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Ernest Hemingway und der Freiheitsplatz von Charkiw

Hemingway-Porträts in der heimischen Wohnung ließen einen Charkiwer Jungen einst vermuten, der US-amerikanische Schriftsteller sei ein früheres Mitglied seiner sowjetischen Familie gewesen. Jahrzehnte später steht derselbe Junge, mittlerweile erwachsen und ausgewandert, auf dem weiten Freiheitsplatz der zweitgrößten Stadt der Ukraine, die aktuell ständiges Ziel russländischer Drohnen- und Raketenangriffe ist. Angekommen „wie ein Puzzlestück, das genau dort gelandet war, wo es hingehört“. 

Yuriy Gurzhy ist Musiker, Komponist, DJ und Autor. Er wurde 1975 in Charkiw, Ukraine, geboren und lebt seit 1995 in Berlin, aber reist regelmäßig in seine Heimat. In seinem neuen Buch Ein Aquarium voller Schlüssel erzählt er, begleitet vom Fotoarchiv seines Vaters und Fotografen Alexander Gurzhy, Geschichten aus dem heutigen Charkiw an vorderster Verteidigungsfront gegen Russlands Krieg gegen die Ukraine. Geschichten, die ihn immer wieder durch Details im Stadtbild, auf Flohmarkttischen oder Gesprächsfetzen auf der Straße quer durch die Geschichte der Stadt, seiner Familie und Freunde führen.  

Ein Aquarium voller Schlüssel. Charkiw und die Fotos meines Vaters von Yuriy und Alexander Gurzhy erscheint am 16. September 2025 in der edition frölich. dekoder veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag ein Kapitel daraus vorab. 

Die Buchpremiere mit Autor findet am 29. Oktober um 19:30 Uhr im Theater Expedition Metropolis in Berlin-Kreuzberg statt, Eintritt: 5 Euro, Platzreservierung per E-mail

Der heutige Maidan Swobody (Freiheitsplatz) zu Zeiten der Sowjetunion mit Karasin-Universität, Dershprom und Lenin-Statue, die 2014 abgerissen wurde / © Alexander Gurzhy/edition frölich

Es war Januar, mein letzter Tag in Charkiw. Ich überquerte gerade den Freiheitsplatz, als mein Handy klingelte und ich kurz anhalten musste, um es zu finden. Ein kalter Tag, ich trug mehrere Schichten übereinander, und jede hatte mindestens zwei Innentaschen. Während ich so dastand inmitten der vorbeieilenden Menge, kam mir die Szene merkwürdig vertraut vor – wie aus einem dieser Superheldenfilme, die ich vor Jahren mit meinem Sohn gesehen hatte: ein Einzelner, der stehen bleibt, während sich die Passanten in alle Richtungen drängen und alles um ihn herum in Bewegung ist. Die Kamera zoomt heran, die Spezialeffekte setzen ein – alles um die Figur in der Bildmitte verschwimmt, die Menge verflüssigt sich in einen farbigen Strom, dann flackert es, aus den Fingerspitzen kommen Blitze heraus. Das soll wohl die Verbindung mit dem Kosmos symbolisieren oder was auch immer.  

Das Handy versteckte sich in der Rucksacktasche. Der Anruf kam nicht aus dem Kosmos, sondern aus Berlin. Es war mein Hausmeister, der sich den Kellerschlüssel ausleihen wollte. Er redete und redete, ich hörte eine Weile zu, aber die Verbindung war schwach, und ich verlor den Faden. Ich stand da, mitten auf dem Freiheitsplatz, schaute mich um und wartete auf eine Pause zwischen den Sätzen, um endlich sagen zu können, ich wäre gerade nicht in Berlin. Und genau in diesem Moment, völlig unverhofft, ganz ohne Blitze, hatte ich eine Offenbarung: Ich spürte plötzlich die Anziehungskraft dieses Ortes, so stark wie nirgendwo sonst. Ich fühlte mich wie ein Puzzlestück, das genau dort gelandet war, wo es hingehört.  

Der weite, riesige, schier endlose Platz ist sicherlich ein Relikt aus der Zeit, als Größe und Pathos alles waren. 

Neulich kam in einem Radiointerview wieder die unvermeidliche Frage: Wo fühlen Sie sich mehr zu Hause: in Charkiw oder in Berlin? Und ich habe die übliche Antwort gegeben: „Dieses Entweder-Oder ist absurd, ich fühle mich an beiden Orten gleichermaßen wohl.“ Leider sollte ich mein Statement möglichst knapp halten, sonst hätte ich noch lange erzählen können. Zum Beispiel davon, dass es in Deutschland kaum jemanden gibt, der mich vor Oktober 1995 kannte. Oder davon, dass meine Chancen, in Berlin zufällig einem alten Klassenkameraden über den Weg zu laufen, praktisch bei null liegen. Als ich zwanzig war, begann für mich in Berlin ein neues Leben; und doch gibt es in dieser Stadt nach all den Jahren keinen Ort, der so mit Erinnerungen aufgeladen ist wie der Freiheitsplatz in Charkiw.  

Alle Bauwerke ringsum kommen mir geläufig vor: dort der Dershprom, daneben die Karasin-Universität, an der ich Anfang der 1990er-Jahre studierte. Das Lenin-Denkmal in der Mitte ist zum Glück verschwunden, auf dem Freiheitsplatz hat Lenin nichts zu suchen. Der weite, riesige, schier endlose Platz ist sicherlich ein Relikt aus der Zeit, als Größe und Pathos alles waren. Er wurde 1931 gebaut, um die Massen zu beeindrucken und um Paraden und große Gesten zu inszenieren. Jahrzehntelang marschierten hier zu den sozialistischen Feiertagen die Helden der Arbeit, die jungen Pioniere und die Veteranen des Zweiten Weltkriegs auf. Die Teilnahme war Pflicht; oft wurden ganze Schulklassen oder Betriebe geschickt, um die Menge größer erscheinen zu lassen, damit der damals noch nach Dsershinski benannte Platz auch wirklich gefüllt war. 

Sowjetischer Demonstrationszug vorm Dershprom / © Alexander Gurzhy/edition frölich

Den besten Blick auf den Freiheitsplatz hatte ich vom zehnten Stock des Kharkiv Palace Hotels, das gegenüber dem alten, langsam verfallenden Hotel Charkiw errichtet wurde. Ein Zimmer dort hätte ich mir niemals leisten können, aber 2014 war meine Berliner Band zum ersten Mal in Charkiw zu Gast, und wir wurden dort einquartiert. Wir blieben nur zweiundzwanzig Stunden, dann ging es zum nächsten Konzert nach Dnipro. Vor der Abfahrt improvisierten unsere Sängerin Katya und ich einen kurzen Auftritt im Foyer. Katya sang, ich begleitete sie auf dem weißen Flügel, die anderen fotografierten, denn die Szene wirkte surreal und mehr wie Las Vegas als Charkiw. Den weißen Flügel erkannte ich Ende Dezember 2023 in den Nachrichten wieder, er stand noch da, mitten im Trümmerfeld. Das Palace Hotel war unter Beschuss geraten, das Foyer zerstört.  

Am gegenüberliegenden Ende des Platzes, im Palast der Jungen Pioniere (Palace Hotel, Palast der Pioniere – Charkiw mag es offenbar königlich), besuchte ich in den späten 1980ern jeden Sonntag den Literaturzirkel, und auf dem Weg dorthin fiel mein Blick auf das Verwaltungsgebäude auf der anderen Straßenseite. Mit seinen massiven Säulen und dem riesigen, von Fahnen umrahmten Stern oben drauf machte mir dieses pompöse steinerne Monstrum Angst. Erst Jahre später und mit etwas Abstand lernte ich, es anders zu sehen und sogar zu schätzen – neoklassizistische Architektur der späten Stalinzeit, ein Symbol der Ära …  

Ein heulender Erwachsener in der überfüllten Berliner U-Bahn um acht Uhr morgens. 

Von den ersten Wochen des Großen Krieges, die sich in meinem Gedächtnis zu einem dicken Klumpen grausamer Erinnerungen verdichteten, ragt der 1. März 2022 heraus, an dem zwei russische Raketen das Verwaltungsgebäude trafen. Ich sah auf meinem Handy das Video einer Überwachungskamera, die den Moment der Explosion festhielt, und konnte die Tränen nicht zurückhalten – ein heulender Erwachsener in der überfüllten Berliner U-Bahn um acht Uhr morgens.  

Zwischen dem Palast der Pioniere und der Universität, neben dem Eingang zur U-Bahn verrosteten 1990 einige riesige Metallrohre. Vielleicht sollten irgendwo in der Nähe Wasserleitungen repariert werden, und dann kam etwas dazwischen, wie so oft in den 1990er-Jahren. Wochenlang lagen sie einfach rum, bis im August der russische Rockstar Viktor Tsoi, der Sänger der Band Kino, mit achtundzwanzig Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückte und jemand auf die Idee kam, ausgerechnet an diesem Ort eine Gedenkstätte für ihn zu errichten. Zuerst tauchten dort sein Foto und eine Kerze auf, in den nächsten Tagen wurden es immer mehr, zahllose Bilder und Zeichnungen, handgeschriebene Songtexte und Briefe. Die Röhren wurden zum Treffpunkt der Fans des verstorbenen Musikers; man sang im Chor seine Lieder und trank Wein, ähnlich wie am Grab von Jim Morrison in Paris. Ich hatte eine Kassette von Kino und konnte einige Songs auf der Akustikgitarre spielen. Die Texte waren simpel und leicht zu merken: „Oh, ooooh, du Achtklässlerin“ (viermal hintereinander) oder „Erde. Himmel. Zwischen Erde und Himmel – Krieg“.  

Weder mein musikbegeisterter Großvater noch andere Verwandte konnten mit Tsois Liedern etwas anfangen – bis auf Jan, den Cousin meiner Großmutter. Wir verstanden uns gut, er war der Einzige, der sich für meinen Musikgeschmack interessierte. Da seine Frau gestorben war, lebte er nun allein in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des Freiheitplatzes, direkt hinter dem Verwaltungsgebäude. Manchmal besuchte ich ihn zu Hause, manchmal im Kunstmuseum, wo er arbeitete. Seine Führungen hielt er nicht nur in russischer Sprache, sondern auch auf Ukrainisch – schließlich hatte er einen Abschluss in ukrainischer Philologie. Wir sprachen viel über Kunst und Musik. 

Das belebte Charkiwer Stadtzentrum / © Alexander Gurzhy/edition frölich

Jan wollte immer wissen, warum ich diese oder jene Band mochte und was ich gerade las. Er kannte jedes Buch und hörte wirklich interessiert zu. Ein - mal gab er mir einen Band mit frühen Hemingway-Erzählungen. Ich glaube, sie gefielen ihm, und er schien etwas enttäuscht, als ich gestand, ich fände sie langweilig.  

Als Kind dachte ich, Ernest Hemingway sei mein Verwandter. Schuld daran war sein Porträt, das in unserer Wohnung hing, solange ich denken konnte. In der Sowjetunion war Hemingway Kult – der eiserne Vorhang hob sich knarrend einige Zentimeter, um seine Bücher durchzulassen; sie wurden ins Russische übersetzt und waren sehr beliebt. Eine Zeit lang hielt ich den älteren Mann in dem handgestrickten Pullover mit dem traurigen Blick und dem grauen Bart für meinen Großvater väterlicherseits, den ich nie kennengelernt hatte – und war verwirrt, als ich das gleiche Porträt bei Freunden meiner Eltern sah.  

Das Haus, in dem sich die Bar befand, wurde Mitte März 2022 von einer russischen Rakete dem Erdboden gleichgemacht. 

Viele Jahre später – Jan war längst tot, und ich wohnte schon in Berlin – eröffnete auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber seiner alten Wohnung, eine Bar namens „Der alte Hem“. Vor genau elf Jahren, im Januar 2014, mitten in den Euromaidan-Protesten, die später auch als Revolution der Würde in die Geschichte eingehen sollten, schleppte mich Serhij Zhadan nach einer abendlichen Kundgebung dorthin. Die Kälte schoss uns in die Knochen – da tat es gut, im „alten Hem“ etwas Warmes zu essen und zu trinken. Und dann sah ich dieses Gesicht auf dem Logo und über der Theke: dasselbe Hemingway-Porträt, das mich schon als Kind begleitet hatte. Ich musste lachen – well, well, hello again, Opa Hem!  

Das Haus, in dem sich die Bar befand, wurde Mitte März 2022 von einer russischen Rakete dem Erdboden gleichgemacht. Die Armee der großen Entnazifizierer und Befreier demonstrierte einmal mehr ihre wahre Strategie: die vollständige Auslöschung von allem. Ein halbes Jahr später schlug auch in Jans Haus eine Rakete ein.  

Als die ersten ukrainischen Kriegsgefangenen freikamen und von den erlittenen Misshandlungen berichteten, erwähnten einige von ihnen auch die Folter durch Musik: Man wurde gezwungen, russische Lieder auswendig zu lernen und zu singen, unter anderem von Tsoi und Kino.  

Manchmal frage ich mich, was Jan zu all dem gesagt hätte. 

Ein Aquarium voller Schlüssel. Charkiw und die Fotos meines Vaters von Yuriy und Alexander Gurzhy (104 Seiten, 60 Abbildungen) erscheint am 16. September in der Edition Frölich, ISBN 978-3-911192-06-4. 
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Gnose Ukraine

Serhij Zhadan

Serhij Zhadan hat sich als eine der wichtigsten Stimmen in der ukrainischen Literatur etabliert. Im Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, organisiert er Hilfsgüter und gibt Konzerte. Was treibt ihn an, wo liegen seine literarischen Wurzeln, wie lässt sich sein Werk vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Ereignisse verstehen? Kateryna Stetsevych über den Mann, der in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird.

Gnosen
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Unabhängigkeit à la Ukraine

Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen und sterben für die Unabhängigkeit ihres Landes. Heute im Kampf an der Front oder durch russische Luftangriffe im Hinterland. Seit über zehn Jahren im Untergrundwiderstand in annektierten und besetzten Gebieten und in Kämpfen gegen von Russland unterstützte Separatisten. In früheren Zeiten in von Moskau verschärften Hungersnöten, durch Kugeln des sowjetischen Geheimdienstes und in sowjetischen Arbeitslagern. Ukrainische Nationalisten bekämpften im 20. Jahrhundert neben Russland auch jüdische und polnische Gemeinschaften in ihrem Land, teils zusammen mit den deutschen Nationalsozialisten. Zuvor gab es jedoch auch eine Vorstellung von einer unabhängigen sowjetischen Ukraine – ob staatsbürgerlich oder föderalistisch.  

Woher rührt dieses unbedingte Streben nach staatlicher Souveränität? Was feiert die Ukraine mit ihrem Nationalfeiertag seit 1992 jedes Jahr am 24. August? Wie entwickelte sich das ukrainische Konzept von Eigenstaatlichkeit? 

Der ukrainische Historiker Andrii Portnov skizziert die historische Entwicklung von Ideen und Praktiken einer unabhängigen Ukraine in den vergangenen zwei Jahrhunderten bis heute.  

Staatsflagge und Unabhängigkeitsdenkmal (seit 2001) mit Berehynja und Kalynazweig auf dem Maidan Nesaleshnosti in Kyjiw / Foto © Peggy Lohse/dekoder

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierte auf der politischen Landkarte Europas kein Staat namens Ukraine. Die letzten Elemente der kosakischen Staatlichkeit waren Ende des 18. Jahrhunderts durch das Russländische Reich zerstört worden. Doch das Fehlen einer Staatsstruktur bedeutete nicht das Fehlen einer nationalen Bewegung.  

Die ukrainische Intelligenz, inspiriert von den Ideen Herders und anderer romantischer Philosophen, schlug ein Projekt zur kulturellen und politischen Emanzipation der ukrainischsprachigen bäuerlichen Bevölkerung der beiden bestehenden Reiche vor: aus dem zaristischen Russland und Österreich-Ungarn.  

Drahomanow: Staatenlose Ukraine prädestiniert für Ideal-Föderalismus 

Eine Schlüsselfigur des ukrainischen politischen Denkens im 19. Jahrhundert war der Althistoriker Mychajlo Drahomanow, der 1876 wegen seiner politischen Überzeugungen aus dem Zarenreich emigrieren musste. Im Exil gab Drahomanow die Zeitschrift Hromada (dt: Gemeinde) in Genf heraus und wurde 1889 Leiter der Abteilung für Weltgeschichte an der Universität Sofia.  

Nach Drahomanows Ansicht war die Ukraine, die aufgrund der historischen Umstände keine eigene Oberschicht und keinen eigenen Staat besaß, so ideal für die sozialistischen „Praktiken der staatenlosen Ordnungen“ geeignet, und die Ukrainer – „die zahlreichste der bäuerlichen Nationen Osteuropas“ – sollten eine Schlüsselrolle für die Verwirklichung eines idealen Föderalismus spielen. Dieses Ideal bestand in der Gleichberechtigung aller Nationalitäten. 

Drahomanow betrachtete nicht die Erlangung einer eigenen ukrainischen Staatlichkeit als höchstes Ziel. Im Gegenteil, er argumentierte am Beispiel Deutschlands, dass die nationale Einheit innerhalb eines Staates nicht unbedingt zu mehr Freiheit führe. Gleichzeitig forderte er sowohl die polnische als auch die russische sozialistische Bewegung nachdrücklich auf, die ethnisch-kulturelle Eigenständigkeit der Ukrainer anzuerkennen und auf imperialistische Bestrebungen zu verzichten. 

Batschynsky: Nationalstaat als notwendige Etappe zur sozialistischen Revolution 

Die erste theoretische Begründung für die politische Unabhängigkeit der Ukraine stammt aus dem Jahr 1895 und wurde von dem Lwiwer Marxisten Julian Batschynsky verfasst. In seinem Essay Ukrajina Irredenta versuchte Batsсhynsky, die von Friedrich Engels vorgeschlagene Analyse des Klassencharakters des Staates auf ukrainischen Boden zu übertragen. 

Batschynsky verglich die ukrainische mit der irischen Frage und stellte fest: „Die politische Unabhängigkeit der Ukraine ist eine unabdingbare Voraussetzung für ihre wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, buchstäblich für die Möglichkeit ihrer Existenz.“1 Diese politische Unabhängigkeit sollte dann für „alle Einwohner der Ukraine“ ohne Unterschied hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion gelten.  

In Anlehnung an Engels betonte Batschynsky, dass der Nationalstaat eine notwendige Etappe in der gesellschaftlichen Entwicklung und ein unvermeidliches Produkt der kapitalistischen Verhältnisse sei. Dementsprechend betrachtete er die politische Unabhängigkeit der Ukraine als Voraussetzung für die Herausbildung einer ukrainischen Bourgeoisie und folglich für die beschleunigte Schaffung von Bedingungen zur Intensivierung des Klassenkampfes und der sozialistischen Revolution. 

Lypynsky: Nation der Staatsbürger 

Der Sturz der Monarchie und die demokratische Februarrevolution von 1917 in Russland ermöglichten es der ukrainischen Intelligenz, die Ideale des Sozialismus, der Föderation und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung umzusetzen. Die in Kyjiw ausgerufene Ukrainische Volksrepublik hielt sich allerdings nicht einmal ein Jahr und wurde durch die militärische Aggression der russischen Bolschewiki gestürzt. Seit 1918 durchlebte die Ukraine ein Kaleidoskop von Regierungswechseln, ausländischen (deutschen, polnischen, französischen) Interventionen, Bauernaufständen und antijüdischen Pogromen. Im März 1921 wurde mit dem in Riga unterzeichneten Frieden eine neue Staatsgrenze festgelegt, nach der die ukrainischen Provinzen des ehemaligen Russländischen Reiches (mit Ausnahme Wolhyniens) zur Sowjetukraine unter bolschewistischer Herrschaft wurden und die westukrainischen Gebiete, die zuvor zum Österreichischen Kaiserreich gehört hatten, an den 1918 wiederhergestellten polnischen Staat abgetreten wurden. 

Die Niederlage der ukrainischen Revolution, die stark von sozialistischen und föderalistischen Parolen geprägt war, führte zu einem schmerzhaften Umdenken über die Aufgaben und Methoden der ukrainischen Bewegung. Wjatscheslaw Lypynsky, ein christlich-konservativer Denker, schlug dabei originelle Ansätze vor: Schockiert von den Erfahrungen der Revolutionsjahre 1917–1921 lehnte Lypynsky Demokratie und Sozialismus kategorisch ab. Aber seine Vision von der Zukunft der Ukraine schloss auch nationalen Exzeptionalismus oder Chauvinismus aus. Für Lypynsky waren die Mitglieder der ukrainischen Nation „alle Bewohner dieses Landes und alle Bürger dieses Staates“.  

Er selbst stammte aus einem polnischen Adelsgeschlecht und betonte: „Ein Ukrainer ist jeder, der will, dass die Ukraine keine Kolonie mehr ist“ – also jeder, der für die Gründung eines ukrainischen Staates eintritt. Lypynskys grundsätzlich integrativer Ansatz hatte großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des ukrainischen politischen Denkens. 

Donzow, Bandera & Zweiter Weltkrieg: Radikalisierungen im Kampf um Eigenstaatlichkeit 

In der Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahre erwies sich Lypynskys Einfluss jedoch als schwächer als der eines anderen politischen Theoretikers: Dmytro Donzow veröffentlichte 1926 in Lwiw sein Buch Nationalismus2 und predigte darin Ideen der nationalen Exklusivität und des rücksichtslosen Kampfes um Staatlichkeit.  

Die Konstante bei Donzow war eine radikal antirussische Haltung. Unter dem spürbaren Einfluss des deutschen Nationalsozialismus machten sich in seinen Texten militanter Antisemitismus und Rassismus breit. Donzows Kernthesen deckten sich mit der Rhetorik der 1929 gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die proklamierte, für die Eigenstaatlichkeit zu kämpfen. Da sie die Methoden der legalen demokratischen Politik grundsätzlich ablehnte, konzentrierte sich die OUN im Untergrund auf junge Menschen.  

Die jungen Nationalisten betrachteten die interethnischen Beziehungen im Sinne des Sozialdarwinismus als einen zerstörerischen Kampf ums Dasein. In Ablehnung jeglicher Rechtsstaatlichkeit strebte die OUN eine Revision der nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen an und suchte dementsprechend Kontakte zu Deutschland, das ebenfalls unmittelbar an einer solchen Revision interessiert war. Mit Blick auf Mussolinis Italien und Hitlerdeutschland befürwortet die OUN eine Einparteiendiktatur und das Führerprinzip. 1940 spaltete sich die OUN in zwei Fraktionen, die nach ihren Führern benannt wurden: die Banderiwzi (nach Stepan Bandera) und die Melnykiwzi (nach Andrii Melnyk).   

Nachdem am 22. Juni 1941 Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte, rückte am 30. Juni die Wehrmacht in Lwiw ein. Am selben Tag verkündete die OUN (B) in der Stadt die „Wiederherstellung des ukrainischen Staates“. Da diese Erklärung von den deutschen Behörden nicht genehmigt worden war, wurden Bandera (der sich zu diesem Zeitpunkt in Krakau aufhielt) und sein Abgesandter Jaroslaw Stezko verhaftet und in einer Sonderbaracke des Konzentrationslagers Sachsenhausen interniert (wo sie bis September 1944 festgehalten wurden). 

Die Mitschuld einiger ukrainischer Nationalisten am nationalsozialistischen Holocaust und die von der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) initiierte ethnische Säuberung der polnischen Bevölkerung von Wolhynien wurden zu den dunkelsten Seiten der Geschichte des ukrainischen Untergrunds.  

Bereits in den ersten Nachkriegsjahren kritisierten einige ukrainische emigrierte Denker die autoritären Methoden der OUN. Insbesondere der Philosoph Wassyl Rudko bezeichnete die ungezwungene Opferung von Menschen für die abstrakte Losung einer Volksrevolution als charakteristisches Merkmal der OUN und argumentierte, dass Donzows Ideologie den Weg für Totalitarismus und Gewaltkult geebnet habe. In den späten 1940er Jahren schrieb auch der Historiker Borys Krupnyzky über die Gefahren des modernen Nationalismus.  

Chwyljowy: „Unabhängiger republikanischer Organismus als Teil der Sowjetunion“? 

Infolge des Zweiten Weltkriegs wurden alle westukrainischen Gebiete, die bis 1939 zu Polen gehört hatten, Teil der Sowjetukraine. Mit anderen Worten: Es war Stalin – der Politiker, der für den Holodomor von 1932–33 und die Massenrepressionen verantwortlich war –, der das uralte Ideal der ukrainischen Bewegung verwirklichte: die Vereinigung aller ukrainischen Gebiete in einem Staat.  

Dieser Staat – die Sowjetunion – war 1922 gegründet worden, die Sowjetukraine war eine der Gründungsrepubliken. Obwohl die Sowjetherrschaft in der Ukraine mit militärischer Gewalt errichtet wurde, erkannten die Bolschewiki das Mobilisierungspotential der ukrainischen Nationalbewegung, der ukrainischen Sprache und der ukrainischen Nationalität. In den 1920er Jahren schien es vielen, als sei die Sowjetukraine nun die gewünschte Form der ukrainischen Staatlichkeit. So stellte zum Beispiel noch der Schriftsteller und Mykola Chwyljowy in seinem Pamphlet Ukraine oder Kleinrussland? (1926) fest: „Wir sind in der Tat ein unabhängiger Staat, dessen republikanischer Organismus ein Teil der Sowjetunion ist. Und die Ukraine ist nicht deshalb unabhängig, weil wir Kommunisten das wollen, sondern weil der eiserne und unwiderstehliche Wille der Gesetze der Geschichte es verlangt, weil wir nur so die Klassendifferenzierung in der Ukraine beschleunigen können.“  

Doch schon in den späten 1920er Jahren verbot die Sowjetregierung solche Äußerungen, die meisten kulturellen Eliten der Ukraine wurden Opfer von Repressionen, und die Praxis der Russifizierung, das heißt auch der Annäherung der ukrainischen Sprache an das Russische, wurde im Bildungswesen durchgesetzt. Trotz dieser sich weiter verstärkenden Tendenzen hat die Sowjetunion bis zu ihrem Ende weder den republikanischen Status der Ukraine noch die Eigenständigkeit der ukrainischen Sprache und Nationalität abgeschafft. 

Seit 1991: Demokratische Unabhängigkeit unter sowjetischem Erbe 

Im Jahr 1991 brach die Sowjetunion an den Grenzen von 15 Sowjetrepubliken zusammen. Im Falle der Ukraine hatte die bewusste Entscheidung der lokalen Parteieliten für eine Loslösung von Moskau und eine unabhängige Existenz einen entscheidenden Einfluss auf diesen Prozess. 1992 veröffentlichte die Deutsche Bank einen Bericht,3 demzufolge die Ukraine dank Industrialisierung, dem hohen Bildungsstand der Bevölkerung und ihrer natürlichen Ressourcen zu denjenigen Republiken mit den besten Voraussetzungen für ein wirtschaftliches, politisches und soziales Wachstum gehörte.  

Die hohen wirtschaftlichen Erwartungen in Verbindung mit der tiefen Enttäuschung über die staatliche Planwirtschaft der späten Sowjetunion und dem spürbaren Mangel an vielen Gütern erklären weitgehend die beeindruckenden Ergebnisse des Referendums über die Unabhängigkeit der Ukraine: Am 1. Dezember 1991 beteiligten sich 84,2 Prozent der registrierten Wähler an der Volksabstimmung, 92,3 Prozent von ihnen sprachen sich für die Unabhängigkeit aus.  

Am selben 1. Dezember wurde der ehemalige Vorsitzende der örtlichen Kommunistischen Partei, Leonid Krawtschuk, zum ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine gewählt. Und die Person des ersten Präsidenten war eine wichtige Sache: So ist der neue Staat nämlich nicht aus einer Revolution hervorgegangen, sondern wurde auf demokratischem Wege auf den Fundamenten der alten sowjetischen Institutionen errichtet. 

Die unabhängige Ukraine erbte die durch die sowjetische Expansionspolitik geschaffenen Grenzen, die Industrie- und Verkehrsinfrastruktur sowie alle durch die sowjetische Politik verursachten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme. Der neue Staat gewährte allen Menschen auf seinem Territorium automatisch die Staatsbürgerschaft, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Sprachkenntnissen.  

Die Ukraine verzichtete 1994 auch auf die sowjetischen Atomwaffen, die auf seinem Territorium stationiert waren – was damals die einzig richtige Antwort auf die schmerzliche Erfahrung des Unfalls von Tschornobyl 1986 und die allgemeine Auffassung von der Notwendigkeit einer weiteren nuklearen Abrüstung zu sein schien.  

Es ist erwähnenswert, dass es der unabhängigen Ukraine trotz aller wirtschaftlichen und sonstigen Schwierigkeiten gelungen ist, im Gegensatz zu ihren Nachbarn Russland und Belarus, ein politisches System mit regelmäßigen Regierungswechseln und kompetitiven Wahlen zu schaffen. Seit Dezember 1991 wurden in der Ukraine sieben Präsidentschaftswahlen abgehalten, und sechs Personen haben das Amt übernommen. Zum Vergleich: In Belarus gab es zwischen 1994 und 2024 einen Präsidenten, in Russland drei. 

Die Trennung der Ukraine von der UdSSR im Dezember 1991 verlief unblutig. Und auch die politische Entwicklung der unabhängigen Ukraine war bis Januar 2014 nicht von physischer Gewalt geprägt. Dies änderte sich erst mit dem Euromaidan, dann mit der Annexion der Krym durch Russland im März 2014 und dem Ausbruch des Krieges im Donbas im April 2014.  

Die vollumfängliche Invasion Russlands am 24. Februar 2022 und die Fähigkeit der ukrainischen Gesellschaft, sich dagegen zu wehren, haben viele Beobachter dazu veranlasst, den aktuellen Russisch-Ukrainischen Krieg tatsächlich als Krieg um die politische und kulturelle Unabhängigkeit der Ukraine zu bezeichnen. 

 

Diesen Beitrag als Auftakt zu einer Gnosen-Reihe über die Ukraine veröffentlichen wir in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).


1 Julijan Bačynsʹkyj, 1924. Ukrajina irredenta. Berlin: Vydavnyctvo ukrajinsʹkoji molodi. 
2 Dmytro Ivanovyč Doncov, 1926. Nacionalizm. Lʹviv: Nove žyttja. 
3 Ivan Mikloš, 2015. Quo vadis, Ukraine? Is there a chance for success? (Quo vadis Ukraino? Czy istniejeszansa na sukces?), mBank - CASE Seminar Proceedings 139, CASE-Center for Social and EconomicResearch. 
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Krym-Annexion

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)