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„Studiert in Belarus!”

Diese Woche finden in Belarus die Abschlussfeiern der wypuskniki, der Schulabgänger, statt. Dann geht es ins Arbeitsleben oder an die Universität. Der Wunsch, einen Studienplatz in der EU zu ergattern, ist groß. Allein an polnischen Universitäten studieren etwa 12.000 junge Belarussen. Die Behörden in Belarus setzen vieles daran, den Aufbruch der Absolventen in Richtung Westen zu verhindern. Gleichzeitig ist auch die russische Regierung bemüht, die jungen Leute für ein Studium in Russland zu gewinnen.  

Das belarussische Online-Portal Pozirk hat mit Lehrern und Eltern in Belarus gesprochen und zeigt, wie der belarussische Staat mit Propaganda und Druck versucht, die jungen Leute im Land zu halten.  

Quelle Pozirk – Nawіny pra Belarus

Studierende in Belarus sichten ihre Prüfungsergebnisse. / Foto © Tut.by 

Alexandra (*alle Namen aus Sicherheitsgründen geändert) arbeitet seit 20 Jahren als Lehrerin. Was sie in ihrer Schule erlebt, beschreibt sie als absurd. Ihr zufolge könne man aus dem Nichts Kritik ernten – seitens der Schulverwaltung, der Bildungsabteilung, der Ideologen. So habe eine Ideologie-Beauftragte auf einer Veranstaltung für die Kinder eine Tasse mit einer englischen Aufschrift entdeckt und nach der Veranstaltung eine Szene gemacht. „Warum wir den Kindern ‚fremdsprachige Aufdrucke‘ präsentieren würden, hat sie gezetert“, erzählt Alexandra. Sie erinnert sich, wie vor zwei Jahren das Anschauungsmaterial aus dem Englischraum entfernt wurde, zum Beispiel Ansichtsplakate von London. 

Unter besonderer Beobachtung stehen Abschlussfeiern. Die Liste der Lieder musste schon früher mit der Zensurbehörde abgestimmt werden, aber „dieses Jahr sind sie noch weiter gegangen und haben beschlossen, dass es bei der Abschlussfeier keinerlei fremdsprachige Lieder mehr geben und dass nur noch Lieder auf Russisch und Belarussisch gesungen werden dürfen. Ist das nicht absurd?“, empört sich die Pädagogin. 

Marija, die Mutter eines Absolventen, sagte in einem Gespräch mit Pozirk, die Klassenlehrerin fordere die Eltern seit Februar beharrlich auf, ihr zu schreiben, wo die Kinder studieren wollen. „Das macht mich wütend, ich habe beschlossen, aus Prinzip nichts zu sagen. Ja, mein Sohn geht studieren, und zwar nicht im Ausland, sondern in Belarus, aber wieso sollte ich der Schule Rechenschaft ablegen? Er wird sein Zeugnis abholen, und damit ist seine Beziehung mit der Schule beendet. Warum müssen sie wissen, wo er studieren wird? Außerdem bin ich abergläubisch und erzähle nicht gerne von meinen Plänen, sonst werden sie vielleicht nicht wahr“, erzählt Marija. 

Die Lehrerin Alexandra bestätigt, dass die Schulen für hiesige Universitäten werben, aber „nicht mit Drohungen oder Zwang, sie versuchen es auf die sanfte Tour, indem sie von den Vorteilen eines Studiums in Belarus erzählen“. Die Gymnasiasten aus der Oberstufe müssen sich ihr zufolge aktuelle belarussische Propaganda-Filme ansehen: Tschushoje nebo (dt. Fremder Himmel) und Trudnosti perewoda (dt. Übersetzungsschwierigkeiten). Der erste Film, den die Propaganda-Beauftragten als „investigative Reportage“ präsentieren, soll das harte Los der belarussischen Emigranten zeigen, unter anderem der Studierenden in Polen und Litauen. Der zweite bietet eine Bühne für junge Belarussen, die angeblich aus Unzufriedenheit mit ihrem Studium in Polen, Tschechien und Litauen nach Belarus zurückgekehrt sind. 

Dieselben Filme werden auch an Universitäten gezeigt, mit anschließenden Treffen zwischen den Studierenden und den Filmemachern. So geschehen im April an der Janka-Kupala-Universität in Hrodna. Die Ankündigung auf der Internetseite des regionalen Fernsehsenders lautet: „Der Film zeigt das wirkliche Leben der Belarussen, die nach den Ereignissen 2020 emigriert sind. In Monologform erzählen sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Ausland konfrontiert wurden und warum sie nach Hause zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren wollen. Der Dokumentarfilm soll Jugendlichen dabei helfen, sich eine dezidierte Meinung über die Situation zu bilden.“ 

Eine Studentin, die an dem Treffen teilnahm, erklärte, der Film sei „ziemlich komplex“, es sei „hart gewesen, ihn zu sehen“. „Zu sehen, wie Gleichaltrige sich für die komplett andere Seite entschieden haben und weggegangen sind. Es war wirklich hart, den Film zu schauen. Er lässt einen mit vielen Einsichten und Emotionen zurück, mit der Erkenntnis, dass jeder seinen eigenen Weg hat. Der Dokumentarfilm Tschushoje nebo zeigt, welche Folgen eine falsche Entscheidung nach sich ziehen kann“, resümiert diese disziplinierte Zuschauerin ideologisch korrekt. Ein Link zu den Filmen findet sich auf vielen Internetseiten belarussischer Schulen. 

Wer sich im Ausland einschreibt, ruiniert das Rating seiner Schule 

Pozirk hat mit Shanna gesprochen, deren Sohn gerade die elfte Klasse am Gymnasium abschließt. Auch hier fragt man die Kinder, wo sie studieren wollen. „Außerdem müssen die Eltern der Schule einen merkwürdigen Bericht vorlegen, in dem sie erklären, wo ihr Kind die Sommermonate bis zum Beginn des Schuljahres im September verbringen wird“, erzählt die Mutter des Elftklässlers. Schüler, die sich im Ausland bewerben wollen, verheimlichen das ihr zufolge vor der Schulleitung, aus Angst, man könnte ihnen die Ausreise verweigern. „Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, behaupten sie also, sie würden an die BGU [Staatliche Universität Belarus in Minsk – dek] gehen. In der Klasse meines Sohnes wollen die Kinder in Russland, Japan und Polen studieren, oder an russischen Hochschulen, die Ableger in Belarus haben“, erklärt unsere Gesprächspartnerin. 

Die Lehrkräfte und die Leitung der Gymnasien raten nicht direkt davon ab, ausländische Universitäten zu besuchen, sondern werben stattdessen dafür, dass Belarus die beste Hochschulbildung und das Niveau anderer Länder ein- und überholt hätte. „Dazu muss man sagen, dass die Schulleitung Mitglied der Belaja Rus ist“, erzählt Shanna. Das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich: Im Bildungswesen, und erst recht in Führungspositionen, gibt es nur noch ausgesiebte Kader. „Ein weiteres Totschlagargument der Lehrer und der Schulleitung: Man soll sich nicht im Ausland bewerben, um der Einrichtung und sich selbst nicht zu schaden. Man würde damit das Ansehen des Gymnasiums ruinieren!“, beschwert sich die Mutter des Gymnasiasten. 

Wie man in das „Russische Haus“ gelockt wird 

Lehrerin Natalja beobachtet eine Abwanderung der Jugend weniger nach Europa als vielmehr nach Russland. Sie meint, die Programme der Rossotrudnitschestwo arbeiteten aktiv und mit „sanftem Nachdruck“ daran, talentierte junge Belarussen zum Arbeiten in Russland zu bewegen. So sei Natalja zufolge das Russische Haus Homel aktiv dabei, belarussische Schulabgänger abzuwerben. „Rossotrudnitschestwo führt sehr viele Olympiaden, Wettbewerbe und Exkursionen für belarussische Schüler durch. Die Fahrt nach Russland ist kostenlos, die Belohnung der Gewinner der Olympiaden und Wettbewerbe sind Reisen auf die [im Jahr 2014 annektierte] Krym. Die Kinder fahren auch heute noch dahin, trotz des Kriegs in der Ukraine“, berichtet die Pädagogin. 

Auf der Seite des Russischen Hauses Homel sind in der Tat lauter Bildungsprojekte und Veranstaltungen zu finden. Zum Beispiel Ein Schritt in die Zukunft mit dem Russischen Haus – eine Reihe offener Kurse mit interaktiven Spielen, Tests und Workshops nach dem Atlas der neuen Berufe, der vom Innovationszentrum Skolkowo entwickelt wurde. Das Projekt richtet sich an Schüler der achten und neunten Klassen. Des Weiteren wenden sich die Programme Hallo Russland! und Neue Generation an junge Belarussen. In deren Rahmen sollen sie „russische Großstädte besuchen, die Kultur und Geschichte des Landes kennenlernen, mit Menschen ins Gespräch kommen, an internationalen Foren, Konferenzen, Festivals und Bildungsprojekten teilnehmen“. 

„Bevorzugt werden engagierte junge Leute ausgewählt, die sich bereits in Studium oder Beruf, bei verschiedenen bedeutenden Veranstaltungen, Olympiaden oder Wettbewerben hervorgetan haben. Alle Reisen sind all-inclusive“, versprechen die Organisatoren. Als Bonus gibt es Exkursionen, Seminare, Konzerte und Festivals. Die Vorteile für belarussische Absolventen: Für ein Studium in Russland benötigen sie kein Visum (in Belarus ist es im Moment sehr schwierig, an europäische Visa zu kommen, selbst studentische); es gibt keine Sprachbarriere. Dafür gibt es eine Quote, nach der belarussische Staatsbürger Anspruch auf ein staatlich gefördertes Studium haben. 2024 waren es 1300 Studierende (genauso viele wie im Vorjahr), die Anspruch auf ein Stipendium und einen Platz im Wohnheim hatten. Zudem gibt es an den russischen Universitäten keine obligatorische Zurteilung der Absolventen. 

Einfache Rezepte vom Minister 

Am 17. April äußerte sich Bildungsminister Andrej Iwanez in einem Kommentar gegenüber dem Staatssender Belarus 1 zur Abwanderung junger Menschen ins Ausland. Seiner Meinung nach ist das Rezept dagegen einfach: „Selbstverständlich sollten wir unseren Kindern, unseren Schulkindern und den Eltern unserer Schulkinder von den Errungenschaften unserer Bildung erzählen, denn oft sind wir bescheiden, wir sprechen nicht darüber, wir scheuen uns, sie zu zeigen.“ 

Der Minister ist außerdem der Meinung, dass die Belarussen in Europa eine minderwertige Ausbildung erhalten würden. So würden Absolventen polnischer Universitäten bei ihrer Rückkehr nach Belarus auf Probleme bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse stoßen: Manchmal wären die Curricula oder die Anzahl der Unterrichtsstunden unzureichend. „Eine Überprüfung endete damit, dass nach dem Abschluss an einer polnischen Universität der prozentuale Anteil des absolvierten Programms nur knapp über 50 Prozent unseres Programms betrug. Das können wir schlecht als Hochschulabschluss anerkennen“, sagte Iwanez. Er fügt hinzu, die jungen Leute und deren Eltern würden das Bildungssystem in Belarus mit anderen Augen sehen, sobald ihnen die Fachleute erklären, dass es sich nicht um Voreingenommenheit handelt, sondern schlicht um einen Vergleich der Datenmengen miteinander. 

„Ständige Kontrollen durchführen …“ 

Der Werbeslogan „Studiert in Belarus“ hat jedoch einen wesentlichen Haken, der sich mit dieser Regierung nicht beheben lässt: die totale, unbedingte Ideologisierung des Bildungssystems, die der Hauptgrund dafür ist, dass junge Menschen aus dem Land fliehen. „Wenn Sie immer noch Leute beschäftigen, die unsere Vorgehensweisen und unsere Politik, die Staatsideologie, nicht teilen; wenn Sie die Regimeverweigerer von gestern beschäftigen, was sagt das dann über Sie aus? Eine Frage zum Nachdenken und zur dann Entscheiden“, sagte Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Mitgliedern der Hochschulrektorenkonferenz im Februar 2024. 

„Es sind Ihre Studenten, die wir benebelt von westlichen Werten 2020 auf den Plätzen gesehen haben. Und der Grundstein für viele der Inhalte, die sie auf die Straßen getrieben haben, wurde leider in unseren Hörsälen gelegt“, wandte er sich an die Rektoren. Lukaschenko beklagte, dass die Jugendorganisationen und Ideologen an den Universitäten schlecht arbeiten würden: „Was ein überbordender Bürokratismus! Das gehört alles verschlankt: die Jugendorganisationen, die Gewerkschaften, die Studentenräte usw.!“ Er rief die BRSM auf, „normale, informelle“ Veranstaltungen durchzuführen. 

Ein halbes Jahr später unterzeichnete Bildungsminister Iwanez den 40-seitigen didaktisch-methodologischen Brief Merkmale der Organisation der ideologischen und pädagogischen Arbeit in Einrichtungen der allgemeinen Sekundarbildung für das Schuljahr 2024/2025. Vielleicht wurde Lukaschenkos Kritik ja dort berücksichtigt und der „reinste Bürokratismus“ ausgemerzt? Pozirk hat das Dokument analysiert. 

Eine der ersten Aufgaben lautet, „die bedingungslose Umsetzung des Beschlusses des Vorstands des Bildungsministeriums über die Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit den öffentlichen Organisationen der BRSM und der belarussischen Pionierbewegung BRPO zu gewährleisten“, die Qualität der ideologischen und pädagogischen Arbeit mit Studenten und Arbeitskollektiven zu verbessern und dabei besonderes Augenmerk auf die Stärkung der Staatsideologie zu legen. 

Die Lehrer werden angehalten, die Schüler besser über die Ressourcen eines „konstruktiven Fokus“ zu sensibilisieren und die Lernenden weiter zu einer „respektvollen Haltung gegenüber staatlichen Symbolen“ zu erziehen. Zu diesem Zweck sollen feierliche Veranstaltungen wie das Hissen der Nationalflagge und das Singen der Hymne durchgeführt werden und „eine ständige Kontrolle über den Zustand der staatlichen Symbole in den Bildungseinrichtungen“ erfolgen. Ferner wird vorgeschrieben, die Arbeit an der „Erforschung der Fragen des Genozids am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ fortzusetzen. 

In den Schulen werden „Fahnengruppen“ gebildet, in denen Schüler die Nationalflagge herein- und heraustragen sollen. In dem Methodenbrief werden die Lehrkräfte außerdem aufgefordert, sich intensiver mit diesen Gruppen zu befassen. Weil die Fahnengruppe „anständig“ aussehen soll, müssen die Lehrer „die notwendige Ausrüstung zur Verfügung stellen: Militäruniform (Paradeform), wenn sie das Recht haben, sie zu tragen, oder Businesskleidung in Schwarz und Weiß“. Verboten sind „kurze Hosen, Kniestrümpfe, Sneakers und andere Sportschuhe“. Alles ganz „normal und informell“, so wie Lukaschenko verlangt hat. 

Große und kleine Sticheleien 

2020 hatten sich Studenten vor allem großstädtischer Universitäten dem Protest gegen Wahlfälschungen zugunsten Lukaschenkos und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angeschlossen. Als die Repressionen Massencharakter annahmen, waren viele junge Menschen gezwungen, ins Ausland zu gehen. Als 2022 Russlands umfassende Aggression gegen die Ukraine begann, lösten Gerüchte über eine mögliche Mobilmachung der belarussischen Bevölkerung eine weitere Auswanderungswelle aus. 

Lukaschenko behauptete mehrfach, die jungen Protestierenden seien „mit westlichen Werten gehirngewaschen“. „Wir werden Maßnahmen gegen diejenigen ergreifen, die dorthin [ins Ausland – dek] gegangen sind, um sich ausbilden zu lassen und einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich habe dem Bildungsminister aufgetragen, mit aller Härte vorzugehen. Wenn wir schon säubern, dann richtig. Hast du deinen Abschluss an der EHU [Europäische Geisteswissenschaftliche Universität in Vilnius – dek] gemacht? Dann arbeite halt in Litauen. Mach ruhig, wir kommen schon ohne dich aus“, drohte er im August 2021. 

Das Thema griff er später mehrmals auf. Seinen Worten folgten Taten: Im ganzen Land waren Polnischkurse, Fremdsprachenschulen und der private Sektor der Vorschul- und weiterführenden Bildung insgesamt von massiven Kontrollen und Schließungen betroffen. Als Reaktion darauf wurden belarussische Universitäten aus dem Bologna-Prozess ausgeschlossen, europäische Universitäten stellten ihre Austauschprogramme ein. 

2022 sind die Behörden aus dem bilateralen Abkommen mit Polen über die gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen und -graden in Wissenschaft und Kunst ausgestiegen. Damit nicht genug: 2023 wurde die Zurückstellung von der Armee für Männer, die im Ausland studiert haben, aufgehoben. Man fing an, Schulabgänger zu erfassen, die eine Apostille für die Zulassung an ausländischen Universitäten beantragten, und „Präventivmaßnahmen“ mit ihren Eltern durchzuführen. Doch weder die Schreckensfilme über das ärmliche Dasein im Westen noch die „ideologischen Aktionspläne“ mit dem Herumtragen der rot-grünen Fahne haben sich bisher auf die Statistik der Studienanfänger an ausländischen Hochschulen ausgewirkt. 

Wie drüben 

Nicht nur in Belarus versucht man, Abiturienten an sich zu binden. In der Republik Moldau hat das Bildungsministerium in diesem Frühjahr die Kampagne In Moldawien studieren gestartet. Doch die Methoden sind alles andere als autoritär. Man setzt auf positive Anreize: Dort wurden 350 Millionen Lei [ca. 17,6 Millionen Euro – dek] in die Infrastruktur der Universitäten investiert, es wurden 93 Millionen Lei [ca. 4,7 Millionen Euro – dek] für die Renovierung von Studierendenwohnheimen ausgegeben; es wurden Bildungsprogramme entwickelt, die an die Berufe der Zukunft angepasst sind, einschließlich künstlicher Intelligenz, Animation, Game Design, Ökonometrie, Phytobiotechnologie. 

Ziel der Kampagne ist es, dass sich in der Republik Moldau im Jahr 2025 sechs von zehn Absolventen für eine Universität im Inland entscheiden. Die moldauischen Behörden haben offenbar verstanden, dass die Politik der Peitsche junge Menschen nicht aufhalten wird, aber sie vielleicht auf Zuckerbrot reagieren. Genau so schafft man Voraussetzungen für eine bewusste (anstatt die „richtige“) Wahl, die sich der Staat für seine Absolventen wünschen sollte. 

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Gnose Belarus

Janka Kupala

Vor 80 Jahren starb die Ikone der belarusischen Literatur Janka Kupala (1882–1942). Ob es Selbstmord war oder ob der Geheimdienst beteiligt war, wurde nie richtig aufgeklärt. Seine Werke sind Klassiker, die mit dem Protestsommer von 2020 wieder brandaktuell wurden. Gun-Britt Kohler in einer Gnose über den Nationaldichter Kupala, der mit seinem Werk wie kein anderer für die schwierige Suche der Belarusen nach einem nationalen Selbstverständnis steht.

Gnosen
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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)