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Wolhynien-Massaker

Die Gewalttaten von Wolhynien 1943 gehören zu den blutigsten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung im von den Nationalsozialisten besetzten Europa. Sie sind bis heute Dauerstreitpunkt der polnisch-ukrainischen Geschichte und Politik. Der Historiker Andrii Portnov umreißt die historischen Ereignisse damals und die politischen Folgen bis heute.  

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Wolhynien-Massaker

Am 4. Juni 2025 hat der Sejm, das polnische Parlament, den Wolhynien-Gedenktag am 11. Juli umbenannt. Aus „Nationaler Gedenktag der Opfer des Völkermords ukrainischer Nationalisten an Bürgern der Zweiten Polnischen Republik“ wird nun „Nationaler Gedenktag an die Polen, die dem Völkermord durch die OUN-UPA in den östlichen Gebieten der Zweiten Polnischen Republik zum Opfer fielen“.

Ab jetzt sind Opfer, Täter und Region noch deutlicher benannt. Und eingegrenzt.  

Das Datum, der 11. Juli, verweist auf den Höhepunkt des sogenannten Massakers von Wolhynien: Im Sommer 1943 hatte dort der ukrainische nationalistische Untergrund gleichzeitig mehrere polnische Dörfer und ihre Bewohner angegriffen. 

Das Thema Wolhynien 1943 nimmt einen zentralen Platz in der Erinnerungskultur des heutigen Polens ein. In der Ukraine dagegen wird es nach wie vor weniger thematisiert, obwohl – insbesondere im Kontext des Russisch-Ukrainischen Krieges – die Symbolik der ukrainischen nationalistischen Untergrundbewegung aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene aktiv genutzt wird.  

Die Gewalttaten von Wolhynien im Jahr 1943 gehören zu den blutigsten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung im von den Nationalsozialisten besetzten Europa. Sie sind bis heute die problematischste Seite der polnisch-ukrainischen Geschichte und Dauerstreitpunkt der polnisch-ukrainischen Beziehungen. 

Exhumierung polnischer Massaker-Opfer in der Westukraine: Im April 2025 beginnen polnische Archäologen gemeinsam mit ukrainischen Lokalhistorikern auf dem Alten Friedhof des Dorfes Pushniki in der Oblast Ternopil, nach den Überresten polnischer Bewohner zu suchen, die hier im Februar 1945 von ukrainischen Nationalisten getötet wurden. / Foto © Wojciech Olkusnik/Eastnews/ Imago 

Wolhynien ist eine Grenzregion im Nordwesten der heutigen Ukraine (Polnisch und Ukrainisch: Wolyn‘, Hauptstadt der gleichnamigen Oblast ist heute Luzk). In der Zwischenkriegszeit gehörte dieses überwiegend orthodox und ländlich geprägte Gebiet zum polnischen Staat – seine Bevölkerung belief sich auf 2,1 Millionen Menschen, darunter drei große ethnische Gruppen: Ukrainer (67,94 Prozent), Polen (16,5 Prozent) und Juden (9,78 Prozent).1  

Im September 1939 wurde die Region von sowjetischen Truppen besetzt, im Juni 1941 von der deutschen Wehrmacht. Bald darauf wurde die jüdische Bevölkerung Opfer der sogenannten „Endlösung“ des Dritten Reiches, der im Januar 1942 am Wannsee beschlossenen systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ganz Europas.  

Was geschah 1943 in Wolhynien? 

Im Herbst 1942 gründete der Stepan-Bandera-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN, 1940 aufgrund von Generationskonflikten in zwei Fraktionen gespalten) seine eigenen Streitkräfte: die Ukrainische Aufständische Armee (UPA). Bereits 1942 beschloss diese OUN-B, „alle Polen zu vertreiben”. Nach der Schlacht von Stalingrad 1943, die die Niederlage des Dritten Reiches und die Neufestlegung der Grenzen in Europa vorhersehbar machte, sollte die „anti-polnische Aktion” in Wolhynien garantieren, dass diese Region nicht Teil Polens bleiben würde.  

Offenbar folgte die OUN-B damit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, als die Nachkriegsgrenzen größtenteils auf Grundlage der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung gezogen wurden. Diese Vorstellung teilte auch die polnische Untergrundarmee Armia Krajowa (AK, deutsch: Heimatarmee), die sich für die Beibehaltung der Vorkriegsgrenzen Polens einsetzte und hoffte, dass die lokale polnische Bevölkerung dort verbleiben würde. 

Die „anti-polnische Aktion” der UPA stützte sich also auf die nationalistische Logik eines Rechts auf Gebietsbesitz aufgrund ethnischer Homogenität. Dabei versuchten die UPA-Einheiten, die Massenmorde an der zivilen polnischen Bevölkerung, die im Sommer 1943 in Wolhynien ihren Höhepunkt erreichten, als spontane Bauernaufstände zu tarnen. 

Die deutsche Besatzerverwaltung in Wolhynien (das zu diesem Zeitpunkt zum sogenannten Reichskommissariat Ukraine gehörte) griff nicht in die ethnischen Säuberungen ein, da sie darin wohl ein für die Besatzungsmacht günstiges Aufeinandertreffen zweier Gruppen der unterworfenen slawischen Bevölkerung sah. Die Besatzung der Region durch die Nationalsozialisten mit ihrer völkischen und rassistischen Ideologie schuf damit den Raum für nationalistische Angriffe zwischen besetzten Bevölkerungsgruppen. 

Opferzahlen und Zeugenberichte 

Historiker sprechen mittlerweile von insgesamt etwa 100.000 Opfern unter den Polen – davon etwa 60.000 Zivilisten in Wolhynien.2 Auch in der benachbarten Region Ostgalizien kam es zu Morden an der polnischen Bevölkerung: Dort wurden zwischen Juni 1943 und Juni 1945 rund 31.000 Menschen getötet.3 In der Folge verübte die Heimatarmee AK sogenannte Vergeltungsaktionen, bei denen zwischen 10.000 bis 15.000 ukrainische Zivilisten getötet wurden. 

Die Massaker an Zivilisten durch Vertreter beider nationalistischer Untergrundorganisationen wurden in den jeweiligen nationalen Narrativen beider Länder zu einem Tabuthema. Nur vereinzelt äußerten sich Beteiligte. Insbesondere Danylo Schumuk, der 1943 der UPA beigetreten war, erinnerte sich später daran, wie ukrainische Bauern in Wolhynien die Morde an „unschuldigen und völlig wehrlosen Menschen” verurteilten, und sprach offen von einem „schwarzen Fleck in der Geschichte der Befreiungsbewegung”.4  

In den Erinnerungen an seinen Dienst als Vollstrecker von Todesurteilen in der Heimatarmee AK (der er 1942 im Alter von 16 Jahren beigetreten war) beschreibt auch Stefan Dąmbski die gnadenlosen Morde an Volksdeutschen und Polinnen, die intime Beziehungen zu Deutschen hatten, sowie die Aktivitäten einer „Strafabteilung zur Liquidierung der Ukrainer“, die ukrainische Bauern tötete und Frauen vergewaltigte.5 

Homogenisierende Nachkriegs-Sowjetisierung 

Nach Kriegsende wurden sowohl Wolhynien als auch Ostgalizien Teil der Sowjetunion. Die USA und Großbritannien akzeptierten Stalins territoriale Forderungen und beschlossen, Polen die verlorenen östlichen Woiwodschaften durch ehemalige preußische Gebiete zu kompensieren. Die Nachkriegs-Sowjetisierung Osteuropas ging mit einer ethnischen Homogenisierung einher.  

Der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Region war durch den Holocaust vernichtet worden. Die deutschen Minderheiten wurden teilweise nach Deutschland zwangsumgesiedelt. Zwischen dem sozialistischen Polen und der Sowjetukraine fanden „freiwillige” Bevölkerungsaustausche statt – hinter diesem Begriff verbarg sich allerdings auch Zwangsdeportation von hunderttausenden Menschen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit. Vom 28. April bis zum 28. August 1947 führten die Behörden der neuen sozialistischen Volksrepublik Polen (PRL) die Aktion „Weichsel” durch, bei der 140.000 Ukrainer aus dem polnisch-sowjetischen Grenzgebiet nach West- und Nordpolen umgesiedelt wurden.6  Infolgedessen verschob sich das Nachkriegs-Polen nicht nur geografisch nach Westen, sondern wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte zu einem mononationalen Staat, in dem über 90 Prozent der Bevölkerung Polnisch sprachen und dem katholischen Glauben angehörten. 

Erinnerung an die „Wolhynien-Tragödie“ in der Ukraine 

Das Thema des Massakers von Wolhynien 1943 kam in sowjetischen Geschichtsbüchern nicht vor. Obwohl der Anführer der OUN-B, Stepan Bandera, einer der wichtigsten sowjetischen Antihelden war, wurde das größte Verbrechen der von ihm angeführten politischen Bewegung – die ethnische Säuberung der polnischen Bevölkerung in Wolhynien – verschwiegen. Der Grund: Die sowjetische Propaganda wollte nicht auf die massive Präsenz von Polen in jenen nun zur Sowjetunion gehörenden Gebieten hinweisen. Infolgedessen ist die gesamte Wolhynien-Problematik vielen Ukrainern, insbesondere denen ohne familiäre Wurzeln in der Westukraine, weitgehend unbekannt. Darüber hinaus wurden die Massengräber der polnischen Opfer bis vor Kurzem untersucht, ihrer wurde nie offiziell gedacht. 

In der nationalistischen Darstellung dagegen, die sich während des Kalten Krieges in ukrainischen Diasporakreisen im Westen entwickelte, wurde das Massaker von Wolhynien ignoriert, vernachlässigt oder zumindest heruntergespielt. Mit der OUN-B verbündete Publizisten entwickelten in den 1950er und 1960er Jahren verschiedene Strategien der Verharmlosung. Sie beschrieben die „anti-polnischen Aktionen” als „spontane Bauernrevolution gegen die polnische Herrschaft” und verwiesen dabei auf das Verteidigungsrecht der Unterdrückten. Sie behaupteten, dass die gewalttätigen Zusammenstöße von den deutschen Besatzern und/oder sowjetischen Partisanen provoziert worden seien. Sie erklärten, die polnischen Zivilisten in Wolhynien seien Opfer der „unverantwortlichen Politik” der polnischen Exilregierung geworden, die an den Vorkriegsgrenzen Polens festhielt. All diese Argumentationen dienten dem systematischen Versuch, die antipolnischen Operationen der UPA und die antiukrainischen Operationen der AK unter dem Begriff „Wolhynien-Tragödie” gleichzusetzen und die Verantwortung konkreter Kommandeure der OUN-B und der UPA herunterzuspielen.  

Das Hauptziel all dieser Diskursmanöver war und ist es, die UPA als eines der nationalen Symbole des Kampfes der Ukraine um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, insbesondere ihres antisowjetischen Kampfes in der Westukraine bis Anfang der 1950er Jahre. 

Gedenken an den „Wolhynien-Genozid“ in Polen 

Die polnische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg konzentriert sich auf mehrere Ereignisse. Zu den wichtigsten zählen: September 1939 – die Zerstörung des polnischen Staates durch die gemeinsame deutsch-sowjetische Aggression, das Massaker von Katyń an gefangenen polnischen Offizieren durch den sowjetischen Staat im Frühjahr 1940 und der Warschauer Aufstand 1944, der von den deutschen Truppen brutal niedergeschlagen und von der Roten Armee nicht unterstützt wurde. Alle diese Ereignisse stärken eine Erzählung von nationalem Martyrium. Die breite öffentliche Diskussion, die durch die Veröffentlichung des Buches „Nachbarn” von dem polnisch-amerikanischen Historiker Jan Tomasz Gross im Jahr 20007 ausgelöst wurde, etablierte noch einen weiteren Erinnerungsort: Jedwabne. In der Kleinstadt im Nordosten Polens ermordeten polnische Stadtbewohner im Juli 1941 bei einem Progrom jüdische Mitbürger. Die Geschichte von Jedwabne stellte die Polen erstmals auch als Täter, nicht nur als Opfer dar und löste damit eine hitzige Debatte aus.  

Wołyń-43 ist ein weiterer Meilenstein der Gedenkkultur in Polen. Doch hier liegt die Besonderheit darin, dass die Massenmorde an polnischen Zivilisten in Gebieten stattfanden, die außerhalb der polnischen Nachkriegsgrenzen lagen. Diese Region ist in der polnischen nationalen Mythologie als Kresy (Grenzgebiete): Gebiete im Osten Europas, die zwischen dem 14. und späten 18. Jahrhundert und erneut in kleinerem Umfang zwischen 1919 und 1939 zum polnischen Staat gehörten. Sie gelten als „verlorenes Paradies” der „zivilisatorischen Mission” Polens.  

Im sozialistischen Polen der Nachkriegszeit wurden die Verbrechen der UPA an der polnischen Bevölkerung schließlich in Büchern und Filmen ausführlich thematisiert. Doch diese Medienprodukte konzentrierten sich auf die Gebiete des Nachkriegspolens und nicht auf die, die nun zum Territorium der Sowjetukraine gehörten. Wolhynien fehlte in den Darstellungen völlig. Die antisowjetischen Aktivitäten der UPA und die Geschichte der AK auf dem Gebiet der Ukraine wurden auch hier übergangen, die Zahl der Opfer wurde nicht genannt. 

Polnische Fachleute sind sich einig, dass die „antipolnische Aktion“ in Wolhynien und Ostgalizien vom ukrainischen nationalistischen Untergrund organisiert worden war und genozidale Absichten hatte: Ziel sei die Auslöschung der Polen als nationale Gruppe auf einem bestimmten Gebiet gewesen, das als ethnisch ukrainisches Gebiet betrachtet wurde. Dieser wissenschaftliche Konsens ist Teil der Dynamik der polnischen Geschichtspolitik nach dem Fall des Kommunismus. Die politischen und intellektuellen Eliten Polens, die eine Normalisierung der Beziehungen zur Ukraine anstrebten, vermieden auch Anfang der 1990er Jahre noch bewusst eine übermäßige Betonung des Themas Wolhynien; sie waren der Meinung, dass der junge ukrainische Staat erst einmal stabiler werden müsse, um zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den dunklen Seiten der eigenen nationalen Geschichte reifen zu können.8  

Im Jahr 2003 dann erwartete Polen, dass die Ukraine diese Reife schon erreicht haben sollte. Dies erfüllte zumindest teilweise der von 59 ukrainischen Intellektuellen unterzeichnete Brief „Die unheilbare Wunde von Wolhynien“9, der die Formel „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ vorschlug und sich eindeutig an den berühmten Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965 anlehnte.10  

Am 11. Juli 2003 gaben die Präsidenten beider Länder, Leonid Kutschma und Aleksander Kwaśniewski, schließlich eine gemeinsame Erklärung zur Versöhnung ab. Im selben Jahr tauchte in Warschau im Wolhynien-Park ein neues Denkmal auf – steinerne Wolhynien-Kerzen, die die zwölf Verwaltungsbezirke der Wolhynien-Region symbolisieren sollten, in denen die Morde stattgefunden hatten. 

Zehn Jahre später, im Jahr 2013, reichten vielen politischen Akteuren in Polen solche Formeln und Symbole der gegenseitigen Vergebung jedoch nicht mehr aus. Der ukrainischen Seite war offensichtlich nicht gewillt, das Ausmaß der von der UPA begangenen Verbrechen verantwortungsvoll anzuerkennen. Am 20. Juni 2013 verabschiedete die obere Kammer des polnischen Parlaments, der Senat, eine Resolution zur Ehrung der Opfer der „ethnischen Säuberung mit Merkmalen eines Völkermords”11. In dem Dokument wurden sowohl die diskriminierende nationale Politik des Zwischenkriegsstaates Polen als auch die polnischen Vergeltungsmaßnahmen gegenüber der ukrainischen Bevölkerung erwähnt. Nicht enthalten war jedoch der von rechten politischen Kreisen vorgeschlagene 11. Juli als offizieller Gedenktag.  

Dennoch wurde am 11. Juli 2013 in Warschau ein Denkmal für die Opfer des Massakers von Wolhynien enthüllt – ein sieben Meter hohes Kreuz mit einem gekreuzigten Christus mit abgehackten Händen. Diese Symbolik setzte die Opfer von Wolhynien direkt mit dem seit jeher bestehendem polnischem Messianismus (der Idee Polens als „Christus der Völker“) gleich. 

Am 8. Juli 2016 kniete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko vor diesem Denkmal nieder – doch diese Geste konnte die neue Dynamik der polnischen Erinnerungspolitik nicht stoppen. Im selben Jahr, am 22. Juli, erklärte das polnische Parlament, den 11. Juli zum „Nationalen Gedenktag für die Opfer des Völkermords an Bürgern der Zweiten Polnischen Republik durch ukrainische Nationalisten“. Ebenfalls 2016 kam der Spielfilm „Wołyń” (in Deutschland 2019 unter dem Titel „Sommer 1943 – Das Ende der Unschuld“) von Wojciech Smarzowski in die Kinos, der offen mit antiukrainischen Stereotypen spielte. 

 

Im Juli 2023, eineinhalb Jahre nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine und der großen polnischen Solidaritätswelle gegenüber ukrainischen Flüchtenden, gedachten zum 80. Jahrestag der Verbrechen von Wolhynien erneut die Präsidenten der Ukraine und Polens, mittlerweile Wolodymyr Selensky und Andrzej Duda, gemeinsam bei einem Trauergottesdienst in Luzk der Opfer. Gleichzeitig nutzte Polen seine Forderungen an die Ukraine nach Exhumierung der Wolhynien-Opfer immer wieder als Druckmittel in politischen Verhandlungen, drohte mit Blockade des EU-Beitrittsverfahrens für die Ukraine oder bei Entscheidungen zur Waffenhilfe für das angegriffene Land.  

Im Frühjahr 2025 begannen die – nach Kriegsbeginn zunächst aufgeschobenen – Exhumierungen in der Westukraine schließlich doch, trotz der realen Gefahr russischer Luftangriffe. Indes sorgte eine diskreditierende Gedenktafel auf dem Grab von UPA-Soldaten im heute südostpolnischen Horyniec-Zdrój für Verstimmung auf ukrainischer Seite. Im Juni benannte Polen seinen Wolhynien-Gedenktag um. 

Versäumnisse statt Verständnis 

Im Großen und Ganzen ging es in der polnischen Debatte über die „Wahrheit über Wolhynien” nie nur darum, den Opfern die gebührende Ehre zu erweisen, sondern oft auch um ukrainefeindliche Äußerungen und Versuche, die Rolle von polnischen Beteiligten am Holocaust herunterzuspielen oder zu leugnen. Die Kyjiwer Regierung hingegen hat das Thema der Wolhynien-Massaker jahrelang auf die leichte Schulter genommen und die Gelegenheit verpasst, selbst und proaktiv die Exhumierung der Opfer und die Einrichtung einer internationalen historisch-juristischen Kommission zu initiieren.  

Der Lemberger Historiker Jaroslaw Hrytsak bemerkt passend: Die Ukrainer müssten noch verstehen, dass „Wolhynien im heutigen polnischen Geschichtsbewusstsein ungefähr dieselbe Rolle spielt wie der Holodomor 1932/33 im ukrainischen“. Beide Seiten sollten sich bewusstwerden, dass die Anerkennung der Schuld kein Akt der nationalen Erniedrigung sein muss – im Gegenteil, sie kann Ausdruck nationaler Würde und Reife sein.12  

 

Diesen Beitrag veröffentlichen wir als Teil einer Gnosen-Reihe über die Ukraine in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)

 

Leseempfehlungen zum Thema: 
Andrii Portnov, 2025: Ukraine-Studien. Einführung. Baden-Baden: Nomos.  
Andrii Portnov, 2023: Polska i Ukraina: wspólna historia, asymetryczna pamięć. Berlin–Warszawa: Polska Akademia Nauk. 
Andrii Portnov, 2022: Polen und Ukraine. Verflochtene Geschichte, geteilte Erinnerung in Europa. Forum Transregionale Studien. 
Andrii Portnov, 2020: Poland and Ukraine. Entangled Histories, Asymmetric Memories. Essays of the Forum Transregionale Studien, Bd. 7, Prisma Ukraïna, 2020.
Mikhail Tyaglyy, 2020: Die Einstellung der einheimischen Bevölkerung in der besetzten Ukraine zur Verfolgung der Roma (1941–1944). Lüneburg: Übersetzte Geschichte, Nordost-Institut.

1 Włodzimierz Medrzecki, 1988. Województwo wołyńskie 1921–1939: Elementy przemian cywilizacyjnych, społecznych i politycznych. Wrocław–Warszawa–Kraków, Zakład Narodowy im. Ossolińskich. 
2 Grzegorz Motyka, 2016. Wołyn ʼ43. Kraków: Wydawnictwo Literackie;  
Ihor Ilʹjušyn, 2009. UPA i AK. Protystojannja u Zachidnij Ukrajini (1939–1945 rr.). Kyjiv: Kyjevo-Mohyljansʹka akademija. 
3 Damian K. Markowski, 2025. W cieniu Wołynia. „Antypolska akcja“ OUN i UPA w Galicji Wschodniej 1943–1945. Kraków: Wydawnictwo Literackie. 
4 Danylo Šumuk, 1974. Za schidnym obrijem. Spomyny. Paryž: Smoloskyp, s. 34, 51. 
5 Stefan Dąmbski, 2013. Egzekutor. Warszawa: Karta, S. 114–115. 
Jan Pisuliński, 2023. Akcja specjalna „Wisła”. Rzeszów: Libra, 2022; Grzegorz Motyka, Akcja „Wisła” ʼ47. Komunistyczna czystka etniczna. Kraków: Wydawnictwo Literackie. 
7 Jan Tomasz Gross, 2001. Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München, Verlag C.H.Beck. 
8 Grzegorz Motyka, 2009. Druha svitova vijna v polʹsʹko-ukrajinsʹkych istoryčnych dyskusijach. Ukrajina Moderna, t. 4 (15), s. 127–136. 
9 Juri Andruchowytsch u.a., 2003. Nezahojena rana Volyni. Vidkrytyj lyst z pryvodu 60-ričnyci zbrojnoho ukrajinsʹko-polʹsʹkoho konfliktu na Volyni. Online: URL http://www.ji-magazine.lviv.ua/dyskusija/volyn/vidozva.htm 
10 Urszula Pękala, 2020. Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe. Oldenburg:  Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018, URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p43232 
11 Senat Rzeczypospolitej Polskiej: Uchwała Senatu Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 20 czerwca 2013 r. w 70. rocznicę Zbrodni Wołyńskiej, Warszawa, URL: https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WMP20130000582/O/M20130582.pdf  
12 Jaroslav Hrycak, 2024. Šče raz pro polʹsʹko-ukrajinsʹke prymyrennja. Kyjiv, New Voice 10/2024, online: URL: https://nv.ua/ukr/opinion/ukrajina-polshcha-istorik-gricak-pro-te-yakim-maye-buti-primirennya-mizh-ukrajincyami-ta-polyakami-50457751.html 
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