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Kommt es in Belarus zu einem neuen Aufstand?

„Ich will dieses Regime brechen!” – Nach seiner überraschenden Freilassung gibt sich der belarussische Oppositionspolitiker Siarhej Zichanouski kämpferisch, so auch im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit.  

Ist der Ehemann von Swjatlana Zichanouskaja, Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung im Exil, in seiner Haltung zu optimistisch? Oder verschafft seine Freilassung der Opposition tatsächlich eine neue Dynamik, vielleicht sogar die Chance auf einen neuen Aufstand in Belarus? Und wie groß sind die Chancen, dass sich die EU und die USA auf eine Annäherung mit dem Lukaschenko-Regime einlassen, auch um die Befreiung der in Haft verbliebenen über 1200 politischen Gefangenen zu erwirken?  

Für das Online-Portal von Radio Svaboda hat der Journalist Yury Drakakhrust mit dem Politologen Andrei Kasakewitsch gesprochen.

Quelle Radio Svaboda

Siarhej Zichanouski (m.) bei einer Kundgebung in Vilnius zusammen mit seiner Frau Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung. / Foto © Radio Svaboda

Svaboda: Sjarhej Zichanouski ist aus dem Gefängnis frei und mit einigen entschlossenen Statements faktisch in die belarussische Politik zurückgekehrt. Was können Sie über die Reaktion der belarussischen Gesellschaft darauf sagen: die Klickzahlen seiner Youtube-Videos, Spendeneinnahmen, wie wurde in den sozialen Netzwerken und in den Medien darüber berichtet, wie reagierte die Staatspropaganda? Und was sagt uns das? 

Andrei Kasakewitsch: Zichanouskis Auftauchen brachte in alle politischen Prozesse eine neue Dynamik, es veränderte die Kommunikation innerhalb der demokratischen Kräfte. Wir beobachten teils ein großes Interesse an seinen Interviews und Äußerungen. Die Reaktion innerhalb von Belarus lässt sich aber nur schwer erfassen. Wir können das weder an den Reaktionen auf Social Media festmachen noch an anderen Parametern. Allerdings hat er dort durchaus ein Publikum. Andere Aktivitäten, wie die Organisation von Kundgebungen, blieben aber eher erfolglos. Dass das Auftauchen eines Anführers in der belarussischen Gesellschaft etwas Nennenswertes auslöst, ist heute ganz klar beschränkt. Ich würde es eher einen neuen Impuls nennen. Dieser kann in einigen Wochen oder Monaten enden, oder zu einer stabilen Kommunikationsbasis werden. Das ist gerade noch nicht absehbar.  

Kann eine einzige Person einen neuen gesellschaftlichen Aufstand auslösen? Kann das Auftauchen eines einzelnen Menschen einen neuen Aufstand ankündigen? 

Das ist nur möglich, wenn diese Person über gewisse Ressourcen verfügt, über belastbare Kommunikationskanäle zur Bevölkerung. Die Zichanouskis hatten 2020 eigene Ressourcen. Wir Analytiker haben das damals nicht erkannt, aber Zichanouski hatte sich durchaus ein gewisses Netzwerk von Mitstreitern aufgebaut. Das Onlineportal Tut.by war damals sehr einflussreich, die unabhängigen Medien verfügten in Belarus über ziemliche Freiheiten. Der Zugang zu diesen Ressourcen erlaubte es, direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Heute ist der Medienbereich sehr stark umgestaltet, die Verbindung zu einem großen Teil des belarussischen Publikums ist verloren gegangen. Ob man sie erneuern kann? Bislang sehen wir das nicht.  

Was Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. 

Ein wichtiger Faktor war auch: Die Menschen spürten damals, dass Veränderungen möglich waren. Sie hatten keine Angst, und vor allem diejenigen, die neu zur Bewegung gestoßen waren, vertrauten darauf, dass der Staat nicht zu brutaler Gewalt greifen würde, dass der Sieg nicht gestohlen werden könne, dass die Massenproteste auf den Straßen automatisch zu Veränderungen führen würden. Jetzt gibt es das alles nicht mehr. Ich denke, die Mehrheit glaubt nicht daran, dass es in nächster Zeit irgendwelche Veränderungen geben könnte, beziehungsweise, dass dafür irgendwelche Hebel existieren.  

Was  Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. Ich denke nicht, dass im Moment irgendwelche Aktionsaufrufe bei der belarussischen Gesellschaft auf Resonanz treffen. Doch Zichanouski kann durchaus wieder Einfluss im Informationsbereich erlangen und eine eigene Zuhörerschaft finden. Hier könnte es eine Nische für ihn geben und er könnte durchaus erfolgreicher als Swjatlana Zichanouskaja werden. Allerdings ist die Gesellschaft jetzt größtenteils demobilisiert. In der Soziologie verwendet man diesen Begriff, um den Zustand nach einem gewissen Aufbruch zu beschreiben, nach einer Periode, in der die Menschen bereit waren, Risiken einzugehen und entschlossen zu handeln.  

Viele Beobachter und Analytiker sprechen eher von Angst, von den Folgen der Einschüchterung, Sie reden über Demobilisierung. 

Demobilisierung ist nicht einfach nur Angst. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass die Bevölkerung nach einer Revolution ermüdet ist. Das passiert sowohl, wenn die Revolution erfolgreich war, als auch im Falle einer Niederlage, egal, ob es Repressionen gibt, oder nicht. Menschen können nicht lange im Zustand der Mobilisierung bleiben, jahre- oder jahrzehntelang. Nach dem Aufstand wenden sie sich schlicht wieder anderen Dingen zu, interessieren sich nicht mehr für Politik und zivilgesellschaftliches Engagement. Das ist ein unvermeidlicher Prozess und wäre in jedem Fall passiert, auch ohne die einschneidenden Repressionen. 

Ein Teil der Gesellschaft ist verängstigt, das ist klar. Besonders betrifft das ein Cluster, das wir unabhängige zivilgesellschaftliche Gemeinschaft nennen, sie existierte in Belarus bis 2020. Die Repressionen gegen diese Gruppe waren besonders stark. Es gibt auch Personengruppen, in denen der Repressionsdruck weniger stark wahrgenommen wird, etwa wenn die Menschen nur unregelmäßig unabhängige belarussische Staatsmedien konsumieren. Für die meisten Menschen sind Ereignisse wie die Massenproteste 2020 etwas Außergewöhnliches, so oder so kehren sie nach einiger Zeit zum gewohnten beruflichen und familiären Alltag zurück, und das ist in Belarus im Grunde in den letzten Jahren passiert. 

Können Zichanouskis Aktivitäten zu verstärkten Reaktionen im Land führen, etwa einer Verschärfung der Repressionen? 

Was kann da schon noch groß verschärft werden?! Die Gruppen der traditionellen Opposition wurden schon sehr intensiv bearbeitet. Natürlich könnte man dazu übergehen, sich Leute für regierungskritische Äußerungen auch in der Raucherecke zu angeln. Aber das hätte einen negativen Nebeneffekt. Das Ausmaß an Repressionen ist in Belarus schon immer mit der außenpolitischen Situation verbunden, wobei der zentrale Faktor die Beziehung zum Westen ist: Besteht die Notwendigkeit, dieses Verhältnis zu verbessern, könnten die Repressionen entschärft werden. Schlechte Beziehungen zum Westen bringen bedeutende Einbußen – wirtschaftlich wie politisch – für die herrschende Macht und bedrohen auf lange Sicht ihre Stabilität. Der Versuch, diese Beziehungen zu verbessern, ist unvereinbar mit einer Verschärfung der Repressionen. Auf einem gewissen Niveau werden sie aber bestehen bleiben, ich sehe in nächster Zeit keine Optionen, die den Machthabern einen völligen Verzicht auf repressive Praktiken erlauben würden. Das Ausmaß kann aber abnehmen. 

Ein wichtiges Ereignis in letzter Zeit war Swjatlana Zichanouskajas Interview mit dem Magazin POLITICO, in dem sie Trump rät, Lukaschenka zu bestrafen, statt zu besänftigen. Die Veröffentlichung führte zu einer hitzigen Diskussion innerhalb der demokratischen Kräfte. Kann man Ihrer Meinung nach erreichen, dass nach Aufhebung der Sanktionen und der Freilassung aller politischen Gefangenen neuerliche Verhaftungen in großem Umfang verhindert werden können? 

Leider gibt es hier nur einen einzigen Mechanismus: die erzwungene Verbesserung der Beziehungen zum Westen. Einen innenpolitischen Impuls gibt es dafür nicht. Allein die wirtschaftliche Situation und die Notwendigkeit, den Einfluss Russlands auszubalancieren, zwingen dazu. Das ist ein altes Problem aller belarussischen Regierungen, das nie wirklich verschwunden ist. Diese erzwungene Reaktivierung der Beziehung zum Westen kann dazu führen, dass die Regierung die Repressionen auf ein Minimum reduzieren muss. So war es auch in der letzten Periode der normalisierten Beziehungen von 2015 bis 2020. 

Anders als jemals zuvor ist der Grund für die hauptsächlichen Sanktionen, für den größten Druck nicht in den politischen Repressionen zu suchen, sondern in der Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine und in Entscheidungen, die sich spürbar auf die Sicherheit der angrenzenden Staaten auswirken. Dazu zählen die „Migrationskrise“, das Auftauchen der Wagner-Truppe in Belarus sowie die Stationierung von Atomwaffen sowie der neuen Mittelstreckenwaffe Oreschnik. Belarus ist zu einer Bedrohung für die Sicherheit in der Region geworden. Genauer gesagt, es wird als Bedrohung der regionalen Sicherheit wahrgenommen, nämlich von Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine. Dieses Problem ist nicht einfach durch innenpolitische Deeskalation zu beheben. Wenn sich in diesen Fragen nichts bewegt, wird es keine merkliche Reduzierung der Sanktionen geben.  

An dieser Stelle stecken die Verhandlungen zwischen der belarussischen Führung und dem Westen in einer Sackgasse. Der einzige Faktor, der wirklich gegen die belarussische Führung spielt, ist die Zeit. Denn das Interesse an den belarussischen politischen Häftlingen wird mit der Zeit sinken, und dann sinkt auch ihr Wert als Ressource im politischen Handel mit dem Westen. 

Im Verlauf des letzten Jahres kamen über dreihundert politische Gefangene frei – ist das ein Ergebnis des politischen Drucks oder der Verhandlungen? 

Das ist natürlich ein Ergebnis des Drucks, allerdings eher ein Ergebnis des Zeitdrucks. Der hauptsächliche Faktor für die Befreiung der Häftlinge ist, dass ihre Haftzeiten enden. Die Zeit reduziert also die Anzahl der Häftlinge. Ein bedeutender Anteil der Begnadigten wäre wenige Monate später freigekommen. Die Logik ist also: Wir müssen sie ohnehin freilassen, also lasst sie uns früher rauslassen und das dann als Begnadigung verkaufen.  

Darüber hinaus ist das Interesse an den belarussischen politischen Gefangenen in den westlichen Staaten zwar nicht gesunken, aber es wächst auch nicht sonderlich. Der Westen ist für ihre Freilassung nicht zu großen strategischen Zugeständnissen bereit. Denn es besteht immer noch das Problem des Krieges und der Sicherheit. Diese Probleme sind dem Westen wichtiger als die Frage nach der Befreiung der belarussischen politischen Gefangenen. Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Man muss auch sagen, dass die Freilassung nicht möglich wäre ohne Verhandlungen, ohne die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der belarussischen Führung und der westlichen Regierungen. Sowohl Druck als auch Verhandlungen haben also ihren Anteil. Der entscheidende Faktor ist jedoch die Zeit. 

Es sieht so aus, als entfernten sich USA und EU in ihrem Ansatz gegenüber Belarus immer mehr voneinander. Gibt es Chancen auf eine Annäherung der Positionen? Kann Trump Vilnius überzeugen, den Transit für belarussisches Kali zu ermöglichen? Oder wird Trump, wie Zichanouski hofft, dass ersehnte Wort sprechen und Lukaschenka daraufhin alle politischen Häftlinge entlassen? 

Ich wiederhole noch einmal – die schmerzhaftesten Sanktionen wurden aufgrund der Beteiligung am Krieg und der Bedrohung der Sicherheitslage erlassen. Diese Probleme bleiben für die europäischen Staaten brennend, in erster Linie für die belarussischen Nachbarn: Polen, Litauen, Lettland, Ukraine. Die USA können davor die Augen verschließen. Trump nimmt sogar den Krieg in der Ukraine nicht als bedeutsam für die Vereinigten Staaten wahr. Deshalb können sie auch leicht Kontakte zur belarussischen Führung herstellen und Verhandlungen zu einem breiten Themenspektrum führen. Dass sich die europäische Position entscheidend verändert, sehe ich allerdings nur dann, wenn es Fortschritte gibt, die den Krieg und der Sicherheit betreffen. Allein die Freilassung aller politischen Gefangenen würde den Europäern nicht genügen.  

Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Aber werden sie die wahrnehmen? 

Für die Europäer ist Belarus ein Nachbarland, von dem sehr konkrete Bedrohungen ausgehen. Vielleicht sind viele dieser Bedrohungen gar nicht real, nur imaginiert, und vielleicht haben die europäischen Eliten sie sich ausgedacht. Aber für sie ist das nun mal die Realität, und es ist die Realität für ihre Wähler. Deshalb können sie hier nicht so einfach Zugeständnisse machen, nur damit alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Jedenfalls in nächster Zeit, solange keine anderen einschneidenden Veränderungen geschehen. Kann Trump sie überzeugen oder zwingen? Überzeugen kann er sie sicher nicht, weil die USA einen Großteil ihrer moralischen Autorität auf dem internationalen Parkett verloren haben. Früher konnten amerikanische Präsidenten auf dieser Grundlage in Europa noch etwas erreichen.  

Kann Trump sie zwingen? Die Erfahrung zeigt, dass er Druck ausübt, bis er starken Widerstand spürt. Wenn Polen und Litauen eine konsequente Haltung einnehmen, glaube ich nicht, dass die Amerikaner sie wegen dieser belarussischen Frage stark unter Druck setzen werden. Denn für die Amerikaner ist diese Frage völlig nebensächlich. Die Position der europäischen Staaten wird wichtiger sein als jene der USA, weil sie viel stärker motiviert sind und sich von Belarus viel stärker bedroht fühlen als die USA.  

Bei einer Kundgebung in Warschau erklärte Zichanouski, dass Trump die belarussischen politischen Gefangenen mit einem Wort befreien könne. Zichanouski meint, dass Trump gemeinsam mit Europa Lukaschenka so in die Enge treiben könne, dass letzterer Angst bekommt und alle freilässt. Könnte Trump das wirklich? Im Iran hat er kürzlich gezeigt, dass er auch zu entschiedenen Worten und entschlossenen Taten fähig ist. 

Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Ich denke, würden sie all diese Instrumente nutzen, könnten sie erreichen, dass die belarussische Führung alle politischen Gefangenen freilässt, die noch hinter Gittern sind. Allerdings sehe ich bei den Amerikanern keine Motivation, das zu tun. Diese Instrumente einzusetzen, würde für die Vereinigten Staaten nämlich auch Kosten bedeuten. Es kann die Beziehungen zwischen USA und Russland belasten, das Image der USA in der Welt beschädigen. Die Vereinigten Staaten sind wirklich ein riesiges Land mit riesigen Möglichkeiten, auf jedes Land der Welt Druck auszuüben. Aber werden sie es tun? 

Mir fiel dazu eine Metapher ein: Beim Schach können Dame, Springer, Türme und Läufer einen Bauern am Rande des Spielfelds jederzeit „fressen“ – weil sie viel stärker sind. Aber der Sinn des Spieles besteht nicht darin, irgendeinen Bauern am Brettrand zu schlagen. Und deshalb kann dieser Bauer auch bis zum Ende des Spiels überleben – weil er eben nicht die wichtigste Figur in diesem Spiel ist. 

Ja, ich stimme völlig zu, das ist eine Fortführung meines Gedankens. Es ist wenig wahrscheinlich, dass eine Gewinn-Verlust-Rechnung die Amerikaner auf die Idee bringt, die ganze Macht der USA einzusetzen, um die belarussischen Gefangenen zu befreien. Belarus ist für die USA, besonders für die Leute, die dort jetzt an die Macht gekommen sind, ein Land der Peripherie. Selbst die EU und Ukraine sind für sie nicht sonderlich bedeutend und freundschaftlich konnotiert. Was soll man da bitte schön über Belarus sagen? 

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Swetlana Tichanowskaja

„Serjoscha, ich liebe dich sehr. Ich mache das nur für dich und die Menschen, die an dich glauben.“ Das sagte Swetlana Tichanowskaja vor Reportern, als sie aus dem Minsker Büro der Zentralen Wahlkommission trat, in der sie wenige Minuten zuvor die Bestätigung ihrer Präsidentschaftskandidatur ausgehändigt bekam. Zu diesem Zeitpunkt saß ihr Mann Sergej Tichanowski bereits seit mehr als zwei Wochen in Haft – er ist bis heute nicht frei. Die belarussischen Behörden hatten dem bekannten Blogger und Gründer des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben die Kandidatur zu den Wahlen verweigert. Daraufhin hatte seine seine Frau Swetlana beschlossen, an seine Stelle zu treten.

Zurückhaltend, naiv, unerfahren: Das dachten dann wohl die meisten Belarussen, als sie Swetlana Tichanowskaja 2020 zum ersten Mal sahen, nur drei Monate vor den Wahlen vom 9. August. Seitdem ist Tichanowskaja zu einer erfahrenen Politikerin geworden, die schon jetzt mehr Staatsmänner von Weltrang getroffen hat als Machthaber Alexander Lukaschenko in seiner ganzen Laufbahn.

Swetlana Tichanowskaja und das sie stützende Wahlbündnis trat mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen / Foto © Jindřich Nosek (NoJin) unter CC BY-SA 4.0

Alexander Lukaschenkos strategischer Fehler und der Beginn von Swetlana Tichanowskajas neuem Leben fielen auf den 14. Juli 2020: Tichanowskaja wurde als einzige von drei aussichtsreichen Oppositionskandidaten zum Wahlkampf zugelassen. Mit dieser Zulassung wollte das Regime den Eindruck fairer Wahlen erwecken. Damals behauptete Lukaschenko noch, dass die belarussische Gesellschaft sowieso nicht „reif“ genug sei, um eine Frau ins Präsidentenamt zu heben. Ein ehrlicher politischer Wettstreit gegen männliche Kandidaten wäre ihm höchstwahrscheinlich zu risikoreich gewesen. Daher hatten die Behörden Sergej Tichanowski und Viktor Babariko präventiv festgenommen, außerdem Waleri Zepkalo die Kandidatur verweigert. Wenig später sollte sich herausstellen, wie bereit die belarussische Gesellschaft war, einer Frau das Vertrauen zu schenken.

Drohungen, erzwungenes Video und Tausende Anhänger

Tichanowskaja verkündete zwei Tage nach ihrer Registrierung als Kandidatin, sich mit Babarikos Kampagnenleiterin und Zepkalos Ehefrau zusammenzuschließen. Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo wurden als die „drei Grazien“ bezeichnet, und große Teile der Gesellschaft begannen, sie als Leitfiguren für einen potentiellen Wandel  anzusehen. Von Tichanowskaja erfuhren die Belarussen im Zuge des Wahlkampfs die Geschichte einer Hausfrau und Mutter, die eine Projektionsfläche für viele belarussische Frauen bot: Sie wurde in der Kleinstadt Mikaschewitschi geboren und hatte an der Pädagogischen Universität von Mosyr Fremdsprachen studiert. Später arbeitete sie in Gomel als Übersetzerin für Englisch und heiratete im Jahr 2005. Sie und ihr Mann bekamen zwei Kinder. Weil ihr Sohn mit einer Hörbehinderung geboren wurde, gab sie ihre Arbeit auf, um für ihn da zu sein.  

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen  hunderttausende Menschen in ganz Belarus. Schon damals war zu erkennen, dass Tichanowskaja – einmal ihrem Mann zuliebe in die Welt der Politik eingetaucht und von seinen Wählern unterstützt – ihr Projekt nicht auf halbem Wege fallen lassen würde. Auch dann nicht, als sie im Zuge der erfolgreichen Wahlkampagne einen Anruf von einer unbekannten Nummer erhielt: Der Anrufer drohte ihr mit Verhaftung und damit, ihr die Kinder wegzunehmen. Also nahm die Großmutter die Kinder in Obhut und reiste mit ihnen nach Litauen aus. Sie selbst setzte ihren Wahlkampf fort. Das Wahlbündnis um Tichanowskaja trat dabei mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen.

Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse am 9. August 2020 kam es in Belarus noch am selben Abend zu Massenprotesten, Verhaftungen und Polizeigewalt: Der Unmut über das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis hatte landesweite Proteste ausgelöst. Berechnungen zu den Stimmabgaben, die Aktivisten vorgenommen haben, legten nahe, dass das Wahlbündnis um Tichanowskaja ziemlich wahrscheinlich mindestens den zweiten Wahlgang erreicht hatte, was den offiziell verkündeten Zahlen von 9,9 Prozent diametral entgegenstand1. Die Zentrale Wahlkommission erklärte, mehr als 80 Prozent der Stimmen seien an Lukaschenko gegangen.

Für Tichanowskaja brachte der nächste Tag endgültige Ernüchterung. Als sie das Wahlergebnis bei der Zentralen Wahlkommission in Minsk anfechten wollte, kehrte sie von dort nicht wieder zurück. Nachdem litauische Behörden tags darauf angaben, dass sie sich in Litauen aufhalte, tauchten zwei Videos auf: Darin rief eine verängstigte Tichanowskaja die Belarussen dazu auf, nicht mehr auf die Straße zu gehen, und erklärte, das Land  verlassen zu haben. Sie begründete das mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder2. Später wurde bekannt, dass mindestens eines dieser Videos unter dem Druck des belarussischen Geheimdienstes KGB entstanden war3.
Zehn Tage später gab Tichanowskaja in Litauen ihre erste Pressekonferenz aus dem Exil.

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen hunderttausende Menschen in ganz Belarus / Foto © Nadia Buzhan

Ein Treffen mit Biden – „Mehr als ein Foto auf Twitter“

Ihr erster wichtiger politischer Schritt im Exil war es, dem Regime ein symbolisches Volksultimatum zu stellen: Sie forderte Lukaschenko auf zurückzutreten, zudem alle politischen Gefangenen freizulassen und die Gewalt gegen die Protestierenden zu beenden. Andernfalls drohe ein Generalstreik – zu dem es im Oktober 2020 tatsächlich kam: Studierende, Ärzte, Unternehmer, Angestellte und Arbeiter der mächtigen Staatsbetriebe schlossen sich dem an. Allerdings erreichte der Streik nicht die gewünschten Ausmaße. Auch weil es der Staatsmacht gelang, die Welle des Ungehorsams und den Protestwillen mit brutalen Festnahmen und Kündigungen zu brechen und einzuhegen. Daher war der Streik relativ schnell beendet, und weitere Versuche, solche Streiks zu organisieren, blieben auch später erfolglos.  

Tichanowskaja und ihr Team begannen vom Exil aus, international politische Aufmerksamkeit für die belarussische Demokratiebewegung zu schaffen, indem sie zahlreiche Staatsoberhäupter westlicher Länder traf, darunter Emmanuel Macron, Angela Merkel, Boris Johnson und Joe Biden. Sie wurde zu einer ernst zunehmenden Stimme für ihr Land. Der Politologe Artyom Shraibman bemerkte damals zu Tichanowskajas Treffen mit Biden: „Ein solches Symbol auf [Präsidenten]Ebene ist mehr als ein Foto auf Twitter. Für die amerikanischen Bürokraten ist das ein starkes Signal.“ Zum Vergleich: Lukaschenko hat in den vergangenen zwei Jahren nur Putin, staatliche Amtsträger aus Venezuela und Staatsführer aus der Einflusssphäre der OVKS getroffen.

Diplomatische Erfolge im Exil

Nach den gefälschten Wahlen hatte die westliche Diplomatie Lukaschenko deutlich zu verstehen gegeben, dass Verhandlungen erst nach einem angemessenen Dialog mit der Opposition, Neuwahlen und der Freilassung politischer Gefangener möglich seien.

Unterdessen konnte Tichanowskaja nach nur wenigen Monaten in Litauen wichtige diplomatische Erfolge erzielen: Das EU-Parlament und der US-Kongress erkannten den auf ihre Initiative hin gegründeten Koordinationsrat als legitime Vertretung des belarussischen Volkes an. Im Sommer 2021 wurde ihrem Büro von der litauischen Regierung der Diplomatenstatus verliehen. Im Februar 2022 kündigte sie die Bildung einer Exilregierung an.
Dass Tichanowskaja durch die westliche Gemeinschaft so vielseitige Unterstützung erhielt, hat ihre Anerkennung erheblich gesteigert, auch bei den Belarussen im Inland.

Zum ersten Mal seit Langem hat auch die belarussische Diaspora eine angesehene moderne Führungspersönlichkeit. Swetlana Tichanowskaja und ihr Team kommunizieren regelmäßig mit Vertretern der belarussischen Diaspora in aller Welt, etwa in den von ihr eingerichteten Volksbotschaften, die als informelle Auslandsvertretungen der Belarussen fungieren. Sie persönlich nimmt an Demonstrationen von Belarussen im Ausland teil und unterstützt Familien von politischen Gefangenen.
Der letzte führende Politiker der Diaspora war Sjanon Pasnjak, ein ehemaliger Abgeordneter des belarussischen Obersten Sowjets, der seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in Belarus lebt und Vorsitzender der ultrakonservativen christlichen Partei BNF ist. Für viele Belarussen, die schon lange im Ausland sind, ist er bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Der Großteil der belarussischen Diaspora, die seit 2020 weltweit noch einmal um mindestens 100.000 Menschen gewachsen ist, dürfte jedoch inzwischen Tichanowskaja anhängen, auch, weil sie für eine neue Generation steht.

Gleichzeitig droht den Exilpolitikern angesichts der harten politischen Repressionen ein Bedeutungsverlust bei den Menschen in Belarus selbst: Laut einer unabhängigen Umfrage unter Belarussen, die den Protest unterstützen, vertrauen zwar 85 Prozent der Befragten Tichanowskaja, im Februar 2022 hätten jedoch nur 19 Prozent für sie gestimmt. Der beliebteste Oppositionspolitiker ist nach wie vor Viktor Babariko, den 45 Prozent der Befragten wählen würden.

Wobei die Unterstützung für Tichanowskaja seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder leicht angestiegen ist. Ihr Team leistet unter anderem humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und verfolgt die Bewegung von russischem Militärgerät auf dem Territorium von Belarus.
Dabei verfügt sie nachweislich über Wirkmacht: Als Tichanowskaja am 27. Februar, dem Tag des umstrittenen Verfassungsreferendums, dazu aufrief, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, kam es in Belarus zu zahlreichen Protesten, bei denen mindestens 500 Menschen festgenommen wurden, die meisten in Minsk.

Kritiker in den oppositionellen Reihen

Innerhalb der belarussischen Opposition wurden immer wieder auch kritische Stimmen laut, die ihr mangelnde politische Kompetenz, eine unklare Position und umstrittene politische Entscheidungen vorwarfen, darunter übertriebenen Optimismus und eine viel zu konkrete Ankündigung eines Siegs über das Regime – was der bekannte Philosoph Wladimir Mazkewitsch mit den Worten quittierte: „Im Herbst haben Sie geschrien, das Regime würde bis Weihnachten oder Neujahr fallen. Es ist aber nicht gefallen, und die Menschen, die darauf gehofft haben, sind jetzt verzweifelt.“ Zu wenig strategisches Denken, um auch die Unentschlossenen anzusprechen, kritisierte Politologe Andrej Kasakewitsch und befand, es brauche mehr als mit politischen Statements in den sozialen Medien „viral“ zu gehen.
Eine der ersten öffentlichen Äußerungen, die Tichanowskajas Glaubwürdigkeit vorübergehend ernsthaft untergrub, war ein Interview mit dem russischen Wirtschaftsmedium RBK im September 2020, kurz nach ihrer Emigration. Darin bezeichnete sie Putin als „weisen Regenten“. Später rechtfertigte sie ihre Aussage mit mangelnder Erfahrung – der Zweck des Interviews sei gewesen, Putin dazu anzuhalten, Lukaschenko nicht länger zu unterstützen.

Tichanowskaja drohen bis zu 59 Jahre Haft, wenn nicht die Todesstrafe

Entgegen Lukaschenkos Behauptung, die belarussische Gesellschaft sei für eine Frau an der Spitze nicht reif, haben die Belarussen mit Swetlana Tichanowskaja nicht nur eine wenig bekannte Frau groß gemacht, sondern sehen in ihr auch die Verkörperung einer Ära der Freiheit, die allerdings alles andere als nahe scheint. Tichanowskaja wurde zum Symbol dieses Kampfes, was trotz aller Kritik nur wenige bestreiten. Oder, wie es Ales Santozki in einer Analyse für Nascha Niwa ausdrückte: „Dass wir jetzt das Büro von Tichanowskaja und andere organisierte Strukturen mit stabilen Kontakten zu den politischen Eliten westlicher Länder haben, ist tatsächlich ein großer Vorteil für uns. Denn das verleiht Belarus abseits von Lukaschenko politische Subjekthaftigkeit. Und wenn die Zeit der Entscheidung über die Zukunft der gesamten Region kommt, kann das einen großen Unterschied machen.“

Am 14. Dezember 2021 war Tichanowskajas Ehemann Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Sie habe keine Hoffnungen gehegt, dass er vor einem Machtwechsel in Belarus freikommen würde, kommentierte sie das Urteil am Rande einer Sitzung mit Parlamentsabgeordneten, zu der sie an diesem Tag in Schweden war4. Für sie selbst ist eine Rückkehr in ihr Heimatland unter diesen Bedingungen unwahrscheinlich. Aktuell laufen offiziell mindestens sechs Strafverfahren gegen sie (unter anderem wegen „Gründung einer extremistischen Vereinigung“, „Aufruf zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ und „Vorbereitung eines terroristischen Akts“). Am 6. März 2023 wurde sie in Abwesenheit von einem Minsker Gericht zu 15 Jahren Straflager verurteilt. 


1.Die Aktivisten haben die Wahllokale zugrunde gelegt, in denen Swetlana Tichanowskaja offiziell gewonnen hatte. Demnach erreichte sie in knapp 200 der Wahllokale eine Stimmenmehrheit von rund 57 Prozent, während ihr laut dieser offiziellen Zahlen zugleich in fast 4500 Wahllokalen angeblich nur 3 Prozent der Stimmen zugekommen sein sollen. Diesereklatante Widerspruch deutet auf massive Wahlfälschung hin, vgl. Itogowy ottschet o wyborach Presidenta Respubliki Belarus (Po dannym platform «Golos», «Subr» i soobschtschestwa «Tschestnyje ljudi»)
2.vgl.: currenttime.tv: Tichanovskaja zapisala dva videoobraščenija. V odnom ona govorit o detjach, vo vtorom prosit ne vychodit' na ulicy 
3.vgl.: mediazona.by: Belarus' posle vyborov. Den' tretij  
4.Die Autorin nahm an dieser Sitzung als Vertreterin der belarussischen Diaspora aus Schweden teil. 
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