  

Ich hatte Probleme beim Grenzübergang. Ich war mal in einem Archiv in Vilnius und auf dem Weg nach Minsk hat man mir bei der Passkontrolle gesagt: „Lassen Sie das Gepäck hier, nehmen Sie das Telefon und kommen Sie mit!“. Zwei junge Typen haben mich ausgefragt, wo ich war, wen ich getroffen habe, wo ich arbeite und wo ich lebe. Meine Hände zittern zwar öfters, aber in dieser Situation konnte ich mich beherrschen. Woran ich mich jedoch erinnere, ist, dass sich mein Mund wie eine Wüste angefühlt hat, so trocken war er. 

Hast du dir Sorgen gemacht, was weiter passiert? 

Als ich nach Hause kam, war ich sehr aufgewühlt. Ich dachte, dass man mich bald verhaften würde. Dann habe ich aber mitgekriegt, dass zu dieser Zeit auch andere an der Grenze kontrolliert wurden, weiter ist nichts Schlimmes passiert. Dennoch tauchte nach diesem Vorfall häufiger ein Mann in der Firma auf, wo ich gearbeitet habe, und hat meinem Vorgesetzten Fragen über mich gestellt. 

Was für Fragen? 

Das hat man mir nicht mitgeteilt. Man hat nur gesagt, dass es Fragen gab. Genau genommen hat man es mir nicht gesagt, sondern auf dem Handy eine Notiz geschrieben und sie mir dann gezeigt. „Heute war XY da und hat wieder Fragen gestellt.“  

Solch eine Angst hatten sie? 

Entweder hatten sie Angst oder sie waren im Dienste des Regimes.  

Wie hält man das aus, wenn man nicht weiß, wer im Dienste des Regimes ist und wer nicht? 

Ich habe das einfach im Gefühl, wer wer ist. Ich habe viel Erfahrung in Kommunikation. Selbst wenn du nichts verbrochen, niemandem etwas angetan hast, niemanden umgebracht hast … 

… aber du lebst ständig in Angst. 

Ja, weil du realisierst, dass dir alles passieren kann.  

Wie gehst du mit Menschen um, von denen du vermutest, dass sie Spitzel sind? 

Ich beobachte sie und ihr Verhalten. Ich tue so, als würde ich es nicht wissen. Ich kann mich an einen Mann erinnern, der sich für meine Ansichten interessiert hat. Er rief mich mal vom Festnetz, mal vom Handy oder von WhatsApp an. Und abhängig davon, woher er anrief, ging das Gespräch in eine bestimmte Richtung.  

Es gab schon immer Menschen, die ihre Fühler ausstrecken. Was hat sich seit 2020 geändert? Sind diese Menschen mehr oder weniger geworden? 

Ich habe den Eindruck, dass die früheren Kader langsam zurückgezogen werden. An ihre Stelle treten die Neuen. Denn die Gesellschaft hat sich geändert, viele sind weg, die alten Kader haben nicht mehr die relevanten Kontakte. Darum gibt es Bedarf an Neuen. Es ist interessant zu beobachten, wie sie versuchen, dich zu angeln, dich zu provozieren, um deine Reaktion zu testen – eine interessante Erfahrung.  

Wie man überleben kann? Indem man vor allem mit sich selbst im Reinen ist. Sich treu bleibt. 

Wie hat sich dein Bekanntenkreis in den letzten Jahren geändert? 

90 Prozent sind weggegangen. Ich habe kaum noch jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.  

Hast du Bedenken, wenn du neue Bekanntschaften schließt? 

Nein. Und ich habe mich daran gewöhnt, dass ich kaum noch Kontakte mit Leuten habe, die ausgewandert sind. 

Wieso? 

Das ging Schritt für Schritt. Sicher gab es von ihrer Seite ein großes Unverständnis, warum ich bleibe. „Das sind deine jungen Jahre, warum bleibst du? Du wirst es bereuen!“ Ich antwortete darauf: „Und warum seid ihr geflohen und habt euer Land im Stich gelassen. Ihr lasst alles so einfach hinter euch, eure Wurzeln, eure Geschichte, eure Familie. Wo hattet ihr nur euren Kopf im Jahr 2020, was habt ihr gemacht?“ 

Aber es gibt doch Leute, für die es gefährlich ist zu bleiben. Sie haben Angst. 

Für mich ist es noch immer gefährlich. Meine Türklingel steht auf lautlos. Ich habe keine Handynummer.  

Welche Überlebensregeln hast du sonst?  

Wie man überleben kann? Indem man vor allem mit sich selbst im Reinen ist. Sich treu bleibt. Ich meine das umfassend. Indem man das tut, was man mag und was einem Spaß macht. Ich habe gerade eine schwierige Phase, bin arbeitslos. Aber ich bewahre die Ruhe. 

Wo setzt du deine Energie ein? 

Ich widme mich den Archiven und der Geschichte. Ich arbeite daran, meine Wissenslücken zu schließen. Ich lerne weiter. Fülle mein Leben mit Informationen, die mich bilden und weiterbringen.

Hof am Stadtrand von Minsk, von einem Hausbewohner mit sowjetischen Symbolen bemalt. Visuelle Erinnerungen an die Sowjetunion gibt es immer mehr, diese Graffiti werden vom Staat nicht verfolgt, Mai 2023 / Foto © privat

Verfolgst du, was die Opposition im Exil macht? 

Das ist Teil unserer Geschichte, darum – ja. Wir leben in einer historischen Zeit. Die Person Sergej Tichanowski interessiert mich zwar überhaupt nicht, aber er gehört zur Geschichte des Landes. Ich habe keine Lust mehr auf die ewige Diskussion „Wie sollen wir weiterleben?“. Okay, fünf Jahre haben wir uns damit rumgeschlagen, aber es muss ja weitergehen. Es ist wie ein Buch, das man gelesen und zur Seite gelegt hat. Dieses Thema war eine ganze Weile im Vordergrund, inzwischen aber nicht mehr. Irgendwann ist es einfach too much. 

Erwartest du, dass sich im Land etwas verändert? 

Na ja, die Festnahmen nach Artikel 342 werden irgendwann der Vergangenheit angehören, das ist schon mal klar.  

Dann wirst du aufatmen können? 

Ja. Dann können wir das Buch mit dem Titel 2020 endlich zuklappen und zur Seite legen. Es ist durch.  

Aber wir haben all das als Gesellschaft noch nicht ausreichend aufgearbeitet.  

Aber auch die Repressionen von 1937 haben wir nicht ausreichend aufgearbeitet. Und darin besteht unser Problem, ganz klar. Wir haben hierzulande viele Menschen, an denen das Jahr 2020 spurlos vorbei gegangen ist. Sie wissen auch nichts über das Jahr 1937.  

Die schweben auf einer Wolke der Glückseligen, man kann sie fast beneiden. 

Ja, es gibt welche, für die „nichts passiert“ ist. Nicht viele, aber die gibt es. Es heißt aber auch nicht, dass sie im rot-grünen Lager (Lukaschenko-Anhänger – dek.) waren. 

Hast du je darüber nachgedacht, das Land zu verlassen? 

Ich habe darüber nachgedacht und habe diese Gedanken noch immer. Ich würde vielleicht ausreisen, wenn meine Eltern verstorben sind. Ich würde sie beerdigen und ausreisen. Noch weitere fünf Jahre ohne Job, das wäre zu viel. Gleichzeitig ist mir klar, dass mich im Ausland kaum jemand erwartet. Und ein Teil dieser Sekte werden, wie ich die Belarussen im Exil nenne, das möchte ich nicht.  

 


„Bis auf die physische Freiheit habe ich alles verloren” 

Janna, 55 Jahre 

Überreste eines Papier-Graffito mit den DJs des Wandels – Symbole der Proteste von 2020 in einem Hof in Minsk (Kopie von der Gedenkmauer vom Platz des Wandels, wo Roman Bondarenko getötet wurde). Erst im Winter 2025 wurden sie endgültig entfernt, Januar 2023 / Foto © privat 

Wie war dein Leben vor fünf Jahren und wie hat es sich seitdem geändert? 

Mein Leben hat sich gravierend verändert. Ich kann sagen, dass ich bis auf die physische Freiheit alles verloren habe. Ich habe Glück, trotz meiner Aktivitäten eine Arbeit gefunden zu haben, denn Menschen wie ich mit dem Status Persona non grata finden oft keine Arbeit. Sie sind auf die Unterstützung ihrer Angehörigen angewiesen. Ich habe meine Familie verloren. Ich habe meine Freunde verloren, meinen geliebten Job, der meine zweite Familie war, habe ich auch verloren. Ich habe alles verloren. Die Organisation, für die ich gearbeitet habe, wurde aus politischen Gründen aufgelöst. Es gibt mittlerweile Tausende liquidierter NGOs. Selbst Organisationen wie Schutz der Heimatvögel wurden liquidiert. Ebenso Verlage oder Sprachkurse.  

Wie lautet deine Überlebensstrategie? 

Die Menschen in meiner Umgebung glauben noch immer, dass sich etwas bessern wird. Diese Hoffnung gibt mir und meinen Mitstreitern Kraft. Selbst Leute, die unmittelbar in Gefahr sind, verhaftet zu werden, bleiben im Land, solange es nur geht. Meine persönliche Überlebensstrategie: jeden Tag mindestens eine „Straftat“. Eine „Straftat“ in unserem Sinn ist etwas Gutes: jemandem zu helfen, ein paar Groschen zu spenden, etwas zu schreiben oder weiterzuerzählen. 

Ich spreche, soweit es geht, nur mit Leuten, denen ich vertraue. 

Wie sieht dein Alltag aus? 

Die schwierigste Zeit für mich ist der Morgen. Das ist aber ein rein subjektives Empfinden. Denn Festnahmen gibt es auch tagsüber, abends und nachts. Aber meistens finden die Festnahmen tatsächlich morgens statt. Deswegen säubere ich jeden Morgen das Handy, von Daten, Chats, die mir zum Verhängnis werden könnten. Wenn ich morgens losgehe zur Arbeit und sehe, dass es vor der Haustür nichts Verdächtiges gibt, beruhige ich mich ein bisschen. Allerdings weiß ich, dass man auch auf dem Weg zur Arbeit festgenommen werden kann.  

Spielen die Wochentage eine Rolle für deine Gemütslage? 

Ich glaube, dass der KGB montags immer seine Planungssitzungen hat und die Arbeit für die ganze Woche verteilt. Die meisten Festnahmen finden dienstags und mittwochs statt. Am Donnerstag kann man ein wenig aufatmen, am Freitag noch mehr. Am Wochenende kann ich mir sogar erlauben, mein Handy nicht zu säubern.  

Wie schaffst du es, mit all dem fertig zu werden? 

Man könnte denken, dass ich verrückt sein müsste. Aber ich bin okay, meine Psyche hat sich angepasst. Das hat vielleicht damit zu tun, dass meine Wut und mein Entsetzen über die Ungerechtigkeit, die Brutalität und die Unmenschlichkeit meine Angst übersteigen.  

Hat sich in deiner Kommunikation mit anderen etwas geändert? 

Ich spreche, soweit es geht, nur mit Leuten, denen ich vertraue und mit denen wir seit 2020 einen gemeinsamen Weg gegangen sind. Ich veröffentliche manchmal etwas auf Insta, aber ich habe ein privates Profil, das nur für wenige Menschen zugänglich ist. Es sind Menschen, auf die ich mich verlassen kann. Mit den Stories, die wir posten, zeigen wir uns gegenseitig, dass wir in Freiheit sind.  

Hast du irgendwelche Sicherheitsregeln? 

Ich nutze mit einigen Leuten abgesprochene Code-Wörter, mit denen wir unsere Chats beginnen. Wenn mir jemand ein bestimmtes Wort schreibt, antworte ich auf bestimmte Weise, damit der andere weiß, dass ich es bin, die geantwortet hat und nicht irgendein „Herr Major“.  

Was bedeutet für dich „innerer Widerstand“? 

Die Wurzel des Bösen ist Russland. Putin zahlt, damit es in Belarus weiter ruhig bleibt. Viele meinen, dass wir keine Chance auf Veränderung haben, solange sich die Lage in Russland nicht ändert. Wir Belarussen haben Partisanen-Blut, aber wir haben nicht den Mut der Ukrainer, um uns der Russki Mir zu widersetzen. Wir halten den Mund, weil es für jede Äußerung ein Strafverfahren wegen des „Schürens von Hass“ geben kann. 

Einmal stand ich in einer Schlange hinter ein paar Russen, die sich mit dem Verkäufer stritten, weil es bei einer Werbeaktion die Kopfhörer als Geschenk nur für belarussische Staatsbürger gab. Sie wurden laut: „Warum das? Wir sind doch eure russischen Brüder“. Ich war so entsetzt, dass ich es nicht ausgehalten habe. Obwohl es überall Kameras gab, habe ich ihnen mit leiser Stimme gesagt, dass sie nicht unsere Brüder seien. Zwei Wochen lang nach diesem Vorfall war ich in innerer Alarmbereitschaft. Ich habe mit einer Verhaftung gerechnet. 

Du postest Stories mit „Grüßen aus dem besetzten Minsk“. Warum dieser Ausdruck? 

Wir befinden uns unter Besatzung, unter russischer Besatzung und unter Besatzung unserer faschistischen Regierung. Wir können uns nicht frei verhalten, wir dürfen nichts sagen und nichts schreiben. Man hat uns das Recht entzogen, nach unserem Gewissen zu handeln. Meine Freundin war gezwungen zu fliehen, weil sie Angehörige von politischen Gefangenen mit Lebensmitteln versorgt hat. Sie kam dafür sogar in Untersuchungshaft. 

Wir können nicht mal Unterstützerbriefe an politische Gefangene schreiben. Wenn wir es dennoch wagen, geben wir eine falsche Absenderadresse an und suchen einen Briefkasten, der nicht von einer Videokamera überwacht wird.  

Man verhaftet uns noch immer und wird uns weiter verhaften und ins Gefängnis stecken. 

Kann man die Lage nach 2020 irgendwie in Worte fassen? 

Es gibt diese Regel, wie man sich mental schützen kann: fight, flight, freeze [kämpfen, wegrennen, einfrieren]. Die erste Phase hatten wir 2020 – das lief ohne physische Gewalt, das war Widerstand und aktiver Protest. Dann kann die Phase „renn weg!“ – wir versteckten uns und verstummten. Und jetzt durchleben wir die dritte Phase. Wir sind erstarrt und warten ab. Die Überzeugtesten und Aktivsten machen weiter und verwirklichen Projekte im Untergrund. Aber es gibt viele, die auf unterschiedliche Art und Weise erstarrt sind. Sie sind quasi auf das Niveau von Schnaps und Speck gesunken. Es gibt sogar gebildete Menschen, die sagen: „Was soll das alles? Wir haben doch Arbeit. Wozu etwas riskieren?” Ich nenne das „Schnäpschen und Speckchen mit elitärem Anspruch”. Nach dem Motto: Was haben wir zu meckern? Ist ja schließlich kein Krieg bei uns. 

Aber gibt es einen inneren Krieg? 

Für mich schon. Ich bin an der Front.  

Warum sperrt man uns weg? 

Weil wir nicht der Staatsideologie entsprechen und weil wir als freie Menschen in einem freien Land leben möchten. Weil wir nicht damit einverstanden sind, dass man unsere Stimmen geklaut hat. Man verhaftet uns noch immer und wird uns weiter verhaften und ins Gefängnis stecken. Weil sie ganz genau wissen, dass wir unsere Ansichten nicht geändert haben, abgesehen von einigen wenigen.  

Kommt eine Ausreise für dich infrage? 

Ich kann das Land nicht verlassen. Es ist mein Land. Ich habe hier noch viel vor. Je mehr Menschen ausreisen, desto größer wird meine Verantwortung. Ich beteilige mich an Aktivitäten, die nur hier im Land möglich sind.  

Belarus war immer zerrissen, in mindestens zwei Welten. Ist das noch immer so? 

Ich glaube, dass wir in zwei verschiedenen Ländern gleichzeitig leben: Weißrussland und Belarus. Belarus sind meine Freunde, sowohl im Exil als auch in Belarus, in Freiheit oder in Haft. Es ist mein Aktivismus, den ich weiter betreiben will, solange ich in Freiheit bin. Es sind unsere Bücher, Hoffnungen und Projekte. All das ist Belarus. Der Rest ist Weißrussland.

Kunst-Installation eines staatlichen Landwirtschaftsbetriebs in der Oblast Minsk zum Erntefest Dashynki. Diesen Feiertag und Landwirtschafts-Kitsch assoziieren viele Belarussen mit der Regierung Lukaschenko, August 2023 / Foto © privat 

Wie siehst du die Zukunft von Belarus? 

Mein Traum ist ein freies Land mit demokratischen Wahlen. Und wenn alle, die im Exil sind, zurückkehren, werden wir unsere ersten demokratischen Wahlen abhalten, wir werden uns ordentlich zoffen. Die Rückkehrer werden lauthals schreien „Ihr versteht nichts, ihr habt hier in einem Lager gelebt. Wir wissen, wie es richtig geht.“ Wir werden ihnen entgegnen: „Schert euch zum Teufel, wir haben es hier in diesem Lager ausgehalten, wollt ihr uns etwa den Mund verbieten?” Das wird der allerbeste Kartoffelstreit

Müssen wir noch lange auf diesen Streit warten? 

Vielleicht nur einen Monat. Ich beurteile das aus einer historischen Perspektive: Die größten Veränderungen passieren plötzlich.  

Die Generation der jetzigen Schüler und Studenten in Belarus ist so gut wie verloren. 

Glaubst du, dass die Exilierten jemals zurückkehren werden? 

Die jungen Leute kommen nicht zurück. Viele aus meiner Generation würden wahrscheinlich zurückkehren. Auf die Kleinen, die mit ihren Eltern ausgewandert sind, kann man leider nicht als Bürger eines zukünftigen Belarus setzten. Sie gehen dort in die Schule, 99 Prozent von ihnen werden nicht mehr zurückkehren.  

Und das ist sehr traurig. Die Generation der jetzigen Schüler und Studenten in Belarus ist so gut wie verloren. Wie wir in der Sowjetunion dürfen sie nicht frei denken. Sie leben nach Vorschriften und Regeln. Sie sind wie eine neue sowjetische Generation.  

Was fällt dir auf, wenn du die Leute um dich herum beobachtest? 

Sie leben ihr Leben. Die Jugend starrt auf Handys, auf TikTok. Ich weiß zwar, dass sich das nicht unbedingt gehört, aber manchmal wage ich einen Blick auf die Handys der Leute um mich herum. Aus Sicherheitsgründen ist es schließlich gut zu wissen, wer neben dir steht. Aber ich bin auch neugierig, was die Gesellschaft so umtreibt. Scheinbar nichts Vernünftiges: Die Leute daddeln auf ihren Handys, schauen Filmchen auf TikTok. Manchmal sieht man, wie einer verstohlen auf sein Handy blickt. Sicher einer von uns, denke ich dann. 

Ein paar Mal habe ich beobachtet, wie Leute Zerkalo auf ihrem Handy gelesen haben. „Weiß er etwa nicht, was er da tut?”, habe ich mich gefragt. „Oder ist der ein Provokateur?” 

 

Hier geht es zu Teil 1 der Interviews.  

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Die moderne belarussische Sprache

Eine Fahrt mit der Minsker Metro verrät einiges über die sprachliche Situation in der Belarus. Die Fahrgäste unterhalten sich auf Russisch. In dieser Sprache sind auch die Bücher und Zeitschriften in ihren Händen, genau wie die Werbeanzeigen an den Wänden. Und gibt es einmal Störungen im Betriebsablauf, so erfolgt die entsprechende Durchsage ebenfalls auf Russisch. Wird jedoch ein planmäßiger Halt angekündigt, hört man aus den Lautsprechern plötzlich eine andere Sprache: das Belarusische.

Wären auf dem Gebiet der heutigen Belarus vor 200 Jahren auch schon Metros gefahren, hätte sich ein anderes Bild geboten. Russisch wäre kaum zu hören gewesen, denn die Gebiete der heutigen Belarus sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts erst seit kurzer Zeit Teil des Russischen Zarenreichs. Zuvor hatten sie jahrhundertelang zur Adelsrepublik Polen-Litauen gehört, und deswegen wären auch zu jener Zeit die offiziellen Durchsagen der nächsten Station wohl noch auf Polnisch erfolgt. Auch die Namen der Stationen hätte man auf Polnisch ausgeschildert. Zwar hatte es im 16. und 17. Jahrhundert auf den Gebieten der Belarus bereits eine autochthone, ostslawische Schriftsprache1 gegeben, diese war aber längst vom westslawischen Polnischen verdrängt worden. Unterhalten hätten sich die Fahrgäste des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Sprachen: Einige auf Polnisch, der Sprache des Adels, andere auf Jiddisch, und wieder andere in unterschiedlichen dialektalen Formen des ostslawischen Belarusischen, der Sprache der breiten Bevölkerung.

Das moderne Belarusische

Im 19. Jahrhundert setzte sich in Europa der Glaube an die Einheit von Volk, Nation und Sprache und damit das Bedürfnis nach einheitlichen Standardsprachen durch. Für die drei modernen ostslawischen Standardsprachen, für das Russische, das Ukrainische und das Belarusische, war dieses Jahrhundert das entscheidende. Auch die Idee einer belarusischen Identität gewann nun an Bedeutung und damit der Wunsch nach einer einheitlichen belarusischen Sprache. Anfang des 19. Jahrhunderts standen beide allerdings in Konkurrenz zur polnischen Sprache und Identität. Exemplarisch zeigt sich das in Biographie, Werk und Wahrnehmung der beiden befreundeten Schriftsteller Adam Mickiewicz und Jan Tschatschot. Obwohl beide am Ende des 18. Jahrhunderts unweit des heute belarusischen Nawahrudak geboren wurden, avancierte der erste zum Nationaldichter Polens, während der zweite zu einem der Gründer der belarusischen Wiedergeburtsbewegung wurde. „Von nahezu identischen Ausgangspunkten“ schlugen sie Bahnen ein, „wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten“2.

Das Polnische verlor im späteren 19. Jahrhundert in den „Nordwestprovinzen“ des Zarenreiches zunehmend seine Bedeutung. In Reaktion auf zwei Aufstände, die 1830/31 und 1863 auf den Gebieten des ehemaligen Polen-Litauens ausbrachen, nahm stattdessen der Einfluss des Russischen zu. Die westlichen Ostslawen wurden als „Teil des russischen Volkes“ betrachtet, der durch polnische Einflussnahme von diesem „entfremdet“ worden sei.3 Eine belarusische Standardsprache hatte in dieser Logik keinen Platz und wurde dementsprechend in ihrer Entwicklung behindert. Trotz dieser ungünstigen politischen Situation bildete sich bis zum Anfang des 20. Jahrhundert eine Literatur heraus, deren Sprache auf den damaligen belarusischen Dialekten aufbaute. Im Zuge der politischen Teilliberalisierung, die auf die Russische Revolution 1905 folgte, konnte das Belarusische schließlich auch in publizistischen Bereichen verwendet und stilistisch ausgebaut werden. Maßgeblich für diesen Prozess war die zwischen 1906 und 1915 herausgegebene Zeitung Nascha Niwa, das wichtigste Publikationsorgan der belarusischsprachigen Schriftsteller und Publizisten jener Zeit. 1918 wurden die orthographischen und grammatischen Regeln des Belarusischen durch Branislau Taraschkewitsch kodifiziert. Diese erste, aber nicht letzte Norm der belarusischen Standardsprache wurde nach ihrem Schöpfer als Taraschkewiza bekannt und war auf Abstand zum Russischen bedacht.

Das Belarusische in der Sowjetunion

Anfang des 20. Jahrhunderts stand die belarusische Sprache also gewissermaßen bereit, in einem künftigen belarusischen Staat die Funktionen einer Standardsprache zu erfüllen. Durchsetzen sollte sie sich jedoch letztlich nie, auch wenn es nach dem ersten Weltkrieg zunächst ganz danach aussah. Zwar gingen die westlichen Gebiete der heutigen Belarus an das neu entstandene Polen, wo eine Polonisierung der ostslawischen Bevölkerung angestrebt wurde. Im östlichen Teil, der nun als Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) Teil der Sowjetunion war, erfuhr das Belarusische jedoch im Zuge der sogenannten Belarussisazyja eine nie dagewesene Förderung. Insbesondere wurde das Belarusische als Schul- und Verwaltungssprache eingeführt und auch in beträchtlichem Maße durchgesetzt.

Doch die liberale Sprachenpolitik der frühen Sowjetunion, die das Ziel verfolgte, nationale Minderheiten und ihre Eliten in den neuen Staat und die neue Ideologie einzubinden, sollte nicht lange andauern. Unter Stalin wurde 1934 das Russische zur alleinigen Sprache der innersowjetischen Kommunikation erklärt, bereits ein Jahr zuvor war es die alleinige Sprache der Armee geworden. 1938 wurde es Pflichtfach in den Schulen aller Sowjetrepubliken. Ein neues Regelwerk, die nach dem Volkskommissariat (narodny kamissaryjat) benannte Narkamauka, ersetzte 1933 die Taraschkewiza. Sie nähert das Belarusische in Grammatik, Wortbildung und Orthographie dem Russischen an. Diese Maßnahmen lesen sich heute recht nüchtern. Gleichzeitig fiel aber dem Großen Terror der 1930er Jahre auch fast die gesamte belarusischsprachige Intelligenz zum Opfer. Sich für das Belarusische einzusetzen oder lediglich Belarusisch zu sprechen, während der Kampf gegen „nationale Abweichler“ wütete, erforderte beträchtlichen Mut.

Doch nicht nur die Sowjetisierung, sondern auch der Zweite Weltkrieg hatte Folgen für die Stellung der belarusischen Standardsprache. Zwar gingen mit der sowjetischen Annexion Ostpolens 1939 große Teile des in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden belarusischen Sprachgebiets an die BSSR. Der Umstand, dass die deutschen Besatzer die belarusische Sprache im Zweiten Weltkrieg – wie auch schon im Ersten Weltkrieg – in gewissem Umfang für ihre Zwecke gefördert hatten, trug jedoch dazu bei, das Belarusische in der Sowjetunion zu diskreditieren. Vor allem aber verlor die belarusische Standardsprache ihren stärksten Trumpf gegenüber dem Russischen, nämlich die größere Nähe zur Alltagssprache der breiten Bevölkerung. Denn mit der Ermordung von Millionen Menschen und der vollständigen Vernichtung von etwa 9000 Dörfern durch die Deutschen war auch die dialektale Landschaft zu großen Teilen zerstört worden. Nach dem Krieg wurden Städte im Zuge einer raschen Industrialisierung schneller wiederaufgebaut als Dörfer. Zahlreiche junge Sprecher*innen belarusischer Dialekte zogen daher als dringend benötigte Arbeitskräfte vom Land in die rasant wachsenden Städte, wo sie sich der sozial dominanten russischen Sprache zuwandten. Hieraus resultiert die weite Verbreitung der sogenannte Trassjanka im Lande, einer gemischten Rede, die Elemente des Belarusischen und des Russischen aufweist.

Dass insbesondere in den Städten das Russische dominierte, lag einerseits daran, dass nach dem Krieg viele Russ*innen und Sprecher*innen des Russischen aus anderen Teilen der Sowjetunion in die belarusischen Städte gezogen waren, um dort Führungspositionen einzunehmen. Vor allem blieb aber auch unter Stalins Nachfolgern das Russische die Sprache des ideellen Wegs zum Kommunismus – und damit auch die Sprache des individuellen Wegs nach oben auf jedweder Karriereleiter. Seinem Ärger über eine belarusischsprachige Rede, die er wohlgemerkt auf dem 40. Jahrestag der BSSR hatte hören müssen, soll Chruschtschow mit den Worten Luft gemacht haben: „Je eher wir alle Russisch sprechen, desto eher haben wir den Kommunismus aufgebaut“.4 Das Russische hatte nun die „zweite Muttersprache“ aller nicht-russischen Ethnien zu sein. Trotz allem war das Belarusische als Unterrichtssprache bis in die Nachkriegszeit hinein aber noch recht gut vertreten. Als Eltern ab 1958 jedoch die Unterrichtssprache ihrer Kinder frei wählen durften, optierten die meisten für das in der Sowjetunion unverzichtbare Russische, nicht für das verzichtbare Belarusische.

Belarusisch im unabhängigen Belarus

Zum Ende der Sowjetzeit sah es für das Belarusische düster aus. Erst in der Perestroika-Stimmung der 1980er Jahre konnten sich national orientierte Intellektuelle für das Belarusische stark machen. Als alleinige Staatssprache der nun unabhängigen Republik Belarus erlebte es dann Anfang der 1990er Jahre einen vorerst letzten Aufschwung. Insbesondere der Anteil der Schüler*innen, die auf Belarusisch unterrichtet wurden, stieg stark an. Der Rückhalt in der Bevölkerung für die allgemeine Durchsetzung einer Sprache, die von vielen kaum benutzt und eher mittelmäßig beherrscht wurde, war jedoch nicht allzu groß. Vielen ging es zumindest zu schnell und in der postsowjetischen Wirtschaftskrise waren vielen Belarus*innen andere Probleme dringlicher. Auf diese Stimmung bauend ließ Präsident Alexander Lukaschenko kurz nach seinem Antritt im Mai 1995 ein in seiner Rechtmäßigkeit umstrittenes Referendum durchführen, das unter anderem auch auf die Staatssprache abzielte. Die entsprechende Frage war geschickt formuliert: Es ging nicht etwa darum, die Förderung des Belarusischen zurückzunehmen oder es gar zurückzudrängen, sondern darum, „dem Russischen den gleichen Status wie dem Belarusischen“ einzuräumen. Offiziell 87 Prozent der gültigen Stimmen zeigten sich damit einverstanden.

Heute sind Belarusisch und Russisch rechtlich gleichberechtigte Staatssprachen der Republik Belarus. Personen, die sich für eine stärkere Position des Belarusischen einsetzen, kann die offizielle Seite entgegnen, dass man das Belarusische ja keinesfalls zurückdränge. Man sei – so etwa Lukaschenko – lediglich dagegen, eine der beiden Sprachen mit Zwang durchzusetzen.5 Ganz ähnlich wie bei der freien Wahl der Unterrichtssprache in den 1950er Jahren ist das Belarusische ohne eine positive Diskriminierung jedoch chancenlos. Denn ob im alltäglichen Gebrauch, im öffentlichen Leben, den Medien, dem Bildungswesen, dem Buchmarkt, bei Regierungs- und Verwaltungsorganen, im Geschäftswesen, in der Wissenschaft – überall dominiert das Russische, das Belarusische spielt allenfalls eine marginale Rolle.
So gab im Zensus von 2019 zwar immerhin ein gutes Viertel der knapp acht Millionen ethnischer Belarus*innen6 an, zu Hause für gewöhnlich das Belarusische zu benutzen. Dass sich dahinter aber nicht die Standardsprache verbirgt, wird in anderen Umfragen deutlich. Können die Befragten nicht nur Belarusisch oder Russisch ankreuzen, sondern auch „Trassjanka“ oder „belarusisch-russisch gemischt“, dann sinkt der Anteil der Belarusischsprecher*innen auf unter fünf Prozent.7
 

Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt.8

Der zweifellos marginale Status des Belarusischen im Gebrauch wird zuweilen sogar in ein Argument gegen dessen Förderung umgemünzt: Dass niemand es im Alltag benutze, zeige, dass diese „Sprache der Schriftsteller“ nicht für den Alltag tauge. Das verkennt allerdings, dass das Belarusische für einige, wenn auch wenige, durchaus die praktikable und normale Alltagssprache ist. Bei dieser Gruppe handelt es sich um eine national gesinnte Minderheit, oft mit einer Vorliebe für die erste, nicht-russifizierte Norm des Belarusischen, die Taraschkewiza. Der Gebrauch des Belarusischen in der Öffentlichkeit ist ungewöhnlich und damit als Statement zu verstehen. Umgekehrt ist es jedoch keineswegs so, dass der Gebrauch des Russischen auf eine regierungstreue Haltung oder die Ablehnung einer belarusischen Eigenständigkeit schließen lässt. Die Sprachenfrage ist entsprechend auch in den gegenwärtigen Protesten „seltsam abwesend“9


Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt.10

Die Situation des Belarusischen ist heute von vielen Widersprüchen geprägt. So betrachten etwa viele Belarus*innen das Belarusische als ihre Muttersprache11, obwohl sie es kaum sprechen. Auch sehen viele die Sprache noch als wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Belarus*innen zu den Russ*innen, stimmen jedoch der Aussage zu, dass man auch Belarus*in sein könne, ohne die Sprache zu sprechen. Grundsätzlich beherrschen solle man sie jedoch schon, auch wenn für die allermeisten das Belarusische heute eine lediglich im Klassenzimmer erlernte und auf schulische Kontexte beschränkte Sprache ist. Nach wie vor hegen aber viele junge Belarus*innen den Wunsch, dass ihre eigenen Kinder einmal nicht nur das Russische, den jasyk, beherrschen, sondern auch: die belarusische mowa.12 Ob den Belarus*innen in ihrer Mehrheit die symbolischen, aber letztlich homöopathischen Dosen des Belarusischen in Metro, Schule und anderswo ausreichen, wird sich zeigen müssen.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

 

Zum Weiterlesen
Bieder, H. (2001): Der Kampf um die Sprachen im 20. Jahrhundert, in: Beyrau, D./Lindner, R. (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen, S. 451–471
Hentschel, G./Kittel, B. (2011): Zur weißrussisch-russischen Zweisprachigkeit in Weißrussland – nicht zuletzt aus der Sicht der Weißrussen, in: Bohn, Th. et al. (Hrsg.): Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld, S. 49–67
Woolhiser, Curt (2013): New speakers of Belarusian: Metalinguistic Discourse, Social Identity, and Language Use, in Bethea, David M./Bethin, Christina Y.  (Hrsg.): American Contributions to the 15th International Congress of Slavists, Minsk, August 2013, Bloomington, S. 63–115
Zaprudski, S. (2007): In the grip of replacive bilingualism: The Belarusian language in contact with Russian, in: International Journal of the Sociology of Language 183, S. 97–118

1.Moser, M. (2005): Mittelruthenisch (Mittelweißrussisch und Mittelukrainisch): Ein Überblick, in: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 50, S. 125–142; Bunčić, D. (2006): Die ruthenische Schriftsprache bei Ivan Uževyč unter besonderer Berücksichtigung der Lexik seines Gesprächsbuchs Rozmova/Besěda, München 
2.Kohler, G.-B. (2014): Selbst, Anderes Selbst und das Intime Andere: Adam Mickiewicz und Jan Čačot, in: Studia Białorutenistyczne 8, S. 79–94, hier S. 83 
3.Brüggemann, M. (2014): Zwischen Anlehnung an Russland und Eigenständigkeit: Zur Sprachpolitik in Belarus', in: Europa ethnica 3-4/2014, S. 88–93, hier S. 89 
4.zit. nach: Korjakov, Ju. B. (2002): Jazykovaja situacija v Belorussii i tipologija jazykovych situacij, Moskva, hier S. 39 
5.nach Brüggemann, M. (2014): Die weißrussische und die russische Sprache in ihrem Verhältnis zur weißrussischen Gesellschaft und Nation: Ideologisch-programmatische Standpunkte politischer Akteure und Intellektueller 1994–2010, Oldenburg, hier S. 112 
6.Mit ethnischen Belarus*innen sind dabei belarusische Staatsbürger*innen gemeint, die sich nicht als Russ*innen, Pol*innen, Ukrainer*innen etc. identifizierten. 
7.Kittel, B./Lindner, D./Brüggemann, M./Zeller, J. P./Hentschel, G. (2018): Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel: Eine sprachsoziologische Untersuchung der weißrussisch-russisch gemischten Rede „Trassjanka“ in Weißrussland, Berlin, hier S. 180; Informacionno-analitičeskij centr pri Administracii Prezidenta Respubliki Belarus’ (Hrsg.) (2018): Respublika Belarus’ v zerkale sociologii: Sbornik materialov sociologičeskich issledovanij, Minsk, hier S. 46 
8.Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt. Vgl. Kittel et al. 2018, S. 180 
9.Brüggemann, M. (2020): Demokratie nur auf Belarusisch? Eine Reise in die sprachpolitischen „Befindlichkeiten“ der Belarus, in: Bohn, T./Rutz, M. (Hrsg.): Belarus-Reisen: Empfehlungen aus der deutschen Wissenschaft, Wiesbaden, S. 53–69, hier S. 69 
10.Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt. Vgl. Hentschel, G./Brüggemann, M./Geiger, H./Zeller, J. P. (2015): The linguistic and political orientation of young Belarusian adults between East and West or Russian and Belarusian, in: International Journal of the Sociology of Language 2015/236, S. 133–154, hier S. 151 
11.In der Entsprechung zum deutschen Wort „Muttersprache“ ist weder im Belarusischen noch im Russischen von „Mutter“ die Rede. Im Belarusischen ist es „rodnaja mova“, im Russischen „rodnoj jazyk“. Das Attribut „rodnaja“ bzw. „rodnoj“ ist am ehesten vergleichbar mit dem englischen „native“. In anderen Kontexten kann es mit „leiblich verwandt“, „Heimat‑“ oder „angeboren“ übersetzt werden. Abgeleitet ist es von der Wurzel „rod“, zu übersetzen unter anderem mit „Stamm, Geschlecht“, die auch im Wort „narod“ „Volk“ vorkommt. Vgl dazu: Zeller, J. P./Levikin, D. (2016): Die Muttersprachen junger Weißrussen: Ihr symbolischer Gehalt und ihr Zusammenhang mit sozialen Faktoren und dem Sprachgebrauch in der Familie, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch (Neue Folge) 4, S. 114–144 
12.Hentschel, G et al. 2018, S. 151 
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Janka Kupala

Vor 80 Jahren starb die Ikone der belarusischen Literatur Janka Kupala (1882–1942). Ob es Selbstmord war oder ob der Geheimdienst beteiligt war, wurde nie richtig aufgeklärt. Seine Werke sind Klassiker, die mit dem Protestsommer von 2020 wieder brandaktuell wurden. Gun-Britt Kohler in einer Gnose über den Nationaldichter Kupala, der mit seinem Werk wie kein anderer für die schwierige Suche der Belarusen nach einem nationalen Selbstverständnis steht.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)