Hemingway-Porträts in der heimischen Wohnung ließen einen Charkiwer Jungen einst vermuten, der US-amerikanische Schriftsteller sei ein früheres Mitglied seiner sowjetischen Familie gewesen. Jahrzehnte später steht derselbe Junge, mittlerweile erwachsen und ausgewandert, auf dem weiten Freiheitsplatz der zweitgrößten Stadt der Ukraine, die aktuell ständiges Ziel russländischer Drohnen- und Raketenangriffe ist. Angekommen „wie ein Puzzlestück, das genau dort gelandet war, wo es hingehört“.
Yuriy Gurzhy ist Musiker, Komponist, DJ und Autor. Er wurde 1975 in Charkiw, Ukraine, geboren und lebt seit 1995 in Berlin, aber reist regelmäßig in seine Heimat. In seinem neuen Buch Ein Aquarium voller Schlüssel erzählt er, begleitet vom Fotoarchiv seines Vaters und Fotografen Alexander Gurzhy, Geschichten aus dem heutigen Charkiw an vorderster Verteidigungsfront gegen Russlands Krieg gegen die Ukraine. Geschichten, die ihn immer wieder durch Details im Stadtbild, auf Flohmarkttischen oder Gesprächsfetzen auf der Straße quer durch die Geschichte der Stadt, seiner Familie und Freunde führen.
Ein Aquarium voller Schlüssel. Charkiw und die Fotos meines Vaters von Yuriy und Alexander Gurzhy erscheint am 16. September 2025 in der edition frölich. dekoder veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag ein Kapitel daraus vorab.
Die Buchpremiere mit Autor findet am 29. Oktober um 19:30 Uhr im Theater Expedition Metropolis in Berlin-Kreuzberg statt, Eintritt: 5 Euro, Platzreservierung per E-mail.
Es war Januar, mein letzter Tag in Charkiw. Ich überquerte gerade den Freiheitsplatz, als mein Handy klingelte und ich kurz anhalten musste, um es zu finden. Ein kalter Tag, ich trug mehrere Schichten übereinander, und jede hatte mindestens zwei Innentaschen. Während ich so dastand inmitten der vorbeieilenden Menge, kam mir die Szene merkwürdig vertraut vor – wie aus einem dieser Superheldenfilme, die ich vor Jahren mit meinem Sohn gesehen hatte: ein Einzelner, der stehen bleibt, während sich die Passanten in alle Richtungen drängen und alles um ihn herum in Bewegung ist. Die Kamera zoomt heran, die Spezialeffekte setzen ein – alles um die Figur in der Bildmitte verschwimmt, die Menge verflüssigt sich in einen farbigen Strom, dann flackert es, aus den Fingerspitzen kommen Blitze heraus. Das soll wohl die Verbindung mit dem Kosmos symbolisieren oder was auch immer.
Das Handy versteckte sich in der Rucksacktasche. Der Anruf kam nicht aus dem Kosmos, sondern aus Berlin. Es war mein Hausmeister, der sich den Kellerschlüssel ausleihen wollte. Er redete und redete, ich hörte eine Weile zu, aber die Verbindung war schwach, und ich verlor den Faden. Ich stand da, mitten auf dem Freiheitsplatz, schaute mich um und wartete auf eine Pause zwischen den Sätzen, um endlich sagen zu können, ich wäre gerade nicht in Berlin. Und genau in diesem Moment, völlig unverhofft, ganz ohne Blitze, hatte ich eine Offenbarung: Ich spürte plötzlich die Anziehungskraft dieses Ortes, so stark wie nirgendwo sonst. Ich fühlte mich wie ein Puzzlestück, das genau dort gelandet war, wo es hingehört.
Der weite, riesige, schier endlose Platz ist sicherlich ein Relikt aus der Zeit, als Größe und Pathos alles waren.
Neulich kam in einem Radiointerview wieder die unvermeidliche Frage: Wo fühlen Sie sich mehr zu Hause: in Charkiw oder in Berlin? Und ich habe die übliche Antwort gegeben: „Dieses Entweder-Oder ist absurd, ich fühle mich an beiden Orten gleichermaßen wohl.“ Leider sollte ich mein Statement möglichst knapp halten, sonst hätte ich noch lange erzählen können. Zum Beispiel davon, dass es in Deutschland kaum jemanden gibt, der mich vor Oktober 1995 kannte. Oder davon, dass meine Chancen, in Berlin zufällig einem alten Klassenkameraden über den Weg zu laufen, praktisch bei null liegen. Als ich zwanzig war, begann für mich in Berlin ein neues Leben; und doch gibt es in dieser Stadt nach all den Jahren keinen Ort, der so mit Erinnerungen aufgeladen ist wie der Freiheitsplatz in Charkiw.
Alle Bauwerke ringsum kommen mir geläufig vor: dort der Dershprom, daneben die Karasin-Universität, an der ich Anfang der 1990er-Jahre studierte. Das Lenin-Denkmal in der Mitte ist zum Glück verschwunden, auf dem Freiheitsplatz hat Lenin nichts zu suchen. Der weite, riesige, schier endlose Platz ist sicherlich ein Relikt aus der Zeit, als Größe und Pathos alles waren. Er wurde 1931 gebaut, um die Massen zu beeindrucken und um Paraden und große Gesten zu inszenieren. Jahrzehntelang marschierten hier zu den sozialistischen Feiertagen die Helden der Arbeit, die jungen Pioniere und die Veteranen des Zweiten Weltkriegs auf. Die Teilnahme war Pflicht; oft wurden ganze Schulklassen oder Betriebe geschickt, um die Menge größer erscheinen zu lassen, damit der damals noch nach Dsershinski benannte Platz auch wirklich gefüllt war.
Den besten Blick auf den Freiheitsplatz hatte ich vom zehnten Stock des Kharkiv Palace Hotels, das gegenüber dem alten, langsam verfallenden Hotel Charkiw errichtet wurde. Ein Zimmer dort hätte ich mir niemals leisten können, aber 2014 war meine Berliner Band zum ersten Mal in Charkiw zu Gast, und wir wurden dort einquartiert. Wir blieben nur zweiundzwanzig Stunden, dann ging es zum nächsten Konzert nach Dnipro. Vor der Abfahrt improvisierten unsere Sängerin Katya und ich einen kurzen Auftritt im Foyer. Katya sang, ich begleitete sie auf dem weißen Flügel, die anderen fotografierten, denn die Szene wirkte surreal und mehr wie Las Vegas als Charkiw. Den weißen Flügel erkannte ich Ende Dezember 2023 in den Nachrichten wieder, er stand noch da, mitten im Trümmerfeld. Das Palace Hotel war unter Beschuss geraten, das Foyer zerstört.
Am gegenüberliegenden Ende des Platzes, im Palast der Jungen Pioniere (Palace Hotel, Palast der Pioniere – Charkiw mag es offenbar königlich), besuchte ich in den späten 1980ern jeden Sonntag den Literaturzirkel, und auf dem Weg dorthin fiel mein Blick auf das Verwaltungsgebäude auf der anderen Straßenseite. Mit seinen massiven Säulen und dem riesigen, von Fahnen umrahmten Stern oben drauf machte mir dieses pompöse steinerne Monstrum Angst. Erst Jahre später und mit etwas Abstand lernte ich, es anders zu sehen und sogar zu schätzen – neoklassizistische Architektur der späten Stalinzeit, ein Symbol der Ära …
Ein heulender Erwachsener in der überfüllten Berliner U-Bahn um acht Uhr morgens.
Von den ersten Wochen des Großen Krieges, die sich in meinem Gedächtnis zu einem dicken Klumpen grausamer Erinnerungen verdichteten, ragt der 1. März 2022 heraus, an dem zwei russische Raketen das Verwaltungsgebäude trafen. Ich sah auf meinem Handy das Video einer Überwachungskamera, die den Moment der Explosion festhielt, und konnte die Tränen nicht zurückhalten – ein heulender Erwachsener in der überfüllten Berliner U-Bahn um acht Uhr morgens.
Zwischen dem Palast der Pioniere und der Universität, neben dem Eingang zur U-Bahn verrosteten 1990 einige riesige Metallrohre. Vielleicht sollten irgendwo in der Nähe Wasserleitungen repariert werden, und dann kam etwas dazwischen, wie so oft in den 1990er-Jahren. Wochenlang lagen sie einfach rum, bis im August der russische Rockstar Viktor Tsoi, der Sänger der Band Kino, mit achtundzwanzig Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückte und jemand auf die Idee kam, ausgerechnet an diesem Ort eine Gedenkstätte für ihn zu errichten. Zuerst tauchten dort sein Foto und eine Kerze auf, in den nächsten Tagen wurden es immer mehr, zahllose Bilder und Zeichnungen, handgeschriebene Songtexte und Briefe. Die Röhren wurden zum Treffpunkt der Fans des verstorbenen Musikers; man sang im Chor seine Lieder und trank Wein, ähnlich wie am Grab von Jim Morrison in Paris. Ich hatte eine Kassette von Kino und konnte einige Songs auf der Akustikgitarre spielen. Die Texte waren simpel und leicht zu merken: „Oh, ooooh, du Achtklässlerin“ (viermal hintereinander) oder „Erde. Himmel. Zwischen Erde und Himmel – Krieg“.
Weder mein musikbegeisterter Großvater noch andere Verwandte konnten mit Tsois Liedern etwas anfangen – bis auf Jan, den Cousin meiner Großmutter. Wir verstanden uns gut, er war der Einzige, der sich für meinen Musikgeschmack interessierte. Da seine Frau gestorben war, lebte er nun allein in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des Freiheitplatzes, direkt hinter dem Verwaltungsgebäude. Manchmal besuchte ich ihn zu Hause, manchmal im Kunstmuseum, wo er arbeitete. Seine Führungen hielt er nicht nur in russischer Sprache, sondern auch auf Ukrainisch – schließlich hatte er einen Abschluss in ukrainischer Philologie. Wir sprachen viel über Kunst und Musik.
Jan wollte immer wissen, warum ich diese oder jene Band mochte und was ich gerade las. Er kannte jedes Buch und hörte wirklich interessiert zu. Ein - mal gab er mir einen Band mit frühen Hemingway-Erzählungen. Ich glaube, sie gefielen ihm, und er schien etwas enttäuscht, als ich gestand, ich fände sie langweilig.
Als Kind dachte ich, Ernest Hemingway sei mein Verwandter. Schuld daran war sein Porträt, das in unserer Wohnung hing, solange ich denken konnte. In der Sowjetunion war Hemingway Kult – der eiserne Vorhang hob sich knarrend einige Zentimeter, um seine Bücher durchzulassen; sie wurden ins Russische übersetzt und waren sehr beliebt. Eine Zeit lang hielt ich den älteren Mann in dem handgestrickten Pullover mit dem traurigen Blick und dem grauen Bart für meinen Großvater väterlicherseits, den ich nie kennengelernt hatte – und war verwirrt, als ich das gleiche Porträt bei Freunden meiner Eltern sah.
Das Haus, in dem sich die Bar befand, wurde Mitte März 2022 von einer russischen Rakete dem Erdboden gleichgemacht.
Viele Jahre später – Jan war längst tot, und ich wohnte schon in Berlin – eröffnete auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber seiner alten Wohnung, eine Bar namens „Der alte Hem“. Vor genau elf Jahren, im Januar 2014, mitten in den Euromaidan-Protesten, die später auch als Revolution der Würde in die Geschichte eingehen sollten, schleppte mich Serhij Zhadan nach einer abendlichen Kundgebung dorthin. Die Kälte schoss uns in die Knochen – da tat es gut, im „alten Hem“ etwas Warmes zu essen und zu trinken. Und dann sah ich dieses Gesicht auf dem Logo und über der Theke: dasselbe Hemingway-Porträt, das mich schon als Kind begleitet hatte. Ich musste lachen – well, well, hello again, Opa Hem!
Das Haus, in dem sich die Bar befand, wurde Mitte März 2022 von einer russischen Rakete dem Erdboden gleichgemacht. Die Armee der großen Entnazifizierer und Befreier demonstrierte einmal mehr ihre wahre Strategie: die vollständige Auslöschung von allem. Ein halbes Jahr später schlug auch in Jans Haus eine Rakete ein.
Als die ersten ukrainischen Kriegsgefangenen freikamen und von den erlittenen Misshandlungen berichteten, erwähnten einige von ihnen auch die Folter durch Musik: Man wurde gezwungen, russische Lieder auswendig zu lernen und zu singen, unter anderem von Tsoi und Kino.
Manchmal frage ich mich, was Jan zu all dem gesagt hätte.