Er war gewiss keiner, der den großen Auftritt suchte oder Skandale provozieren, von sich reden machen wollte. Doch als unbestechlicher, klarsichtiger Geist und beharrlicher Sucher nach dem Wesentlichen eckte er immer wieder an. Als Student wurde er von der Universität relegiert, in die Peripherie abgeschoben, massiv zensiert, später aus dem Beruf gedrängt, zeitweise sogar aus dem Land.
Der große Dialektiker Ales Rasanau beherrschte die Kunst, scheinbar Gegensätzliches zu vereinen: Schweigen und Donnerhall, Belarussisches und Universales, Haiku und Poem, Rückgriff und Neuland. Quanteme, Versetten, Gnomische Zeichen, Punktierungen, Wortdichte ‒ was brachte den Dichter dazu, eine Vielzahl eigener Genres zu prägen? Und wie konnte er sich als stiller Solitär einen derartigen Einfluss auf die belarussische Dichtung erschreiben? In seiner Gnose gibt Thomas Weiler Antworten und erschließt eine markante Persönlichkeit der belarussischen Literatur und Poesie.
Auf Schwarz ‒ Grünes,
auf dem Grünen ‒
wieder Schwarz:
der Maulwurf
dementiert
die Oberfläche.1
Der Maulwurf gräbt still und kraftvoll seine Gänge, bleibt unseren Blicken meist verborgen, stößt aber immer wieder in die andere Sphäre vor, lässt einen stolpern, ist Friedhofsgärtnern ein Ärgernis. Die obige Miniatur schrieb Ales Rasanau nicht etwa im heimischen Sjalez, sondern zu Anfang des Jahrtausends in Hannover. Einen wesentlich früheren Deutschlandbezug entdeckt seine Übersetzerin Elke Erb:
„Er ist 1947 geboren und lebte ohne die Schwester nicht, denn sie rettete, selbst im Vorschulalter, seiner Mutter das Leben. Im Nachbardorf war der deutsche Kommandant getötet worden, und die Deutschen trieben die Leute zur Erschießung zusammen. Die Kleine scherzte, sang, tanzte, bis die Deutschen ihretwegen die Mutter freigaben. ‒ Der Vater wurde 1942 als Partisan gefangengenommen und nach Deutschland gebracht: Sachsenhausen, Mauthausen. Sein Leben rettete der Tod eines französischen Häftlings, dessen Marke man gegen seine, welche bei denen der Todeskandidaten lag, heimlich austauschte.“2
Sjalez, ein altes Dorf im Rajon Bjarosa, belarussische Weltkriegsgeschichte in nuce. Der jüdische Friedhof existiert nach dem Krieg nur mehr als Name: „Er ist mit Gras zusammengewachsen, er ist mit Erde zusammengewachsen, er ist mit Vergessenheit und Nichtsein zusammengewachsen.“3 Aber die Älteren erzählen, die Deutschen hätten dort die Juden lebendig begraben.
Die Verwurzelung Rasanaus in dieser Umgebung, seine innige Vertrautheit mit der Natur, sprechen aus vielen seiner Texte. Bereits als Schüler veröffentlicht er Gedichte in Kinder- und Jugendzeitschriften. 1966 erscheint dann eine größere Auswahl in Litaratura i Mastaztwa. Im selben Jahr schließt er die Schule ab und beginnt sein Studium.
Rebellische 68er?
Uladsimir Kalesnik, Literaturwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule in Brest, befindet rückblickend über seinen Studenten: „Seinem Wesen nach war er kein Rebell, sondern ein Denker, allerdings ein kreativer und damit konfliktträchtig.“4 Ins nahe Brest sollte Rasanau allerdings erst über Umwege finden, zunächst studiert er an der Philologischen Fakultät der Staatlichen Universität in Minsk. Hauptstadt, die erste Adresse. Oktober 1968 dann: ein Einschnitt. Mit zwei Kommilitonen initiiert Rasanau eine Petition an die politische Führung des Landes: „Wir, die Studenten des dritten Studienjahrs an der Abteilung für Belarussische Sprache und Literatur der Philologischen Fakultät der Belarussischen Staatlichen Lenin-Universität, wünschen, dass sämtliche Vorlesungen (mit Ausnahme der Spezialdisziplinen) ausschließlich in der Muttersprache gehalten werden.“ Ein Unding! Und dann hat Rasanau auch noch mit zwei Kommilitonen die verfemte Lyrikerin Laryssa Henijusch in Selwa besucht. Fortan wird er als antisowjetischer Nationalist geschmäht, Komsomolkomitee, Dekanat und KGB ermitteln. 1969 werden die drei „Rädelsführer“ von der Hochschule relegiert, allein die Fürsprache literarischer Größen wie Nil Hilewitsch und vor allem Maxim Tank ermöglicht Rasanau die Fortsetzung des Studiums ‒ in Brest, an der Peripherie.
Verstümmelte Wiedergeburt
Rasanau schreibt beharrlich weiter, 1970 schließt er das Studium erfolgreich ab und veröffentlicht seinen Debütband Wiedergeburt (belaruss. Adradshenne). Die Freude über das Erscheinen wird getrübt durch die massiven Eingriffe in den Text. Der Band sollte ursprünglich Adratschenne (dt. Absage, Lossagung) heißen. Das darf nicht sein, der Titel wird entkernt, aus tsch wird dsh, aus dem Widerwort die Wiedergeburt.5 Oder ist das nur eine schöne Legende, von Rasanau nachträglich lanciert? Feststeht, dass missliebige Wörter und Zeilen ausgetauscht, ganze Strophen und zum Teil Gedichte radikal entfernt wurden.
Wie reagiert der junge Dichter? Er schreibt unverdrossen, versucht sich in unterschiedlichsten Formen. Nach seinem Armeedienst wird er 1972 in den Schriftstellerverband aufgenommen, kehrt zurück nach Minsk, kommt bei Litaratura i Mastaztwa unter, wird aber schon bald in die Redaktion der Illustrierten Rodnaja pryroda abgeschoben. Bei einem Aufenthalt in Litauen entdeckt er die Übersetzung als reizvolles Betätigungsfeld. 1974 wechselt er in den Verlag Mastazkaja litaratura, im selben Jahr erscheint der Gedichtband Auf immer mit mehreren Balladen, gipfelnd im großen, titelgebenden Poem über die Brester Festung.
Rasanau ist aber auch so frei, neue Genres zu prägen, Auf immer enthält erste Punktierungen. Diese pointierten Miniaturen werden den Autor sein Leben lang begleiten, aber er wäre nicht Rasanau, würde er diese Form nicht konsequent weiterentwickeln. Hartnäckig dementieren die Punktierungen, dementiert der Autor, alle Oberflächlichkeiten. Die Kritik tut sich schwer mit dem Innovator, der sich den „Zeichen vertikaler Zeit“ verschrieben hat und das klassische Erbe nicht unangetastet verstauben lassen will.
„Er hat ein unwahrscheinliches Gespür für Zeit, für Zukunft wie Vergangenheit“, erklärt der Literaturwissenschaftler Arnold McMillin, „und unter vertikaler Zeit versteht er eine Kombination […] von Tradition und Innovation; wenn die Kunst nicht den beständigen Dialog mit Vergangenheit und Gegenwart pflegt, verkümmert sie und kommt um.“6
Neue Zeiten, neue Formen
Immer wieder bedarf es der Fürsprache einflussreicher Literaten, bevor neue Bände erscheinen können. Das gilt für die 16 philosophischen Poeme in Koordinaten des Seins (1976) genauso wie für den bahnbrechenden Weg 360 (1981), den erst Uladsimir Karatkewitsch als Lektor und Geleitworte von Pimen Pantschanka und Warlen Betschyk durchsetzen. In diesem sorgsam durchkomponierten Band, der um Leben und Vergehen kreist, fordert der Autor seine Leserschaft mit mehreren Quantemen heraus. „Die Quanteme spielen im Atomaren, was sich in ihnen vollzieht, ist eine Reaktion, bei der vertraute Worte den Rahmen der Alltagslogik verlassen und ungeahnte Bedeutungen und Möglichkeiten offenbaren“7, erklärt Rasanau später.
Er scheut sich nicht, kürzeste und lange Formen in einem Band zu kombinieren. Über die Form, die „Wellenlänge“8, in der ein Gedicht sich äußern wolle, entscheide es gewissermaßen selbst: „Nur die Hälfte des Gedichtes ist im Schöpfer, die andere ergibt sich aus der Richtung, in die das Gedicht selbst sich bewegt.“9
1988 schließlich ‒ ein neuer Band, ein neues Genre: In Die Pfeilspitze treten zu neuen Quantemen und Punktierungen erstmals Versetten, „balladenhafte, oft dramatisch zugespitzte Prosagedichte von durchschnittlich einer Seite Länge.“10 Sie entstehen in unruhigen Zeiten, 1986 endet die Lektoratstätigkeit bei Mastazkaja litaratura. „Sie fragen mich: Wer bist du? und wollen mich anhalten. Ich antworte nicht, und ich halte nicht an. Mit wachem Geist ertaste ich die holprige Linie des Sinns, die ich gehen muss bis zuletzt“11, heißt es in einer der ersten Versetten.
Da hat einer Fühlung aufgenommen und lässt sich nicht aus der Bahn werfen von den Turbulenzen der späten Sowjetunion, da so vieles aus den Fugen gerät. 1989 wird Rasanau Vize-Präsident das frisch gegründeten Belarussischen PEN. Bei seinen Reden auf internationalen PEN-Kongressen äußert er sich zwar zur „Zweckmäßigkeit der Freiheit“, zu Demokratie und Totalitarismus, immer aber spricht er als Poet, nicht als Politiker: „Der Präsident ist etwas, das von uns gewählt wird, die Freiheit ist etwas, das uns erwählt“.12 1990 erhält er für Die Pfeilspitze nachträglich den Janka-Kupala-Preis, eine erste staatliche Anerkennung.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der neuen Unabhängigkeit ergeben sich neue Möglichkeiten. Im Juni 1991 nimmt er am „Übersetzercolloquium Weißrussland“ im Literarischen Colloquium Berlin am Wannsee teil, bald darauf erscheinen erste deutsche Übersetzungen.13 Der Band In der Stadt herrscht Rahvalod (1992) beinhaltet neben neuen Punktierungen erste Wortverse ‒ abermals ein neues Genre. Der Titel eines solchen Wortverses ist das Schlüsselwort, die „Reimdominante“, die den Ton vorgibt, um den sich die anderen Wörter scharen.14 So auch im Titelgedicht Horad (Stadt), das schließt mit der Zeile: „U horadse waladaryz Rahwalod, horad radujezza Rahnedse.“15 Der Laut macht das Gedicht.
Außer Landes
Mit Ausgabe 1/1994 wird Rasanau stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Kryniza. Im Vorwort schreibt er: „Kryniza wird ein zweites Mal geboren. Eine Schale hat sie noch nicht, aber die wird sie sich mit Sicherheit erarbeiten. Ich hoffe, sie wird nicht so hart, beizeiten nicht mehr mitzubekommen, wie es von innen leise pocht.“16 Rasanau lauscht weiter aufmerksam in die Wirklichkeit hinein.
Mit der Wahl Lukaschenkas zum Präsidenten verschieben sich nach und nach die Koordinaten; wer Belarussisch spricht und schreibt, macht sich verdächtig. Erinnerungen an 1968 werden wach. Dafür steht 1995 eine erfreuliche Doppelpremiere an: In Minsk tritt in Jagd im Paradiestal mit den Gnomischen Zeichen abermals ein neues Genre ins Rampenlicht, zugleich gibt Norbert Randow in Berlin einen ersten üppigen Auswahlband Zeichen vertikaler Zeit heraus. Erstmals kann das deutsche Publikum einen belarussischen Lyriker in dieser Vielschichtigkeit entdecken. „Das Staunen, das einen bei der Lektüre überkommt, gilt dabei zweierlei“, befindet die Schweizerische Schriftstellerin und Übersetzerin Ilma Rakusa, „der elementaren Kraft der Texte sowie der Frage, wie diese, grösstenteils in sowjetischen Zeiten entstanden, die Hürde der Zensur nehmen konnten. […] Ein Dichter jenseits der Vereinnahmung, der seinen Sinnen und der Sprache vertraut“.17 Ein Dichter aber auch, der mit dem Regime in Konflikt kommen muss.
1999 verliert er seinen Brotberuf als Redakteur und wird praktisch mit Publikationsverbot belegt. Sein Poem-Triptychon Lehm. Stein. Eisen (2000) kann nur noch im ostpolnischen Białystok von der belarussischen Diaspora veröffentlicht werden. Wie Wassil Bykau, Swetlana Alexijewitsch oder Uladsimir Njakljajeu ist Rasanau zunehmend auf Stipendien im Ausland angewiesen, nach Kurzaufenthalten in Schweden und Slowenien findet er Aufnahme in Berlin und schließlich 2001/02 als erster Hannah Arendt-Stipendiat in Hannover. Eine Station im Internationalen Haus der Autoren Graz schließt sich an.
Das Erbe
„Alles jedoch, was sich mit Gewalt hält, ist nicht von Dauer“, heißt es in den Gnomischen Zeichen.18 Das Lukaschenka-Regime dauert trotzdem an, Rasanau, inzwischen 60 Jahre alt, kehrt zurück nach Minsk. Er vergräbt sich in Texten aus den Anfängen belarussischer Schriftkultur, erschließt beispielsweise Francysk Skaryna einem heutigen Publikum. Und bereitet nebenher im Lohvinaŭ-Verlag seine Werkausgabe vor, deutsch-belarussische Bände inklusive. Immer wieder wird er als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt, der geht aber 2015 an Swetlana Alexijewitsch.
Am 26. August 2021 stirbt Ales Rasanau 73-jährig in Minsk. Was bleibt? Ein reichhaltiges Werk, das immer wieder neu entdeckt werden will. Ein erster italienischer Auswahlband Sumus ne simus mit Quantemen, Punktierungen, Wortversen und Versetten ist in Arbeit. Zahlreiche jüngere Autoren und Autorinnen lassen sich von seiner Konsequenz und Integrität, seiner künstlerischen Eigenständigkeit und seiner Fokussierung auf das Wesentliche inspirieren. Dass etwa Julia Cimafiejeva ihrem 2025 erschienenen Gedichtband Krowaswarot zwei Rasanau-Zeilen voranstellt, darf durchaus als Verneigung vor einem Vorbild verstanden werden.19 Gar als ihren „heimliche[n] Guru“ bezeichnete ihn Ilma Rakusa: „Er versammelt keine Schüler um sich, predigt nicht, meidet Auftritte. Er gehört zu den Stillsten der Stillen. Aber glücklich, wen seine Worte erreichen.“20
Ein Weggefährte, der Philosoph Valjanzin Akudowitsch, widmete ihm folgendes Gedicht:
Ich sah einen großen Menschen,
er unterschied sich in nichts von den Übrigen,
nur erschien er als Erster am Horizont
und später,
als alle anderen gegangen und verschwunden waren,
war er noch lang zu sehen.21
Zum Weiterlesen:
McMillin, Arnold (2010): Aleś Razanaŭ – A Poet of Rare Complexity. In (ders.): Writing in a Cold Climate. Belarusian Literature from the 1970s to the Present Day. London: Maney Publishing, S. 825–852.
Rakusa, Ilma (2011): Ales Rasanaŭ. In (dies.): Fremdvertrautes Gelände (=Essays zur Literatur Mittel-, Ost- und Südosteuropas, Bd. 2), Dresden: Thelem, S. 17‒27.
Symaniec, Virginie (2002): Ales Razanaù : un poète de son temps. In: Tumultes, No. 19, La poésie comme geste politique (décembre 2002), S. 91‒106.
Rasanau, Ales (o.J.): Gedichte. Übers. Elke Erb, Uladsimir Tschapeha, Thomas Weiler. In: lyrikline.org