Es waren gleich mehrere Nachrichten in den vergangenen Wochen, die (nicht nur) in Russlands Zivilgesellschaft für Aufruhr sorgten: Etwa die vorzeitige Haftentlassung des Aktivisten Ildar Dadin, eine Wohnungsdurchsuchung bei der unabhängigen Journalistin Soja Swetowa und schließlich der neueste Bericht des Oppositionspolitikers Nawalny. Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung publizierte belastendes Material über Russlands Premier Medwedew: Demnach verfügt der über ein Eigentum im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar – Vermögen, das offiziell gut versteckt dubiosen „Stiftungen“ gehört.
Der Radiosender Echo Moskwy lud nun die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann ins Studio, zur Sendung Ossoboje Mnenije (dt. Besondere Meinung). Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Moskauer Hochschule RANCHiGS schreibt sie häufig Analysen für verschiedene unabhängige Medien. Schulmann hält auch Vorlesungen an der Online-Universität openuni – ein Projekt von Offenes Russland, das von Michail Chodorkowski gegründet wurde.
Besondere Meinung wiederum ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Besondere Meinung ist interaktiv, die Zuhörer werden eingebunden und bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, per Videostream wird die Sendung über Internet live aus dem Studio übertragen.
Ekaterina Schulmann übt in ihren vielbeachteten Artikeln zum politischen System Russlands oft Kritik an der derzeitigen Situation des Landes – kein Wunder, dass auch die Hörer von Ossoboje Mnenije sie zu den neuesten Ereignissen kritisch befragten.
Irina Worobjowa: Alle Welt spricht über den Anti-Korruptions-Bericht des FBK und über mögliches Eigentum von Premierminister Dimitri Medwedew. Die Untersuchung umfasst viele verschiedene Einzelgeschichten. Was ist denn nun das eigentlich Relevante?
Ekaterina Schulmann: Um ehrlich zu sein – in allen Einzelheiten habe ich mir diese Arbeit bislang weder in der Video- noch in der Textversion angeschaut. Das Wichtigste ist wohl die Tatsache, dass sie überhaupt veröffentlicht wurde. So wie ich das verstehe, wird dort folgender Mechanismus beschrieben: Oligarchen, Großindustrielle und irgendwelche wirtschaftlichen Interessengruppen überweisen Geld auf die Konten von Stiftungen, die aussehen wie Wohltätigkeitsverbände oder anderweitig dem Gemeinwohl dienende Organisationen. Tatsächlich aber hat am Ende nur einer Zugriff auf das Geld und die Güter: der Premierminister.
Allein die Tatsache der Veröffentlichung halte ich für wichtig – warum? Wie die Sprecherin des Premierministers Natalja Timakowa so schön gesagt hat: Wir befinden uns im Wahlkampf, und das ist eine Wahlkampfaktion.
Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt. Schauen wir uns mal die früheren Wahlkampfperioden an: Da sehen wir, dass es vor und nach den Wahlen, ob nun zu den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen, immer zu solchen Turbulenzen kam.
Das heißt also grundlegend ändert sich nichts, aber auf dieser mittleren Ebene gibt es doch gewisse Veränderungen?
Wie soll ich sagen ... also, grundlegend wird sich nichts ändern, solange das Regime so bleibt, wie es ist. Aber es befindet sich ständig in Transformation. Und für die Leute, die diesem Regime angehören, sind diese Transformationen durchaus spürbar. Auch wenn es von außen nicht wie eine Revolution aussieht – für Insider können das revolutionäre Umbrüche sein. Der eine hat seinen Posten behalten, ein anderer ist rausgeflogen, und einem dritten haben sie ein Strafverfahren angehängt.
Solche Informationsbomben werden von zwei Teilen der Öffentlichkeit ganz unterschiedlich aufgenommen: Da ist einmal das äußere Publikum, also wir Bürger, die Gesellschaft, das Sozium. Die breite Masse mag das einerseits nach dem Motto beurteilen: „Na und, wir haben doch schon immer gewusst, dass alle korrupt sind.“ Doch es ist ja eine Sache, das ganz allgemein zu wissen, und eine andere Sache, etwas ganz konkret zu sehen, etwas, das selbst bei ganz oberflächlicher Betrachtung jegliche Vorstellung übersteigt.
Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt
Dann gibt es natürlich auch noch das ganz äußere Publikum, also das Ausland. Für diese Menschen ist das alles noch viel verwunderlicher als für uns.
Schließlich kommen wir zum inneren Publikum, zu den Insidern, also den Leuten, die zum Machtzirkel gehören. Deren Bewusstsein ist auf eine ganz spezifische Art verzerrt. Sie glauben weder an unabhängige Untersuchungen noch an Korruptionsbekämpfung. Den Medien glauben sie auch nicht. Sie glauben überhaupt niemandem so recht.
In ihrer Welt sind sozusagen alle Vorkommnisse Signale einer Gruppe an eine andere, völlig unabhängig von den realen Gegebenheiten. In ihrer herrlich paranoiden Welt hat das etwas zu bedeuten. Sie fragen sich: Warum jetzt? Warum Medwedew? Wer gibt hier wem Signale? Daraus werden sie ihre grundlegenden und wertvollen Schlüsse ziehen.
Natürlich können uns diese Details auch ziemlich egal sein. Nur Folgendes ist wichtig: Das alles ist Wahlkampf, wie er bei uns geführt wird. Das ist kein Wahlkampf eines gesunden Menschen, bei dem man um den Wähler kämpft. Das ist der Wahlkampf eines kranken Rauchers, bei dem gerade in der Zeit vor den Wahlen das Gleichgewicht innerhalb des Regierungssystems justiert wird.
Ist es denn vorstellbar, dass sie jetzt kurzerhand Medwedew opfern? Um den Menschen zu zeigen: Eigentlich geht es hier bei uns doch ehrlich zu und wenn einer so schamlos mithilfe von Stiftungen …, also entschuldigen Sie bitte, Dimitri Anatoljewitsch, auf Wiedersehen. Oder ist das ausgeschlossen?
Das, was Sie als „opfern“ bezeichnen, also die extremste Maßnahme, ihn vor den Präsidentschaftswahlen zu entlassen, ist äußerst unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Arten, den einen oder anderen politischen Akteur, sagen wir, unter Druck zu setzen, ohne ihn zu entlassen. Für Sie gibt es wohl nur sowas wie, zack, gleich Erschießung oder Freispruch, was?
Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden
Aber jeder dieser Staatsbediensteten aus der obersten Etage vertritt ja eine ganze Gruppe, und das gilt ganz besonders für den Premierminister. Das heißt: Diese Gruppe kann Verluste erleiden oder Erfolge erzielen. Wenn sie Verluste erleidet, kann das auch völlig unter der Hand geschehen, wir werden das nicht sonderlich bemerken. Obwohl – wir kriegen es wohl doch mit, denn momentan ist die mediale Transparenz, Gott sei Dank, gegeben.
Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden. Denn zu diesem Krieg gehören entsprechende Positionsverluste und auch entsprechende Siege.
Unsere Hörer wollen wissen, ob es nicht müßig ist, sich darüber Gedanken zu machen, wer denn Medwedew attackiert hat, wenn das ohnehin nur den inneren Kreis der Elite betrifft. Es gibt ja ganz unterschiedliche Möglichkeiten, wer dahinter stehen könnte … Ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen? Oder geht uns das nichts an?
Das ist wie beim Mord im Orient-Express. Der Kreis der Verdächtigen ist einigermaßen begrenzt, aber doch relativ groß. Es könnte jeder gewesen sein. Und stellen Sie sich vor, vielleicht war es keine Einzelperson, sondern vielleicht waren es irgendwelche ständigen oder temporären Koalitionen. Das ist ein weites Feld zum Rätseln. Wobei Herumrätseln da meines Erachtens nicht sinnvoll ist. Lassen Sie uns lieber über Folgendes nachdenken: Die Zeit des Wahlkampfs hat also begonnen, eine nervöse Zeit, alle sind zerstritten. Was kann der einfache Bürger daraus machen? Wie kann er das für sich nutzen?
In diesem Zeitraum ist das System durchaus verletzlich, unter anderem dadurch, dass etwas öffentlich werden könnte, ja schon allein durch eine solche Bedrohung. Allе eingebildeten oder nicht ganz eingebildeten, in manchen Fällen sogar wesentlichen Liberalisierungen finden gerade dann statt. Wenn jemand also irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür.
Wenn jemand irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür
Da wird bei uns durchaus das Strafrecht abgemildert, oder die Führung ersetzt einen ganz hoffnungslosen Gouverneur durch einen jüngeren und etwas ruhigeren, oder es passiert sonst irgendetwas Positives für die Gesellschaft … Auch Inhaftierte werden zum Beispiel entlassen.
Denn die Maschine so richtig zum Laufen zu bringen, wie es sich gehört, also zum Beispiel Verbrecher einzubuchten, das ist schwer. Aber die Praxis hat gezeigt, einen Unschuldigen zu befreien, das geht. Zumindest ist es leichter. Es gibt auch noch weitere Mechanismen, um, sagen wir mal, die Kiefer zu lockern und Happen rauszuholen.
Aber wenn es darum geht, den Staat zu zwingen, seine direkten Funktionen auszuüben, also etwa gegen die Kriminalität zu kämpfen oder für Wirtschaftswachstum zu sorgen, dann wird es schon schwieriger. Aber man tut, was man kann.
Die Hörer fragen nach der Hausdurchsuchung bei Soja Swetowa. Das ist doch eine dumme, völlig unnötige Aktion. Es ist gar nicht mal klar, was da eigentlich los war.
Sie finden die Aktion dumm, aber die Ausführenden finden sie gar nicht dumm. Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, neue Dienstgrade, Beförderungen, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch. Wenn das schon 13 (sogar mehr) Jahre funktioniert, warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren? Das zum einen.
Zum anderen ist da rund um den Föderalen Strafvollzugsdienst einiges im Gange. Schon seit einigen Monaten geschehen da viele seltsame, ja erstaunliche Dinge. Der FSIN steht in diesem Jahr im Zentrum der Öffentlichkeit, falls es jemand noch nicht gemerkt haben sollte.
Der frühere stellvertretender Leiter wird verhaftet. Gleichzeitig erscheinen zwei große Berichte darüber, wie der Sektor wirtschaftlich funktioniert. Ist ja klar, wie: Kostenlose Sklavenarbeit, große Staatsaufträge und entsprechend viel Geld.
Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch
Auch wissen wir, dass der FSIN noch einen weiteren großen Happen aus dem Staatsbudget haben will: Für eine großangelegte Renovierung der Gebäude und Gelände und den Bau neuer Straflager.
Gleichzeitig haben wir noch den Dadin-Skandal, der sich zugespitzt hat: Erst die Folter im Straflager, dann die unerwartete (oder auch nicht sonderlich unerwartete) aber durchaus erfreuliche Entlassung.
Gleichzeitig weist der Präsident die Staatsanwaltschaft an, den FSIN zu überprüfen. Woraufhin die Staatsanwaltschaft die vorherige Aufhebung einer Untersuchung der Foltervorwürfe in den Straflagern von Karelien wieder aufhebt.
Der FSIN beansprucht für sich also viel Geld aus dem Haushalt, und gleichzeitig gibt es andere Gruppen, die mit dem Amt offensichtlich anderes vorhaben. Vielleicht dessen Führung auswechseln, oder es zum Teil auflösen, irgendwie umgestalten, vielleicht einer anderen Behörde unterstellen. Irgendwie gibt es da Gerüchte.
Ja, und dann zwei Hausdurchsuchungen an einem Tag: bei Soja Swetowa und bei Jelena Abdullajewa. Wobei Soja Swetowa nach der Durchsuchung erklärte, es sei nicht um Chodorkowski, sondern um ihre Bürgerrechtsaktivitäten gegangen. Worin besteht diese Tätigkeit? Sie besteht einzig und allein darin, dass sie Untersuchungsgefängnisse, Haftanstalten und Straflager besucht. Ihre Bürgerrechtsaktivitäten haben mit dem zu tun, was der FSIN tut.
Das sind also alles Turbulenzen im Umfeld des Gefängnissystems, der Wirtschaft der Gefängnisse, der darin involvierten Gelder und Leute.
Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht. Niemand hat sich dafür interessiert, was mit den Knastis lief. Und nun plötzlich interessieren sich alle dafür. Eine gewisse hemmende Wirkung hat dieser ganze Medienrummel also durchaus.
Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht
Ich wiederhole, man kann den Eindruck haben, dass nichts passiert sei – da ist einfach jemand früher aus der Haft entlassen worden, einige Monate bevor die Strafe ohnehin um gewesen wäre. Für alle aber, die sich innerhalb des Systems befinden, die daran gewöhnt sind, dass alles straffrei abläuft und im Dunkeln bleibt, ist dieser Lichtstrahl schon ein ziemlicher Stressfaktor. Auch dass der Direktor des Straflagers sich verstecken, in Urlaub gehen musste, das war für sie … Und wieder: In unseren Augen ist das keine besonders repressive Maßnahme, oder? Wir würden uns wünschen, dass dort alle entlassen und verurteilt werden. Aber für diese Leute ist das, als wäre ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen, weil es so etwas früher nicht gab.
Man hatte ohnehin schon den internen Konsens gefunden, dass politische Gefangene nicht angerührt werden dürfen (also körperlich), weil man den Rummel fürchtete. Bei Dadin hat dieser Mechanismus aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, und das hat dann einen umso größeren, umso wuchtigeren Skandal hervorgerufen, der sich angesichts der offensichtlichen Schwächung des FSIN auf alle möglichen Arten finanziell und strukturell auswirken kann.
Offen gestanden, lösen Ihre Worte bei unseren Zuhörern eine Gegenreaktion aus, sie sind ein bisschen erstaunt, beziehungsweise verärgert: „Soll etwa der öffentliche Druck im Fall Dadin nichts bewirkt haben, und geht es bei der ganzen Sache nur darum, was im Dunstkreis des FSIN passiert, und so weiter und so fort?“ Oder wurden Sie einfach falsch verstanden?
Was sind wir Russen doch für Maximalisten. Das ist wirklich erstaunlich.
Es gibt doch zwei Ansätze: Entweder es heißt, man habe jemanden ausschließlich dank zivilgesellschaftlichem Engagement befreit, ja, buchstäblich dem Verlies entrissen. Oder es heißt: „Was seid ihr doch naiv! Eure ganze Bürgerrechtskampagne ist bedeutungslos. Das Ganze ist nur ein interner Kampf.“ Dann gibt es noch: „Das ist nur ein kümmerlicher Bissen, man hat euch damit abgefrühstückt, und ihr freut euch brav darüber.“
Man muss die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität betrachten. Wenn die Zivilgesellschaft, also irgendeine organisierte Gruppe, beginnt, für ihre Interessen zu kämpfen, etwa für die Freilassung eines unschuldig Verurteilten, benutzt sie diverse Instrumente. Es gibt da ganz naheliegende Instrumente, oder? Öffentlichkeit, Medienpräsenz, Petitionen oder Beschwerden an die Obrigkeit. Auch die internationale Öffentlichkeit funktioniert – entgegen der verbreiteten Meinung, dass man damit alle nur verärgere – hervorragend.
Startet man eine solche Kampagne, finden sich innerhalb des Machtsystems sofort Verbündete, denn keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein „die da“ – „Die tun da das und das“ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne.
Keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein ‘die da‘ – ‘Die tun da das und das‘ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne
Bei jeder Kampagne wird es unter Ihren Mitstreitern höchst unsympathische Akteure aus Regierungskreisen geben, die ihre eigenen Ziele verfolgen.
Sollten Sie deswegen beleidigt sein, erschrecken oder sich von Ihren Aktivitäten abhalten lassen? Natürlich nicht. Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum zivilgesellschaftlichen Erfolg ist diese idiotische Angst davor, für die Ziele anderer benutzt zu werden.
Wenn Sie Ihr Ziel immer im Auge behalten, immer an Ihre Interessen denken, wird Sie niemand benutzen, Sie hingegen benutzen, wen Sie wollen. Das ist übrigens auch genau das, was der Antikorruptionsfonds und Alexej Nawalny tun. So heißt es oft. Irgendjemand muss ihnen die ganzen Informationen ja zuspielen. Die haben dann das Gefühl, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Und die zivilgesellschaftlichen Aktivisten dürfen ihre Ziele nicht aus dem Blick verlieren.
Sprechen wir über eine andere Angelegenheit, die sich schon lange hinzieht und in der es regelmäßig zu Verhaftungen kommt: der Bolotnaja-Fall. Einer der Beschuldigten, Dimitri Butschenkow, wurde plötzlich in Hausarrest überführt, was selbst für seine Verteidiger überraschend kam. Dieser Bolotnaja-Fall, so scheint es, wird noch ewig weitergehen. Oder werden sie irgendwann einfach aufhören?
Nun, wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen. Solange man sich mit der Verfolgung unschuldiger Leute, die sich nicht widersetzen, einfach und bequem eine Beförderung, eine positive Statistik und gute Aufklärungsquoten verdienen kann, wird man das tun.
Wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen
Im Fall Butschenkow möchte ich die wirklich wichtige Rolle seiner Verteidigung hervorheben, Pawel Tschikow von der Gruppe 29. Das sind absolut heroische Leute, die politisch verfolgte Menschen verteidigen, und zwar mit Erfolg. Überhaupt ist Rechtshilfe, rechtliche Unterstützung bei jeder Bürgerrechtskampagne ein wichtiges Element, generell bei allen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Womit auch immer Sie sich beschäftigen, am Gericht führt kein Weg vorbei, und deshalb ist es sinnvoll, sich rechtzeitig damit zu befassen.
Im vorliegenden Fall ist alles ziemlich offensichtlich, da man ja, den verfügbaren Videoaufzeichnungen und Fotos nach zu schließen, eindeutig nicht den Richtigen gefasst hat. Er sieht einfach nicht aus wie der Mann, der auf dem Bolotnaja-Platz war.
Wir müssen uns nunmal mit dieser Art von Siegen begnügen (Überführung in Hausarrest, hurra!), obwohl ja klar ist, dass man das Verfahren einstellen sollte, weil der Mann nichts mit der Geschichte zu tun hat.
Es kam die Frage auf, ob es einen Wandel gegeben habe: Früher führte man Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Politikern, Gouverneuren, Beamten und Silowiki durch, und nun kommt es auch bei Menschenrechtlern und Journalisten vor. Soja Swetowa ist ja auch Journalistin. Handelt es sich wirklich um einen Wandel, dem man Beachtung schenken sollte? Oder hat die Tatsache, dass Soja Swetowa Journalistin ist, keinerlei Bedeutung?
Ehrlich gesagt sehe ich hier keinen qualitativen Wandel. Die Hausdurchsuchung ist in unserer Rechtspraxis ein altbewährtes Einschüchterungsinstrument. Ihr Zweck ist, zu demoralisieren.
Wobei unklar ist, inwiefern das bei den Ermittlungen hilft. Aber man muss irgendwie Angst einjagen, Eindruck machen.
Diese Leute leben in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken
Ich glaube nicht, dass die sich wahnsinnig viele Gedanken über die öffentliche Reaktion machen. Sie wollen gewöhnlich einfach den unmittelbaren Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit terrorisieren. Dass sich das dann in der ganzen Welt verbreitet, ist für sie aus irgendeinem Grund jedes Mal wieder eine echte Überraschung. Warum das? Weil es, wie im Fall Dadin, Folgen hat – dann muss man jemanden halbzerkaut wieder ausspucken, und aus irgendeinem Grund sind sie darüber jedes Mal wieder erstaunt.
Diese Leute leben informationsmäßig in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht tatsächlich nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken, und auch nicht, wen sie da genau aufsuchen.
Vielen Dank. Ekaterina Schulmann heute in der Sendung Ossoboje Mnenije.