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„Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

Maxim Lossew ist ein Schüler aus der Oblast Brjansk, rund 380 Kilometer südwestlich von Moskau. Kurz nachdem Oppositionspolitiker Nawalny einen Korruptionsbericht über Premier Medwedew vorgelegt hatte, rief Maxim über Vkontakte dazu auf, an einer Unterstützer-Demo für Nawalny teilzunehmen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch Lossew wurde daraufhin von der Polizei zur Unterredung abgeholt – aus dem Klassenzimmer heraus. Die Schuldirektorin Kira Petrowna Gribanowskaja und eine Lehrerin, die ganz zu Beginn als „Raissa Alexandrowna“ angesprochen wird, diskutierten mit den Schülern darüber – und kommen dabei auch auf Themen wie den Krieg in der Ukraine, Patriotismus und die politische Opposition. Dabei zeigen die Schüler großes Selbstbewusstsein gegenüber den regierungsloyalen Lehrkräften.

Ein Handy-Mitschnitt der Diskussion landete im Internet, Nawalnys Wahlkampfteam verbreitete das Video über Vkontakte. Es wurde bislang bereits über eine Millionen Mal angesehen, die Schüler wurden zu „neuen Helden des russischen Internets“. dekoder bringt die Mitschrift in deutscher Übersetzung. Da die Aufnahme oftmals kein Bild, sondern nur Ton liefert, ist nicht immer einfach zuzuordnen, wer gerade spricht. 

Quelle Social Media

 

Direktorin [Kira Petrowna]:  Raissa Alexandrowna, darf ich? Für die, die sich für Nawalnys Aktivitäten interessieren: Gut, er fordert die Absetzung unserer aktuellen Regierung, ein „Nein zu Korruption“ und so weiter. Welche konkreten Maßnahmen schlägt er denn vor? An Kundgebungen teilzunehmen? Zu sagen, was der für ein Fiesling ist?     
Ein Schüler: Er will einfach Antworten hören. Er hat ein Video zu Medwedew gemacht, und jetzt will er Antworten von der Staatsmacht.
Direktorin: Und?
Ein Schüler: Die schweigt.
Direktorin: Moment mal. Nehmen wir an, ihr macht ein Video über Kira Petrowna, schreibt, die ist so und so, kümmert sich nicht um was weiß ich, bei der in der Schule ist der Teufel los; ihr versammelt euch und fordert eine Antwort. Was glaubt ihr, geh ich da hin und rede mit euch?  
Ein Schüler: Nein.
Direktorin [aufgeregt]: Eben, er auch nicht! Das ist doch lächerlich! Ein politisches Programm – das wären konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft, die Ausarbeitung von Plänen. Das, was der macht, ist reinste Provokation. Versteht ihr? Ihr versteht das noch nicht. Die Wirtschaftslage ist bei uns derzeit sehr instabil, das sage ich geradeheraus. Ein ökonomisches Loch. [Ihre Stimme beruhigt sich wieder etwas] Und was ist die Ursache? Ihr hattet das doch in Sozialkunde und so weiter. Ihr wisst ja, dass es im Grunde im Land eine Wirtschaftsblockade gibt. Na, dann möchte ich mal hören, was ihr wisst: Was erleben wir derzeit? 
Ein Schüler: Eine Krise.
Direktorin: Und was hat die Krise ausgelöst?

[Unverständlich]

Ein Schüler: Die Sanktionen, die Europäische Union, diese ganze Blockade.  
Direktorin: Nochmal bitte, wer? Die Europäische Union, richtig? Das heißt, wir haben jetzt eine sehr konsequente und sehr stramme Politik unseres Leaders. Er hat international ein sehr hohes Ansehen. Warum? Wegen seiner Außenpolitik. Die Innenpolitik, klar, die schwächelt. Warum? Ja, weil kein Geld da ist. Und das spüren wir jetzt, vor allem ...   
Ein Schüler: Aber was für eine Außenpolitik wird denn bei uns bitteschön gemacht? Amerika ist gegen uns, Europa ist gegen uns. 
Direktorin: Und woran liegt das, hm? Weswegen?
Ein Schüler: Wegen der Krim, weil wir die einkassiert haben quasi.
Direktorin: Und das findest du schlecht?
Lehrerin: Haben wir sie denn einkassiert? 
Ein Schüler: Na, wir sind quasi in eine Krise eingetreten.
Lehrerin: Es gab ein Referendum

[Unverständlich]

Direktorin: Gut, erzähl mir mal, was da aus deiner Sicht passiert ist! Da bin ich jetzt gespannt! Erzähl mir das, vielleicht kenne ich ja irgendeine Sichtweise noch nicht. 
Ein Schüler: Na, warum haben sie denn gegen uns Sanktionen verhängt?! 
Direktorin: Das hattest du gerade schon selbst beantwortet.
Lehrerin: Wegen der Demonstration von Stärke. Weil wir Stärke gezeigt haben. 
Ein Schüler: Wegen der Krim.
Direktorin: Weißt du, warum … Ja, warum hat denn der Krieg in der Ukraine überhaupt angefangen?
Ein Schüler: Na, wegen der Revolution ...
Direktorin: Weswegen?
Ein Schüler: Wegen dem Machtwechsel.
Direktorin: Ach, mein Junge, du liest nichts und weißt nichts. Dein Wissen ist sehr oberflächlich. Wie ist dieser ganze Konflikt überhaupt entstanden? Warum hat sich da Amerika eingemischt?
Ein Schüler: Hat es sich ja gar nicht offiziell.

[Unverständlich]

Direktorin: Und wofür hat sich die Krim dann entschieden? Und wie hat Amerika das bewertet?
Ein Schüler: Haben Sie dort amerikanische Truppen gesehen, in der Ukraine?
Direktorin: Hast du denn russische Truppen gesehen in der Ukraine?
Ein Schüler: Ja. [Lachen] 
Da gibt’s Videos, das können Sie sich gar nicht vorstellen.
Direktorin: Videos – die sind meistens gestellt.
Lehrerin: Man darf denen nicht glauben ...

[Unverständlich]

Ein Schüler: Ich habe etliche Informationen gehört, dass die Freunde von irgendwelchen Leuten ...
Direktorin: Leute! Ich seh schon, ihr betrachtet dieses Problem einseitig. Und euch fehlt der politische Überblick. Das Problem ist ganz klar umrissen: Ihr habt Nawalny gesehen, habt seine Videos angeguckt, das war’s. Und schon denkt ihr so. Eine eigene Meinung dazu habt ihr nicht, nur das, was man euch aufdrückt. Und dann benutzt ihr auch noch manchmal ungeprüfte Quellen oder sogar, wenn man so will, Quellen, die zur Provokation dienen.
Lehrerin: Wie Marionetten ...


Ein Schüler: Und wenn wir einfach der gleichen Meinung sind wie er?
Direktorin: Habt ihr denn eine Meinung? Lest erst mal ein bisschen. Ich sag euch das, schaut euch nicht nur diese ... Wenn jemand behauptet, dass es hier so schlecht ist, dann seht euch mal andere Quellen an. Warum glaubt ihr nur einer Quelle?  
Lehrerin: Jeder Fakt gehört dem Zweifel unterzogen! 
Ein Schüler: Wir betrachten ja nicht nur eine Quelle.
Direktorin: Na, ihr schaut offenbar nur in eine Richtung.
Ein Schüler: Unser Fernsehen zeigt ja nur, was dem Staat zuträglich ist ...
Direktorin: Hört ihr nicht Voice of America?

[Unverständlich]

Direktorin: Ich sehe schon, die staatsbürgerliche Haltung haben wir euch nicht richtig beigebracht. Was das staatsbürgerliche Bewusstsein betrifft, zeigt ihr große Defizite. Patrioten gibt es bei euch in der Klasse also keine?
(Einwurf Schüler: Was ist denn ein Patriot? Einer, der die Regierung unterstützt?)
Direktorin: Ich habe mit Nikita gesprochen … Nikita, willst du ein Patriot sein?
Lehrerin [unterbricht]: Entschuldigung. Bitte, organisiere doch einfach eine Gruppe und mach einen Subbotnik in deiner Straße.  
Direktorin: Leute, hebt mal die Hand, wer von euch engagiert sich in einer Freiwilligen-Bewegung?

[Stille]

Direktorin: Wozu wurde denn die Freiwilligenarbeit eingeführt? Da haben wir eure staatsbürgerliche Haltung! Ihr braucht euch gar nicht mit Putin und Medwedew da oben zu beschäftigen. Seht euch unseren Bezirk an!
Ein Schüler: Aber die Freiwilligenarbeit wird doch von Einiges Russland organisiert, oder? Und unterstützt?
Direktorin: Ja.
Ein Schüler: Eben, und wir sind gegen Einiges Russland.

[Gelächter]

Ein Schüler: Verstehen Sie?
Lehrerin: Warum sprichst du in der Mehrzahl und redest von „wir“?
Ein Schüler: Hebt doch bitte mal die Hand, wer gegen Einiges Russland ist.
Weiterer Schüler: Ich!

[Gelächter, unverständlich]

Ein Schüler: Wir sind gegen Einiges Russland.
Direktorin: Und wofür seid ihr?
Ein Schüler: Für Gerechtigkeit.
Weibliche Stimme: Und was ist Gerechtigkeit?
Weibliche Stimme: Das, was es bei uns nicht gibt.

[Unverständlich]

Ein Schüler: Gerechtigkeit ist, wenn sich die Regierung um die Menschen kümmert, nicht nur um sich selbst, … um die einfachen Bürger, nicht um ihre Millionen. Viele Menschen wollen ja in einem freien Staat leben, in einem freien Land ...
Direktorin: Ihr glaubt also, dass sich mit Putin und Medwedew das Leben im Land verschlechtert hat?
Weiterer Schüler: Ja.
Ein Schüler: Nein, sie kleben aber an ihren Sesseln. Sie sitzen da schon zu lange.
Direktorin: Hast du mal in einer anderen Zeit gelebt, anscheinend hab ich da was verpasst? Unter welcher Regierung hast du gut gelebt? 
Ein Schüler: Ich?
Direktorin: Unter Putin und Medwedew ist es für dich also schlechter geworden?
Ein Schüler: Wir kennen unsere Geschichte.
Direktorin: Allerdings.
Schüler: Eben …
Direktorin: Was – eben? Ich frage dich: Konkret du, unter welchem Regierenden hast du gut gelebt?
Schüler: Wir hatten ja im Grunde nur einen.
Direktorin [aufgeregt]: Du hast gesagt, es ist schlechter geworden. Dabei habt ihr die wilden 1990er Jahre gar nicht erlebt! Damals hatte jeder, Verzeihung, eine Handwaffe oder Feuerwaffe! Chaos und Willkür im ganzen Land! Ich war damals Studentin! Dass man sich abends nach acht nicht mehr raus auf die Straße traute. Das habt ihr nie erlebt!
Schüler: Wollen Sie, dass es wieder so wird?
Lehrerin: Ihr wollt das!
Schüler: Gerade jetzt wurde ein Mensch wegen nichts eingesperrt. Einfach von der Polizei mitgenommen.
Direktorin: Das ist Bürgerkrieg.
Schüler: Das ist Willkür.
Direktorin: Richtig, Willkür, denn wohin führt jede Demonstration und jede Spaltung der Macht?
Lehrerin: Zu einer politischen Krise und weiter zum Bürgerkrieg.
Direktorin: Und weiter zum Bürgerkrieg. Brudermord.
Lehrerin: Wollt ihr es wie in der Ukraine, so wie es bei uns 1918 war?
Schüler: Wir wollen diese Regierung nicht.
Weiterer Schüler: Nein, wir wollen … unsere eigene Sicht der Dinge.
Eine der Lehrkräfte: Ihr werdet Euer eigenes 1918 erleben …
Lehrerin: Sagt mal: Könnt ihr das wirklich jetzt erreichen? Und wie?
Ein Schüler: Na, sich einfach zusammentun.
Lehrerin: Und dann?
Schüler: Dann werden wir eine Masse.

[Stimmengewirr]

Weiterer Schüler: Eine ordentliche Masse!
Lehrerin: Eine Masse. Und dann, was dann?
Ein Schüler: Dann sehen es die Leute wenigstens. Dann sehen sie, dass es Bürger gibt.

[Unverständlich]

Lehrerin: Bürger – das ist eine Handvoll Leute, die angeführt werden von Erwachsenen, die sozusagen nichts zu verlieren haben.
Direktorin: Leute, wir haben zumindest versucht, euch ein wenig zu ermahnen und zu warnen. Was jetzt beginnt, das ist Polemik, und die ist sinnlos. Ihr müsst jetzt ohnehin – ich rate euch, ich bestehe nicht darauf, aber ich rate euch – zu Herzen nehmen, was wir gesagt haben, und entsprechende Schlüsse ziehen. Und ich denke dabei vor allem an eure Zukunft.  
Lehrerin: Vergesst nicht, das ist entscheidend.
Direktorin: Ich habe mich bei diesen Regierungsvertretern beschwert. Ich habe versucht, Maxim zu verteidigen. Habe gesagt, dass das nur so eine völlig unnötige jugendliche Dummheit gewesen ist.
Glaubt mir, der hat es gerade nicht gut. Gar nicht gut. Ich möchte nicht, dass auch nur einer von euch in so eine Lage gerät. Aber jetzt ist es an euch. Alles, was ihr hier sagt, im Klassenzimmer, sind leere Worte. [Unverständlich] Ich sag’s nochmal, werdet anständige Leute und erreicht etwas. Das ist das Richtige.
Lehrerin [leise]: Aber das hier, das ist kindisch. Leute, ich bitte euch nochmal. Denkt nach, denkt mit ... So, Leute, womit fangen wir jetzt an? Mit den Zensuren oder mit den Hausaufgaben …

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„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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