Seit dem Jahr 2020 ist nichts mehr, wie es war in Belarus. Das Regime von Alexander Lukaschenko reagierte auf die historischen Massenproteste mit einer Brutalität, die selbst für belarussische Verhältnisse eine neue Dimension erreichte. Rund 60.000 Menschen wurden festgenommen, über 2000 NGOs und Parteien liquidiert und verboten, immer noch befinden sich fast 1200 politische Gefangene in den Gefängnissen und Lagern des Regimes, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Bis zu 600.000 Menschen flüchteten aus ihrer Heimat. Noch immer fahndet der KGB nach Protestteilnehmern, fast täglich kommt es zu Festnahmen.
Warum sind viele trotz der brutalen Staatsgewalt im Land geblieben? Wie lebt man unter einem derart repressiven Regime? Wie blicken die Menschen auf die Proteste von 2020? Welche Hoffnungen haben sie? Die Journalistin Mascha Rodé hat in Zusammenarbeit mit belarussischen Kollegen und Kolleginnen vor Ort mit vier Protestteilnehmern gesprochen.
Recherche und Umsetzung des Projekts wurden von der Marion Dönhoff-Stiftung unterstützt. dekoder veröffentlicht die Interviews, die seltene Einblicke in das Seelenleben der Menschen in Belarus und in die Lage im Land selbst zulassen, in zwei Teilen.
„Du passt dich an und lebst hier. Oder du gehst weg, wenn du nicht bereit bist, dich damit abzufinden”
Iwan – während der Proteste Teenager, heute 22 Jahre alt.
Kannst du dich an 2020 erinnern? Mir scheint, dass viele Schüler damals die Proteste anders wahrgenommen haben als Erwachsene. Für sie ist das alles jetzt eher abstrakt. Als wären die Proteste nicht ihre eigene Geschichte. Sie kommen mit all dem gut klar. Siehst du das auch so?
Das hat viel mit der emotionalen Reife zu tun, die jeder zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt erlangt. Ich bin früh erwachsen geworden und habe bereits mit 16 Jahren realisiert, dass etwas in unserem Land nicht stimmt. Darum haben mich die Ereignisse von 2020 nicht enorm überrascht. Gewundert habe ich mich allerdings, wie das Ganze ausgegangen ist. Ich dachte 2020, da würde das Schlimmste passieren. Doch dann kam das Jahr 2022 und mir wurde klar, dass es im Leben noch viel schlimmere Erschütterungen gibt.
Ich kenne viele, die das Land verlassen haben. Mindestens zehn aus meinem Bekanntenkreis. Ein solch erwachsenes Leben zu führen, dazu war ich nicht bereit, darum bin ich nicht weggegangen. Ich habe beschlossen, zunächst in Belarus zu bleiben und zu versuchen, hier etwas zu erreichen, hier all mein Potential zu investieren. Und erst später auszuwandern.
Hattest du darüber nachgedacht, das Land zu verlassen?
Ich denke immer wieder daran. Früher waren die Ereignisse noch frisch in Erinnerung, alles hat mich getriggert und überall sah ich reale Gefahren. Mit der Zeit verblassen die schlimmen Erinnerungen und werden weniger präsent. Doch dann wird immer wieder jemand verhaftet, den zu kennst. Oder ein Unternehmen wird geschlossen. Und du denkst nur: Oh oh, halt, stopp, alles geht weiter, es ist keineswegs vorbei. Du fragst dich: Sollte ich vielleicht doch weggehen? Vielleicht ist es sinnlos, hier deine Zukunft aufzubauen. Wozu mache ich hier meine Ausbildung oder baue ein Unternehmen auf, wenn das jeden Moment einfach vorbei sein kann? Ich wache eines Tages auf, und alle meine Bemühungen sind zunichte gemacht. Vielleicht gibt es keinen Anlass, aber da ist diese Sorge, die man ständig spürt.
Belarus komplett abschreiben, das möchte ich nicht.
Privates Unternehmertum wird bei uns Stück für Stück abgewürgt. Die Tendenz geht dahin, so viele Bürger wie möglich in staatlichen Institutionen oder Fabriken zu beschäftigen. Um sie besser zu kontrollieren zu können und sie abhängiger vom Staat zu machen. Denn wie sich gezeigt hat, fangen Menschen, die es sich leisten können, am Morgen nicht zur Arbeit zu gehen, an, sich für Dinge zu interessieren, die jenseits vom täglich Brot oder Stück Fleisch liegen. Wenn ein Angestellter nicht ein Haufen Kredite abzahlen und nicht für eine schwangere Frau und fünf Kinder sorgen muss, kann er sagen: Wissen Sie was, Herr Chef, ich kündige. Solche Menschen sind immer unbequem, man muss ihre Meinung berücksichtigen.
Bist du so ein Mensch?
Ich versuche zumindest, unabhängig zu sein. Meiner Ansicht nach ist es das Wichtigste im Leben. Ein Sklave sein – das ist nicht der beste Vibe fürs Leben, finde ich. Mir liegt er jedenfalls nicht.
Was hält dich hier fest?
Leider, man kann aber auch sagen, zum Glück, habe ich hier nette Menschen kennengelernt. Mich halten die Menschen fest, die Natur, die Heimatliebe. Das klingt pathetisch. Aber ich war bereits im Ausland und weiß, wie es in anderen Ländern aussieht. Mir ist klar, dass es nirgends ein perfektes Leben gibt. Alles beginnt mit dir selbst. Belarus komplett abschreiben, das möchte ich nicht.
Hattest du im Jahr 2020 das Gefühl, dass alles gelingen könnte?
Menschen legen es immer darauf an, das Beste zu hoffen. Objektiv gesehen, hatten wir aber von Anfang an keine Chance. Ich wollte damals Veränderungen im Land und habe meine Unterschrift für Babariko gesetzt. Nicht für Sergei Tichanowski, da mir seine radikale Haltung nicht gefallen hat. Ich mochte eher den cleveren Ansatz von Babariko. Er war offen für eine Kooperation mit Russland, allerdings für eine gerechtere und gleichberechtigte. Und er hat gleichzeitig den Dialog mit dem Westen angestrebt.
Wenn ich damals aber mehr Ahnung von den historischen Prozessen in Russland und in unseren Ländern in den letzten 300 Jahren gehabt hätte, hätte ich Babariko vermutlich keine Unterschrift gegeben. Denn eine intensivere Annäherung an Russland, die ist unvermeidlich. Russland hat, wie jedes Imperium, eine Einflusszone. Darum war der Kriegsbeginn im Jahr 2022 kein Schock für Menschen, die die Prozesse seit längerem beobachtet hatten. Es war eine neue Etappe.
Warum glaubst du das?
Die Belarussen sind friedvolle und ruhigere Menschen, für uns ist es nicht so wichtig, für den eigenen Standpunkt zu kämpfen. Die Ukrainer sind anders, sie sind ein stolzes und eigenwilliges Volk, das es leider nun voll abbekommen hat. Sie werden zum Opfer im Kampf zwischen zwei Hemisphären, dem globalen Osten und globalen Westen.
Könnten wir an ihrer Stelle stehen?
Wenn wir das gleiche Temperament hätten, ja. Wir sind leider, oder zum Glück, anders. Man kann uns als listiger oder als eingeschüchterter, schwächer bezeichnen. Aber der Großteil unserer Bevölkerung sind nun mal keine Kämpfer. Darum wurde Belarus nicht zum Schauplatz des Kampfes zwischen den zwei Welten.
Es gibt hierzulande viele Menschen, für die Russland näher ist als der Westen. Besonders im Osten von Belarus. Viele sehen vor allem im Privaten ihr Glück. Es juckt sie nicht, in welchem System sie leben. Für sie ist das Wichtigste, dass sie in Ruhe gelassen, ihr Geld nicht von den Konten eingezogen und ihre Autos nicht beschlagnahmt werden.
Triffst du oft solche Menschen?
Ja, es gibt sehr viele davon. Gleichzeitig gibt es auch eine beträchtliche Anzahl Belarussen, die sich nicht nur egoistisch um ihr privates Glück kümmern, sondern auch um die Geschichte, um das Schicksal ihres Landes. Für sie ist es wichtig, dass wir Belarussen ein unabhängiges Volk sind.
Grab von Roman Bordarenko, des auf dem Platz des Wandels (Ploschtscha Peremen) getöteten Aktivisten. Anlässlich von Raduniza, dem Tag des Totengedenkens am zweiten Dienstag nach Ostern, geschmückt mit weißen und roten Kunstblumen. Das Grab wurde an diesem Tag von Zivilpolizisten bewacht, man hatte Angst sich zu nähern, da es schien, man würde sofort festgenommen. Dennoch tauchten Blumen auf. Kurz darauf wurde die improvisierte Gedenkstelle entfernt, April 2023 / Foto © privat
Verfolgst du bestimmte Überlebensregeln?
Klar, ich habe solche Regeln. Wenn du in Belarus lebst und mit etwas nicht einverstanden bist, passt du dich entweder an oder du verlässt das Land. Es gibt diese zwei Möglichkeiten. Sich anpassen bedeutet, dass du deine Meinung für dich behältst. Wenn du ein Problem damit hast, gehst du weg, wie viele Belarussen es getan haben. Doch einige sind hier geblieben, zum Beispiel, wegen ihrer kranken Angehörigen. Warum sollen sie ihre Eltern allein lassen und weggehen, wenn Belarus ihr Zuhause ist? Sie haben das Recht so zu denken. Keiner kann ihnen einen Vorwurf machen und vorhalten, dass die echten Belarussen weggefahren seien und nur die schlechten bleiben würden.
Findest du diese Rhetorik nicht okay?
Ich mag diese Rhetorik nicht. Ich kenne zum Beispiel viele Ärzte, die geblieben sind, um für ihre Patienten da zu sein. Soll ein guter Arzt aus einem regionalen Krankenhaus weggehen, um jemandem etwas zu beweisen? Er rettet täglich Leben, im Unterschied zu euch, die ihr weg seid und euren Protest vom Ausland aus weiter manifestiert. Mehr macht ihr für dieses Land nicht. Dagegen gibt es Menschen, die hier jeden Tag „an der Front“ sind und andere Menschen retten. Man darf ihnen nicht vorwerfen, dass sie in Belarus geblieben sind. Ich teile nicht die Meinung mancher radikalen Oppositionellen, dass alle Belarus verlassen sollen und das Land krepieren soll.
Ich habe großes Mitleid mit den Menschen, die gelitten haben oder sogar gestorben sind.
Wenn im Jahr 2020 alles geklappt hätte, hätten wir möglicherweise die gleiche Situation wie in der Ukraine. Oder vielleicht wäre bei uns alles gut gelaufen. Wir wissen es nicht. Hätte es sich gelohnt, 100.000 Opfer in Kauf zu nehmen, um ein unabhängiger Staat zu werden? Oder 30.000? Seid ihr bereit, mit dem Leben eurer Mitbürger, eurer Angehörigen, oder auch mit ihrem Eigentum dafür zu bezahlen? Diese Frage muss man sich ehrlich beantworten. Wenn die Antwort „nein“ lautet, dann habt ihr kein Recht, Vorwürfe an die anderen zu machen. Der Preis kann sehr hoch sein. So hoch, dass es wahrscheinlich besser wäre, wenn nichts anders wäre, als es war.
Meinst du also, dass es besser gewesen wäre, gar nicht erst etwas zu versuchen?
Nein, ich sage, dass man es auf jeden Fall zeigen soll, wenn man nicht einverstanden ist. Nur haben die Menschen nicht erwartet, dass es zu solchen Ereignissen führen würde. Keiner hat damit gerechnet, dass die Verfolgung so hart wird. Der Sicherheitsapparat hat grünes Licht für Repressionen ohne jegliche Einschränkungen bekommen.
Ich habe großes Mitleid mit den Menschen, die gelitten haben oder sogar gestorben sind. Die in den Gefängnissen zugrunde gehen. Manche haben lange Haftstraffen bekommen, ihr Leben ist zerstört. Und das nur, weil sie gesagt haben, dass sie nicht einverstanden sind. Und leider wird dir klar, dass du jederzeit an ihrer Stelle sein könntest. Selbst wenn du jetzt mit allem mitgehen kannst, aber in Zukunft wagst, etwas zu kritisieren, dann kann es dir genauso ergehen. Darüber musst du dir im Klaren sein, wenn du hier lebst. Du musst dich an diese Lebensbedingungen anpassen. Du passt dich an und lebst hier. Oder du gehst weg, wenn du nicht bereit bist, dich damit abzufinden.
„Hierzulande gibt es viele Mensche, die glauben, mit ihrer Einstellung allein oder in der Minderheit zu sein”
Marina – Mutter von vier Kindern; war wegen der Protestteilnahme im Gefängnis, 42 Jahre alt.
Oktjabrskaja Ploschtschad (Oktoberplatz) in Minsk kurz vor der 7. Allbelarussischen Volksversammlung, April 2024 / Foto © privat
Was muss man in Belarus als Regimegegner berücksichtigen, um im Land zu überleben? Der Druck ist gewachsen. Was hat sich in deinem Verhalten seit 2020 verändert?
Na ja, ich trage noch immer weiß-rote Kleidung. Mir ist klar, dass das ein Risiko birgt. Meine Bekannten fragen mich öfters, „Machst du das mit Absicht?“. Ich entgegne: „Ja, mit Absicht.“ Aber ein rot-weiß-rotes Bändchen sichtbar zu tragen, das wage ich nicht. Für ein rot-weiß-rotes Bändchen ohne Muster kann man im Gefängnis landen. Wenn ein Muster darauf ist, geht das aber wiederum.
Warum? Was ist der Unterschied?
Für ein weiß-rot-weißes Bändchen riskiert man ein Strafverfahren. Ein Bändchen mit Ornament ist aber nicht direkt verboten, obwohl es natürlich auch ein Zeichen ist. Wenn man mich fragt „Hast du keine Angst, mit diesem Outfit auf die Straße zu gehen?“, sage ich: „Was ist das Problem? Ich habe nunmal einen weißen Rock und eine weiße Bluse. Und dazu passen eben die roten Sneakers.“
Warum ist es dir wichtig, dich so zu kleiden? Deine Bekannten sagen dir ja nicht umsonst, dass es ein Risiko ist.
Hierzulande gibt es viele Mensche, die glauben, mit ihrer Einstellung allein oder in der Minderheit zu sein. Sie haben niemanden in ihrer Umgebung, der ihre Meinung teilt. Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass sie eben nicht allein sind. Ähnlich wie in den Eltern-Chats in der Schule meiner Kinder, ich schreibe dort auf Belarussisch und spreche Belarussisch bei den Elternabenden. Oft kommen zu mir danach andere Eltern und sagen: Wir sprechen auch Belarussisch, wir haben Chats, wo wir uns nur auf Belarussisch austauschen. Sie sprechen mich zwar nur leise an, aber sie sagen, dass sie sich nicht mehr allein fühlen. Ich denke, dass ich anderen durch meine Kleidung ein Hoffnungszeichen gebe, dass es noch immer Menschen mit unseren Ansichten in diesem Land gibt, wir sind nicht weg und wir sind mehr als eine Hand voll.
Für unsere Enkel wird es wichtig sein zu wissen, dass wir nicht nur wir schweigend herumgesessen haben.
Hast du in diesen fünf Jahren immer damit gerechnet, dass man dich verhaftet?
Es gab mehrere Verhaftungswellen, bei denen Menschen aus meinem engeren Bekanntenkreis betroffen waren. Ich wusste, dass mein Kontakt in ihren Handys gespeichert ist. Ich habe mich schon gefragt, was ist, wenn die Ermittler alle Kontakte der Reihe nach prüfen. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass wir alle festgenommen werden. Es haben so viele Menschen protestiert! Sie alle zu identifizieren, ist gar nicht möglich. Nicht alle Teilnehmer der Proteste sind auf den Fotos zu sehen, manche waren vorsichtig und haben damals schon Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
Hast du all deine Fotos von den Protestmärschen gelöscht oder versteckst du sie noch?
Manches habe ich gelöscht, manches versteckt, manches liegt in der Cloud. Ich glaube, oder genau gesagt hoffe ich, dass es irgendwann möglich sein wird, all diese Fotos rauszuholen. Vielleicht nicht wir, aber unsere Kinder werden unseren Enkeln erzählen, was hier passiert ist. Ich denke, dass es für unsere Enkel wichtig sein wird zu wissen, dass wir nicht nur rumgesessen und unser Leben vergeudet haben. Dass wir nicht schweigend herumgesessen haben und dass das Leben weitergegangen ist.
Wir sitzen aber gerade ziemlich rum.
Das scheint vielleicht so. Aber einiges findet weiterhin statt.
Es gibt also noch immer ein Leben unterm Radar?
Ja, das gibt es. Es werden Bücher veröffentlicht, manche Menschen führen mit Bedacht Blogs oder organisieren Veranstaltungen, wenn auch keine öffentlichen.
Das alles ist aber ein Risiko?
Ja, das ist ein Risiko. Aber dadurch bekommt das Leben einen Sinn.
Was hat sich in der Schule seit 2020 geändert?
Als meine ältere Tochter in der 5. oder 6. Klasse war, konnte sie auf Schulkonzerten noch Lieder von Lavon Volski singen. Als wir uns jetzt auf die Abi-Abschlussfeier vorbereitet haben, mussten wir jedes Lied und gar jedes einzelne Wort darin genehmigen lassen. Lieder auf Englisch sind verboten. Du fragst dich: Warum? Wozu lernen die Kinder in der Schule Englisch, wenn sie keine englischen Lieder bei einer Tanzvorführung auf einem Schulkonzert verwenden dürfen?
Gibt es Selbstzensur bereits bei den Kindern?
Mein kleinstes Kind kennt zwar noch keine Selbstzensur. Aber in der Kita gibt es Staatssymbole, Hymne und Wappen. Ich habe es bisher nicht riskiert, ihm von den Alternativen zu erzählen.
Hattest du Bedenken, dass er es in der Kita erzählt?
Ja. Sobald ich sicher bin, dass er den Unterschied versteht, werden wir darüber sprechen. Ich möchte, dass meine Kinder den gleichen Background haben. Ich habe meinem kleinen Sohn noch nicht von 2020 erzählt. Aber wir lesen belarussische Märchen und hören belarussische Musik, wir besuchen Museen. Darum hat er bereits einen Bezug zur belarussischen Kultur und Geschichte.
Denkst du nicht, dass die Staatsideologie die Kinder prägt, wenn man ihnen nicht so früh es geht von der Alternative erzählt?
Ja, das denke ich schon. Mein Sohn kann die Hymne singen und sagt dann: „Das ist unsere Hymne.“ Ich werde ihm ja nicht sagen, dass die richtige belarussische Hymne Pahonja heißt. Er ist so ehrlich, er kommt dann am nächsten Tag in die Kita und erzählt das seinen Freunden. Und die erzählen es wiederum möglicherweise zu Hause.
Er wird euch alle noch verpfeifen! (lacht)
Ja.
Welche Zukunft siehst du für deine Kinder in Belarus?
Das ist eine schwierige Frage. Immer mehr Kinder werden Mitglieder des Jugendverbandes. Wenn es früher lediglich ein paar Kinder in jeder Klasse waren, so sind heutzutage umgekehrt, lediglich ein paar Kinder nicht Mitglieder des Jugendverbandes. Mir scheint, als hätten die Eltern heutzutage kaum ein Problem damit.
Haben sie Angst, dagegen zu sein?
Ja. Sie fragen sich nicht, ob es problematisch ist. „Wenn alle im Jugendverband sind, dann wird das schon richtig sein.“ Es gibt viele solcher Menschen. „Was ist daran falsch?“, sagen sie.
Ich möchte, dass meine Kinder in Belarus leben, gleichzeitig will ich nicht, dass sie hier studieren. Ich möchte, dass sie im Ausland studieren und danach eine Wahl treffen, ob sie, sollte sich hier bis dahin etwas verändert haben, ihr Wissen und ihre Erfahrung hier zum Einsatz bringen wollen.
Denkst du nicht, dass deine Kinder eventuell mit der Zeit auch so gleichgültig und antriebslos werden, wie das Staatssystem sie prägt?
Ich sehe meine Aufgabe darin, ihnen von der anderen Meinung zu erzählen. Ich mache mir besonders um den Kleinsten Sorgen, er wird mitten in der Propaganda groß. Einerseits will ich nicht zu früh anfangen, andererseits will ich nicht den richtigen Zeitpunkt verpassen, wenn ein Kind das andere nicht mehr verstehen wird. Wenn eins von den Geschwistern die eine Version der Geschichte gelernt hat, das andere aber die entgegengesetzte. Das, was du im Kindesalter lernst, prägt ja deine Ansichten. Es ist schwierig, im Erwachsenenalter zu akzeptieren, dass das, was du als Kind gelernt hast, eine Lüge war. Darum mache ich mir Sorgen. Ich denke aber, dass ich noch einen Einfluss auf ihn habe. Und das Buch „Vaterland“ (belaruss. Aitschyna, ein Geschichtsbuch von Uladsimir Arlou, gilt heute als extremistisch) habe ich nicht weggeworfen. (lacht)
Manche Leute haben buchstäblich alles Verdächtige weggeworfen, um das Risiko zu minimieren.
Dinge, die nicht offensichtlich regimekritisch sind, haben wir behalten. Die Flagge habe ich aber nicht im Haus.
Hast du sie vergraben?
Sie ist in Belarus, aber nicht zu Hause, sondern außerhalb der Stadt.
Der zweite Teil der Interviews erscheint am morgigen 13. August 2025 auf dekoder.