Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Marysia Myanovska
Links: Oxana „Xena“ Rubaniak am Steuer ihres Wagens. Die 21-Jährige ist Kommandeurin einer Drohnen-Einheit. Rechts: ein Beobachtungsposten der Ukrainischen Streitkräfte in einem Wald bei Charkiw / Fotos © Marysia Myanovska
Links: „Xena“ am Kommandoposten bei Charkiw; rechts: Schlafbereich am Einsatzort der Spezialeinheit / Fotos © Marysia Myanovska
dekoder: Diese Bilder sind Teil Ihrer Serie Zone of Seismic Activity, die sie im vergangenen Jahr an der Front im Osten der Ukraine aufgenommen haben. Worauf bezieht sich der Titel?
Marysia Myanovska: Zone of Seismic Activity bezieht sich auf Veränderungen, die unter der Oberfläche vor sich gehen und lange unsichtbar bleiben – bis sie mit einem Mal ausbrechen und man sich ihnen stellen muss. Viele dokumentarische Arbeiten zeigen die Oberfläche des Krieges: Explosionen, zerstörte Gebäude, verletzte Körper. Die Landschaften, in denen gekämpft wird, sehen aus wie umgepflügt. Aber was ist mit dem, was im Innern der Menschen passiert? Diese Veränderungen bleiben verborgen, bis sie eine unumkehrbare Kraft erreichen und unkontrolliert an die Oberfläche dringen. Wie eine Naturgewalt, die sich dem menschlichen Willen entzieht.
Sie wollten mit der Kamera etwas einfangen, was unter der sichtbaren Oberfläche liegt?
Im Einsatz der Soldatinnen und Soldaten hängt viel davon ab, wie gut man sich unter Kontrolle hat. Unter Bedingungen ständiger innerer Anspannung kann ein unkontrollierter Gefühlsausbruch andere demoralisieren. Das ist etwas, was jeder Soldat und jede Soldatin lernt – die eigenen Emotionen zu kapseln und ihr Erleben auf später zu verschieben. Nur tritt dieses „später“ sehr lange nicht ein.
Ihr Fokus liegt auf dem persönlichen Raum, der den Soldatinnen im Einsatz bleibt. Was macht den aus?
Unmittelbar an der Front schrumpft der private Raum praktisch auf null zusammen. Gleichzeitig wächst die Einsamkeit. Es klingt vielleicht paradox, aber wenn man bei der Armee 24 Stunden am Tag mit den Kameraden verbringt und die einzigen Momente, an denen man mal allein ist, Dusche und Toilette sind, dann beginnt man, sich in sich selbst zurückzuziehen und privaten Raum dort zu suchen. Ich habe also die Schlafplätze, Duschen und Autos fotografiert, in denen die Soldatinnen kampieren. Es sind Orte, an denen sie wenigsten für wenige Minuten am Tag sie selbst sein können.
Wie schaffen es die Frauen unter solchen Bedingungen, sich ein Gefühl von Zuhause oder Identität zu bewahren?
Die meisten von ihnen haben nicht mehr persönlichen Dinge, als in eine einzige Tasche passen: ein Foto, ein Talisman, ein Stofftier, vielleicht ein Buch. Eine der Protagonistinnen, Andriana, hat ihr Auto in einen solchen persönlichen Raum verwandelt. Dort schläft sie, pflegt sich, hört Musik und bewahrt ihre Sachen auf. Damit der Feind sie nicht orten und beschießen kann, müssen die Soldatinnen häufig ihren Standort wechseln. Durch dieses ständige Umziehen wird es fast unmöglich, einen Ort wirklich zu seinem eigenen zu machen.
Wie lange sind diese Frauen schon an der Front?
Einige von ihnen sind seit Beginn der Vollinvasion dort – also seit drei Jahren. Natürlich haben sie mal Fronturlaub. Aber wenn man ein halbes Jahr so lebt, dass alles, was man hat, in eine Tasche passt, dann fühlt man sich selbst in seinem „alten Zuhause“ so, als würde es nicht zu einem gehören. Wenn man die Dinge nicht täglich benutzt, werden sie einem fremd.
Haben sie denn immerhin über Telefon Kontakt zum Leben jenseits der Front?
Ja, aber das ist auch eine seltsame Erfahrung: Du scrollst durch Instagram und fühlst dich völlig abgetrennt von allem, was du dort siehst. Als wärst du auf einem anderen Planeten. Das echte Leben scheint hier zu sein, an der Front; es ist körperlich spürbar. Das liegt auch daran, dass die Soldatinnen dort ständig im Überlebensmodus sind. Wenn man dann für kurze Zeit zurückkehrt, erscheint vieles im zivilen Alltag plötzlich sinnlos. Man hat das Gefühl, als würden wir unsere Zeit mit Dingen vergeuden, die völlig unwichtig sind.
Was Sie schildern erinnert an Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (BTBS). Sie waren zwei Mal für je zwei Wochen mit den Frauen an der Front. Wie mag es ihnen gehen, wenn sie nach Jahren zurück ins zivile Leben kommen?
Ich hoffe, dass unsere Gesellschaft bereit sein wird, das zu erkennen – dass wir einander zuhören und voneinander lernen. Ich vermute, dass Oxana ihre Laufbahn beim Militär fortsetzen wird – sie ist jung und sehr talentiert. Andriana möchte sich um ihren Sohn kümmern, sie leitet auch eine NGO für Veteranen. Sie wird sicher weiter in diesem Bereich arbeiten. Kuba war vor dem Krieg Designerin, vielleicht kehrt sie zu diesem Beruf zurück.
Aber eins ist klar: Wir alle sind traumatisiert, nur in unterschiedlichem Ausmaß. Und wir müssen lernen, die Erfahrungen anderer zu respektieren, ohne sie zu vergleichen.
Gibt es in der Ukraine Aufmerksamkeit für dieses Problem?
Ja, aber es reicht noch nicht aus. Es gibt viele NGOs und auch Veteran:innen, die jetzt schon helfen. Aber wenn der Krieg endet, werden viel mehr Menschen Hilfe brauchen. Heute ist es besser als 2018 oder 2019, als nur ein kleiner Teil der Bevölkerung direkte Kriegserfahrung hatte. Heute betrifft es fast jede Familie. Das schafft mehr Verständnis und eine gemeinsame Sprache.
Kann Kunst dabei helfen, mit Trauma umzugehen?
Ich hoffe es. Manche Dinge lassen sich schwer in Worte fassen. Aber Bilder, Musik und Kunst allgemein, ermöglichen es vielen Menschen, Gefühle auszudrücken, ohne sie benennen zu müssen. Fotografien können eine Verbindung schaffen. Das ist die Kraft von Kunst: Sie schafft Empathie und lässt Menschen spüren, was andere erleben – auch ohne Worte.
Marysia Myanovska (geb. 1990) lebt in Kyjiw und Krakau. Sie absolvierte die Victor Marushchenko School of Modern Photography und konzentriert sich in ihrer Arbeit auf die Verbindung zwischen Menschen und ihrem Lebensraum. 2023 gewann sie den Preis des EU Neighbours East Programms. In ihrem Projekt Oh Brother, Where Art Thou begab sie sich auf die Spuren ihres verstorbenen Bruders. Es ist zugleich ein Porträt des Kyjiwer Hochhausviertels Trojeshtschyna. / Foto © Valerii Veduta
Fotos: Marysia Myanovska
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am. 31.07.2025