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Gaunersprache im Kreml

Mit den immer gravierenderen Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht in Russland ging in den vergangenen Jahren auch eine Verrohung der Sprache und der Umgangsformen der politischen Elite einher. Selbst Diplomaten verwenden heute Formulierungen, die ursprünglich aus der kriminellen Unterwelt stammen. Wladimir Putin brüstet sich damit, in seiner Jugend selbst ein Rowdy gewesen zu sein. Nicht zuletzt in Verbindung mit einer populären Streaming-Serie wurde zuletzt wieder viel über die Kultur gewalttätiger Jugendgangs diskutiert, deren Mitglieder sich selbst als Pazany bezeichnen. Sie handeln nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem eigenen Kodex, po ponjatijam. Dort zählen allein Stärke und Skrupellosigkeit, Nachgeben ist ein Zeichen von Schwäche, wer sich entschuldigt, hat verloren. Die Soziologin und Kriminologin Svetlana Stephenson von der London Metropolitan University hat die Entstehung solcher krimineller Jugendgangs in den 1980er Jahren der Sowjetunion erforscht und in ihrem Buch Gangs of Russia beschrieben. In einem Beitrag für das Online-Magazin Holod erklärt sie, wie Sprache und Umgangsformen dieser kriminellen Subkultur Eingang in die russische Politik fanden.

Quelle Holod

Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen. Er muss bereit sein, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen. Szene aus der Serie Slowo pazana / © RostelecomEin Paradox im öffentlichen Auftritt der russischen Staatsmacht ist der Graben zwischen den Beteuerungen über Russlands Größe, seine Geschichte, Kultur und Moral einerseits, und dem Straßenbanden- und Knastsprache, die eben jene Staatsmacht oft und gern verwendet. Wobei ausgerechnet Personen diesen Kreml-Fenja verwenden, die selbst nicht in der Gosse aufgewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil in gebildeten, ja geradezu elitären Kreisen ihre Erziehung genossen.

Die Hinwendung dieser „Elite“ zur Sprache der Hinterhöfe und Gefängnisse begann allerdings nicht in den 1990ern, in denen der Einfluss der Kriminalkultur auf die Gesellschaft seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurden Film und Literatur von der düsteren Tschernucha überschwemmt, und aus jedem Radio dudelten Lieder aus der Lagerfolklore. Doch Jelzin (wie auch seine Vorgänger) und sein Umfeld benutzten keinen Gefängnisjargon, wenn sie sich an die Bevölkerung oder ausländische Amtskollegen wandten. Zur Staatssprache wurde Kreml-Fenja erst unter Putin. Die Gewalt der Straße, die in den 1990ern blühte, wurde von staatlicher Gewalt abgelöst, die sich der Sprache der Hinterhöfe und der Unterwelt bedient.

Die Elite spricht eine Sprache der Drohungen und Erniedrigungen

Begonnen hat diesen Trend Putin, der mit stolzer Brust seine Kindheit im Sankt Petersburger Hinterhof heraufbeschwört. Im Gespräch mit den Verfassern seiner ersten Biografie Aus erster Hand erzählte er: „Ich war ja ein Rowdy, kein Pionier […] Ich war eigentlich ein Rabauke.“ Die Sprache der Straße, der Drohungen und Erniedrigungen („im Klo abmurksen“, „wer uns beleidigt, überlebt keine drei Tage“), die Vorstellung von Gewalt als Beziehungsgrundlage („wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache kriegen Prügel“, „wenn eine Schlägerei unvermeidbar ist, schlag als erster zu“) – all das gehört mittlerweile zu dem Stil, den die Entourage des Präsidenten an den Tag legt. 

Seit Jahren bedienen sich die russische Führung und die Kreml-Propaganda des Gaunerjargons. Erinnern wir uns etwa daran, wie Viktor Solotow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Alexej Nawalny eine otwetka (dt. wörtl. „eine kleine Antwort“) in Aussicht stellte, als dieser ihn der Korruption bezichtigte. Kürzlich lieferte sich der bekannte Moderator Wladimir Solowjow einen Schlagabtausch mit dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, Jewgeni Kujaschew, in einem Jargon, der wörtlich ins Deutsche übertragen etwa so klingen würde: „Schlägst du mir etwa einen Uhrzeiger ein, Gouverneur?“ (was so viel heißt wie: Willst du mir etwa vorschreiben, wann wir uns treffen?). Worauf dieser den Moderator ermahnte: „Passen Sie auf, was Sie da sagen.” Was ähnlich klang wie der Jargon-Ausdruck: „Passen Sie auf, was Sie da zum Basar tragen.” Was so viel heißt wie: Seien Sie bloß vorsichtig.

Als der Schanson-Sänger Alexander Nowikow daraufhin Solowjow in noch ausgefeilterem Fenja den Marsch blies, bewies das einmal mehr, dass mittlerweile Gouverneur und Staatspropagandist und Schanson-Sänger denselben Kriminaljargon sprechen.

Wenn der Außenminister, an die internationalen Regierungschefs gewandt, sagt: „Der Pazan hat’s gesagt, der Pazan hat’s getan“, wenn der Fernsehmoderator mit einem Eimer Kot ins Studio kommt und droht, ihn über seinen Opponenten zu kippen, und der UNO-Botschafter des Landes sein Gegenüber harsch auffordert: „schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, dann fühlen wir uns wie in einem schlechten Gangsterfilm.

Ein Befreiungsschlag gegen den Anstand 

Der Einsatz von Redewendungen aus dem Knast und aus der Gosse und generell die saloppen Verhaltensweisen haben etwas Karnevaleskes, einen Show-Effekt, sie wirken wie ein erleichternder Befreiungsschlag gegen den Anstand. Allerdings ist die Karnevalskultur, wie der Philologe Michail Bachtin schrieb, traditionell eine niedere, eine Volkskultur. Hier jedoch haben wir es ganz deutlich mit karnevaleskem Verhalten von Angehörigen des Establishments zu tun, die öffentlich und genüsslich gesellschaftliche Normen übertreten. Und wenn die Lachkultur des Volkes auf Tollerei beruht, die die Ketten der Kontrolle und Unterdrückung durch die Machthaber sprengt, so ist der Karneval der Machthaber ein Fest des Todes, der Gewalt und Unterwerfung. Dem Eros des Volkes, der Leben hervorbringt, stellt sich der Thanatos der Macht entgegen.           

Ein auf brutaler, überbordender Gewalt basierendes Verhalten hat tatsächlich viel mit dem Verhalten gemein, das in dem Milieu üblich ist, in dem „echte Pazany“ am Werk sind, Mitglieder von Straßenbanden. Da der Pazan der Souverän seines Territoriums ist, ist er dem ungeschriebenen Gesetz der Straße folgend – po ponjatijam – immer im Recht. Was auch immer er getan hat, selbst wenn es keine Absicht war, irrtümlich, aus Dummheit oder so genannter Willkür (wenn also die Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist) – er muss darauf bestehen, im Recht zu sein. Unter keinen Umständen darf er sich entschuldigen.   

Dieser Regel folgt ganz offensichtlich auch die russische Regierung (erinnern wir uns an die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines und an all die Versionen von „wir sind dort nicht“, [mit dieser Formulierung wurde nach 2014 der Einsatz russischer Soldaten im Donbass geleugnet – dek]). Das Eingeständnis einer Schuld bedeutet Gesichtsverlust, daher werden alle Vorwürfe sofort zurückgewiesen. Sogar da, wo es im eigenen Interesse gelegen hätte, die Situation zu entschärfen – wie zum Beispiel nach Lawrows ungeheuerlichen Äußerungen über Hitlers jüdische Wurzeln und antisemitische Juden –, blieb das Außenministerium noch eine Weile bei dieser These und beschuldigte Israel, in der Ukraine Neonazis zu unterstützen. Dass Putin sich beim israelischen Premierminister entschuldigte, ist eine große Ausnahme und auf existenzielle Interessen eines Regimes zurückzuführen, das einen Verbündeten braucht. Zudem erfolgte die Entschuldigung heimlich: Dass der russische Präsident mit Naftali Bennett telefoniert hatte, wurde nicht aus dem Kreml berichtet, sondern aus Israel. 

Angegriffen werden nur Schwächere

Das Wort des Pazans hat sofortige und unmittelbare Gültigkeit. Er darf keine leeren Drohungen aussprechen. Wenn Putin der Welt mit Atomwaffen droht, dann behauptet er durchaus po ponjatijam: „Wir spucken keine großen Töne, wir tun das, und fertig.“ Wem die Banditenlogik fremd ist, dem erscheint eine solch bedingungslose Entschlossenheit, wenn es um Leben und Tod von Millionen Menschen geht, moralisch unmöglich. Aber po ponjatijam ist alles ganz einfach: Ein Pazan darf nicht nur mit der Waffe herumprahlen, sonst riskiert er einen Gesichtsverlust. Sobald er sie zeigt oder auch nur erwähnt, muss er auch bereit sein, sie einzusetzen. 

Steht ein Pazan jedoch ganz unerwartet auf der Straße einer überlegenen Gruppierung gegenüber oder gerät in eine Schießerei, so verhält er sich ganz anders. Er fängt an zu bluffen: Er tut, als erwarte er jeden Moment Verstärkung, beult seine Taschen aus, um gar nicht wirklich vorhandene Waffen vorzutäuschen. Auf solche Bluffs ist man hinterher unheimlich stolz, sie finden genauso wie Geschichten über Straßenkämpfe und Massenschlägereien Eingang in die Bandenfolklore. Einer stärkeren Bande erklärt niemand absichtlich den Krieg – man greift immer nur scheinbar Unterlegene an. Zusammenstößen mit überlegenen Gegnern versucht man lieber auszuweichen.   

Eine Konfrontation auf der Straße beginnt oft mit der Forderung: „Schau mich gefälligst an!“ (Oder auch umgekehrt: „Was glotzt du mich so an?“) Auf diese Weise ergreift ein Pazan die Initiative und demonstriert, dass er es ist, der die Regeln der Interaktion bestimmt. Nur wer ein Pazan ist, hat einen Namen und ist den anderen ebenbürtig. Wer zu keiner Bande gehört, zu keinem Clan, keine Macht hinter sich hat, der ist ein namenloser Niemand. Deswegen nimmt Putin auch Nawalnys Namen nicht in den Mund, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde. 

Ein Anführer in diesem Milieu muss ständig seine Macht und Stärke demonstrieren 

Bei unseren Recherchen zur organisierten Kriminalität in Kasan fasste ein Bandenmitglied die Ordnung innerhalb der Bande im Interview so zusammen: „Der Anführer muss ein harter, selbstsicherer Mann sein, der die Macht liebt und bereit ist, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.“ Schwäche zu zeigen oder die Gruppe durch Kämpfe mit Gegnern zu schwächen, kann für den Anführer den Verlust seiner Macht oder sogar seines Lebens bedeuten. 

Anführer und Autoritäten, die sich von Straßenbanditen zu Bossen krimineller Vereinigungen hochgekämpft haben, müssen auf jede erdenkliche Art ihre Macht demonstrieren: mit Brutalität, Unberechenbarkeit und Grobheit, um nicht nur Gegnern Angst einzujagen, sondern auch den Respekt seiner eigenen Mitstreiter zu verdienen. Während der allseits bekannten Versammlung des russischen Sicherheitsrats am Tag vor der Invasion in die Ukraine spielte Putin den skrupellosen Mafiaboss, der in seinem Umfeld keine Zweifel duldet und über Leichen geht. 

Auch gemäßigtere Autoritäten machen demonstrativ harte Ansagen, um weiterhin zur herrschenden Elite zu gehören. Zum Beispiel Ex-Präsident Dimitri Medwedew, der einst als liberal galt, jetzt aber den ukrainischen Gegnern rät, „sich nach allen Seiten gründlich umzusehen“, und überlegt, wie man „den [nach Westen orientierten] Sapadniki die Nasen in den Dreck stoßen“ könnte.

Aus einer Bande kommt man nur sehr schwer ohne Verluste heraus. Wenn einer geht, wird er kollektiv „abgefertigt“, verprügelt, noch dazu wird ihm alles Geld abgeknöpft, das er angeblich der Gruppe schuldet. Manchmal enden solche „Abfertigungen“ mit schweren Verletzungen oder sogar dem Tod ehemaliger Mitglieder der Pazan-Bruderschaft. Dieses „Abschiedsritual“ veranschaulicht, dass die Einigkeit der Gruppe über der früheren Freundschaft und über geleisteten Verdiensten steht. Hier kann man Parallelen zu Vergeltungsaktionen sehen, die Mitgliedern der herrschenden Elite drohen, wenn sie beschließen „zu gehen“, auszuwandern oder es wagen, die Staatsmacht zu kritisieren. 

Die Staatsspitze ist selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden

Natürlich ist die Struktur des russischen Staates komplexer als die einer kriminellen Bande. Der Stil der Pazany und die entsprechende Verhaltenslogik der Regierung lässt jedoch auf ihre tiefgreifende Primitivisierung schließen. Insofern ist die Staatsspitze rund um Putin, die den Rechtsstaat und die gesellschaftlichen Institutionen zerschlagen hat, universelle moralische Normen großkotzig mit Füßen tritt und das soziale Gefüge zerstört, selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden.     

Primitiv ist auch die russische Gesellschaft geworden. Die Sprache und die Praxis der Gewalt können ethische Inhalte nicht ersetzen, sie können keinerlei positives Programm liefern. Hinter dem barbarischen Karneval verbirgt sich Leere. Diese Leere beginnt allzu leicht der Faschismus auszufüllen, der einerseits das Böse und die Zerstörung verkündet, andererseits die Primitivität und Leere „mit intensivierter Vergeistigung und Moralismus“ stopft, wie Merab Mamardaschwili schrieb.

Diesen Kult der nackten Gewalt hat die Staatsmacht mit einem Kult der Ahnen umgeben, mit der heiligen Geschichte, der ethnischen Exklusivität und in letzter Konsequenz dem Krieg. Aus primitiven, kriminellen, mafiösen Formen werden vor unseren Augen ultrarechte, faschistische Phänomene. 

Derzeit ist schwer vorstellbar, wie und wann die Primitivisierung ein Ende findet und das Wachstum von sozialen Bindungen und institutionellen Beziehungen wieder einsetzt, die nicht auf ponjatija gründen und nicht allein aus Herrschaft und Unterdrückung bestehen. Aber eins ist klar – solange Krieg ist, müssen wir in den Abgrund der Verrohung blicken, der sich hinter dem jahrelangen Karneval der Gewalt aufgetan hat.

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Gopniki

In Jogginghosen und Schiebermützen hocken sie halbkreisförmig im Slavic Squat, in der Mitte einе zwei Liter Plastikflasche Billigbier und ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen. Laut Klischee sind Gopniki (klein)kriminell, ungebildet und kommen mit einem spezifischen Vokabular von nur vier Grundwörtern aus. Demgegenüber versteigen sich manche russischen Soziologen dazu, mehr als jeden dritten Einwohner des Landes zu dieser Subkultur zu zählen.

Klischees über Klischees – der Gopnik / Foto © Wolodymyr Pankratow/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

„Was soll eigentlich diese Russenhocke?“ fragte bento Ende 2016 nach dem Flashmob auf Instagram, bei dem sich tausende Nutzer hockend präsentiert hatten.1 Vorausgegangen waren Statements einiger Avantgarde-Hipster, die ihren Kulturimport aus Russland zum Modetrend erklärten: Demnach sollten Jogginghosen 2016 zum letzten Schrei werden.

(Klein)kriminelle Subkultur

Naturgemäß meinten es die Hipster ironisch: Kaum jemand möchte ernsthaft in einen Topf mit dem Original dieses Lebensstils geworfen werden – dem Gopnik. Die Bezeichnung dieses Stereotyps, das von Soziologen als eine Subkultur verstanden wird, ging Ende der 1980er Jahre in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.

Der Ursprung ist unklar: Vielleicht bezieht sich der Begriff auf die Abkürzung GOP, die in den 1920er Jahren für Städtisches Wohnheim des Proletariats stand und sich zum arroganten Synonym für Unterschichten-spezifische Bildungsferne entwickelte.

Vielleicht kommt Gopnik vom Ausdruck gopstop – was in russischer Entsprechung zum deutschen Jargon Rotwelsch „Raubüberfall“ bedeutet. Dem meistens (auch vom Gopnik selbst) als Schimpfwort verwendeten Begriff steht die gängige Eigenbezeichnung gegenüber – (realny) pazan, was ungefähr soviel wie das amerikanische (real) Gangsta bedeutet.   

Gossenjargon=kriminell?

(Real) Gangsta und Rotwelsch sind Begriffe, die im Westen einen radikalen Bedeutungswandel erlebten. Der erste kam auf in den 1980er Jahren als ein kriminelles und gegenkulturell-orientiertes Stereotyp. Mit der Kommerzialisierung des Gangster-Rap wurde die Figur des Gangsta aber schon in den 1990er Jahren Teil der Massenkultur – sowohl in den USA als auch in vielen Ländern Westeuropas.

Aus ähnlichen Gründen entbehrt auch Rotwelsch das Kriminelle: In älterer Literatur noch als deutsche „Gaunersprache“ bezeichnet, gilt es heute als ein Soziolekt mit einem Sonderwortschatz – als ein Jargon.

Ähnlich beim Gopnik: Die Neigung zum Mat-durchsetzten Gossenjargon gehört für viele Soziologen zu den Grundfesten dieser Subkultur. Dass diese Sondersprache auch Anleihen bei fenja macht – der russischen Gefängnissprache – macht allerdings nicht alle Sprecher automatisch zu Kriminellen. Dennoch hält sich die Zuschreibung: Gopniki seien gewalttätig, homophob, ausländerfeindlich und verüben gopstops – rauben Wertsachen.2 Sie gingen keiner Arbeit nach, hätten aggressiv-tumbe Gesichtsausdrücke, seien flegelhaft, kurz: sie weisen wegen ihrer „Unterschichtsmentalität“ alle Bürgerschreck-Qualitäten auf.3

Indes, der Zusammenhang zwischen dem Lebensstil der Gopniki und ihrer angeblichen Neigung zur Kriminalität wurde noch nie nachgewiesen. So haben es viele von ihnen beispielsweise schon in die Mittelschicht geschafft: Dort gehen sie geregelter Arbeit nach, setzen ihren Lebensstil aber als sogenannte tschawy (in Anlehnung an die britischen Chavs) oder polugopy (dt. Halb-Gopniki) fort. Sie schmücken sich mit spezifischen Statussymbolen, pflegen situativ Jargon4 – und dürften damit zum Teil wohl eine ähnliche Nähe zur Kriminalität an den Tag legen, wie es die Mittelschichts-Jugendlichen in der deutschen Provinz der 1990er taten, als sie das gewaltverherrlichende Cop Killer von Bodycount nachsangen.5

Russischer Chanson wird Mainstream

Klischees über Klischees: Gopniki seien grundsätzlich kriminell und würden diese Kriminalität auch in ihren Musikvorlieben zelebrieren, und zwar bei der ihnen zugeschriebenen Neigung zum sogenannten „russischen Chanson“ oder „coolen beziehungsweise harten Lied“ („blatnaja pesnja“).6 Ohne den Zusammenhang zwischen Gopnik und russischem Chanson nachzuweisen, verweisen russische Soziologen in einem Analogieschluss einfach auf die Gefängnis-Nähe von gegenkulturell-orientierter Subkultur und Musikgattung.

Ähnlich wie zuvor Gangster-Rap in den USA und in Westeuropa, schaffte es diese Musikgattung, die häufig Kriminalität romantisiert (Stichwort aus dem Rap: thug life), Ende der 1990er Jahre erstmals in die russischen Charts. Damit vollzog sich ein Übergang von zunächst gegenkulturell angelegten Orientierungen in die Massenkultur, wie er im Westen zuvor nicht nur bei Hip-Hop, sondern auch bei Punk und Rock auszumachen war.7

Ohne auf die Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie einzugehen, erklärten Kulturkritiker den Hype des russischen Chansons damit, dass nahezu ein Viertel der männlichen Bevölkerung Russlands entweder im Gefängnis waren oder gerade im Gefängnis sitzen.8 Diese große Gruppe bildete demnach den Resonanzraum für diese Musik und verhalf dem russischen Chanson alleine wegen ihrer schieren Anzahl in die Charts.

Der Einzug der zuvor als gossenhaft verfemten Musik in die Massenkultur ging einher mit einschlägigen Blockbustern, die zum Teil auch mit Mitteln aus der staatlichen Filmförderung finanziert wurden.9 Kritiker geißelten die Romantisierung des Kriminellen, beklagten einen Sprach- und Kulturverfall, mussten das Phänomen aber alsbald auch bei der politischen Elite des Landes feststellen.

Jargon in der Politik

Bereits vor seiner ersten Präsidentschaft versprach Putin, Terroristen „im Scheißhaus kaltzumachen“. Seine häufige Neigung zum Jargon wurde Gegenstand vieler humoristischer Kommentare; auch Sozialwissenschaftler fragten nach den Gründen seiner Verbalausfälle. Demnach ist sein Hang zu stilistisch derberen Registern wohlkalkuliert: Einerseits breche er bewusst gängige Sprachnormen, um dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen.10 Andererseits zeigt er sich damit als ein tatkräftiger Politiker, der „hart durchgreift“ und „Klartext“ spricht. Schließlich präsentiert er sich auch als „einfacher Mann von nebenan“,11 der die Aura der hemdsärmeligen Street Credibility verströmt und somit stammtisch-kompatibel erscheint.12

Ob dieses Streben nach Volksnähe im Umkehrschluss die steile These von gleich 50 Millionen Gopniki im Land plausibel macht, ist fraglich – weder Soziolekte noch Musikvorlieben genügen für eine klare Zuordnung, zumal Soziologen13 ihre These kaum mit Forschungsergebnissen belegen können. Grundsätzliche Schwierigkeit besteht außerdem darin, dass Subkulturen und Lebensstile nie exakt fassbar sind. Insofern bleibt der Gopnik ein schwer greif- und verifizierbares Klischee.

Vermehrte Anklänge an diesem klischeehaften Gopniki-Lebensstil kann man in Russlands politischer Elite dagegen durchaus finden. Putin schöpft aus diesem einschlägigen Kanon, wenn er junge Soldaten als pazany tituliert, der Eigenbezeichnung der Gopniki; oder auch, wenn er von „Schore verhökern“ (Rotwelsch: „Diebesgut veräußern“, russ. „schurowat“) spricht und so den russischen Export von Rohholz kritisiert.14

Murka, der Chanson-Klassiker schlechthin, erklingt auch mal in der Duma-Kantine.15 Außenminister Lawrow schimpft Mat, und auch seine Diplomaten-Kollegen aus dem Außenministerium fallen durch unflätige Verbalinjurien auf.

Nicht nur deshalb verglich Sergej Medwedew – eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers – die gesamte russische Außenpolitik mit einem Gopnik, der allen Angst einjage. Und der bekannte Karikaturist Sergey Elkin erntete im April 2017 auf Facebook tausende Likes und Shares für die Abkürzungsbuchstaben des Außenministeriums (MID) im halbkreisförmigen Slavic Squat. Um die hockenden Buchstaben liegen ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen.


1.bento.de: Was soll eigentlich diese "Russenhocke"?
2.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija (2014): Molodëžnye subkul’tury v sovremennoj Rossii i ich socializirujuščij potencial, in: Doklady Centra, Vypusk № 11, S. 11f.
3.Eine historische Parallele ergibt sich in der westeuropäischen Figur des Gammlers. Seit 1964 gehörte diese Subkultur zum Straßenbild westeuropäischer Metropolen. Durch ihr Nichtstun sorgten die Gammler vor 1968 stets für öffentlichen Unmut. Konservative Politiker und Wissenschaftler schrieben ihnen eine „Unterschichtsmentalität“ zu und befürchteten eine gesamtgesellschaftliche Anpassung daran. Vgl. z.B. Noelle-Neumann, E. (1978): Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich, S. 20f. Zitiert nach: Siegfried, D. (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen
4.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija, S. 11f.
5.Das Debüt-Album von Bodycount wurde 1992 in Deutschland mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.
6.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija, S. 11f.
7.Der Historiker Detlef Siegfried veranschaulichte in seiner Habilitation solche Kommerzialisierungs-Mechanismen am Beispiel der Figur des Gammlers im Westdeutschland der 1960er Jahre. Siegfried, D. (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen
8.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii. Zu den Zahlen vgl. z.B. Radčenko, V. (2008): Chorošo sidim
9.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii
10.Vgl. Borisova, Ė. (2010): Pragmatika „nizkogo" v rečach D.A. Medvedeva i V.V. Putina, Moskau [Diplomarbeit]
11.Vgl. z.B. Dement’eva, M. (2009): Jazykovye sredstva vyraženija ocenki v sovremennom političeskom diskurse, in: Političeskaja lingvistika, Vyp. 4(30), S. 82-92. D’jačok, M. (2003): Russkoe prostorečie kak socioligvičeskoe javlenie, in: Gumanitarnye nauki, Vyp. 21, S. 102-113. Maslova, V. (2008): Političeskij diskurs: jazykovye igry ili igry v slova? in: Političeskaja lingvistika, Vyp. 1(24), S. 43-48
12.Psychologische Erklärungen für Putins Verbalausfälle betonen demgegenüber vor allem die Rauhbeinigkeit der Hinterhof-Verhältnisse aus Putins früher Biografie. Vgl. z.B. Spiegel.de: Im Reich der Gefühle
13.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija (2014), S. 11f.
14.Zitiert nach: Fleischmann, E. (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund,  339ff.
15.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii
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