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Zukunft verboten

Krieg, Sanktionen und inzwischen auch ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten – eine Frage, die derzeit oft gestellt wird, ist: Wie stabil ist das System Putin? Um diese Frage zu beantworten, lohnt zunächst der Blick in die Politikwissenschaft: Demnach hängt die Stabilität eines politischen Systems auch von dessen Legitimität ab, und diese wiederum vom Legitimitätsglauben, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. Ein langlebiger Legitimitätsglaube ist nach Möglichkeit widerspruchsfrei und bietet bestenfalls eine Zukunftsvision. Beides ist im Putinismus nicht der Fall – darauf weisen zahlreiche Analysten schon seit dem Machtantritt des russischen Präsidenten hin. Was hält das System Putin dann zusammen? Was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Und wie sehen mögliche Szenarien für die Zukunft aus?

Zu diesen und anderen Fragen spricht der Journalist Pawel Kanygin mit der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann auf dem YouTube-Kanal Prodolshenije Sledujet (dt. Fortsetzung folgt).

Quelle Prodolshenije Sledujet

Pawel Kanygin: Putin und der chinesische Präsident haben sich in Moskau getroffen zu Gesprächen, die für Russland nicht viel gebracht haben dürften. Wie sehen Sie das, Ekaterina, stimmt es, dass dieses Treffen eher China und seinen Ambitionen als Gegenspieler der USA genützt hat? Welche Rolle fällt in dieser Konstellation Russland zu? Wird Russland zu Chinas kleinem Bruder? Oder zum Satelliten?

Ekaterina Schulmann: Ganz offensichtlich ist dieser Besuch aus China für die russische Seite momentan innenpolitisch extrem wichtig. Gerade erst hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Präsidenten und die Ombudsfrau für Kinderrechte erlassen. Das war eine derart unerwartete, schockierende Nachricht für den Politikbetrieb im Land, dass die Propagandamaschine gar nicht wusste, wie sie sie vermitteln soll. Also wurde beschlossen, dieses Thema einfach auszusparen, weil die Wörter „Putin“ und „Haftbefehl“ in einem Satz ja dann doch zu beschämend sind. Der einzige Ausweg war, diese Nachricht mit irgendeiner anderen zu übertrumpfen: damit, dass das chinesische Staatsoberhaupt nach Russland kommt, unserem Tatverdächtigen die Hand schüttelt, ihn zu sich einlädt … So gibt er den russischen Staatsbürgern und, noch wichtiger, den Eliten zu verstehen, dass dieser Haftbefehl nicht so schlimm ist, dass er nicht in die internationale Isolation führt, sonst wäre ja nicht der Kollege aus China angereist und hätte wohlwollend eine Gegeneinladung ausgesprochen. Insofern ist der situative und kurzfristige Nutzen sehr groß.         

Was meinen Sie, was bedeutet dieser Haftbefehl konkret für die Eliten? Sie nannten ihn beschämend, kommt das so an? Ist es eher beschämend oder eher etwas, das man ignorieren kann?

Das ist überhaupt kein Widerspruch: Wenn man etwas Verletzendes zu Ihnen sagt, und Sie wissen keine Antwort darauf, dann können Sie es auch ignorieren. Natürlich wissen wir nicht so genau, was sich bei Einzelnen im Kopf abspielt, aber ausgehend von dem Wertesystem, das in diesen Kreisen herrscht, ist für sie der Internationale Strafgerichtshof irgendeine Unterabteilung des Washington-Obkom. Sie glauben, dass diese Richter Anrufe mit Anweisungen bekommen, wie und was sie genau zu tun haben, und es dann so machen.

Gedankengänge: kurz und gerade, wie Bahnschwellen

Die Idee einer unabhängigen Rechtsprechung und die Idee internationaler und supranationaler Organe sind unmöglich in die Köpfe der postsowjetischen Menschen hineinzukriegen. Sie sind nicht in der Lage und werden nie in der Lage sein, zu verstehen, was das ist. Daher denken sie eindimensional: Es gibt einen Internationalen Strafgerichtshof. Klar, dass über den die Amerikaner bestimmen, weil die Amerikaner die Herren über das ganze Universum sind. Dieser Internationale Strafgerichtshof hat bisher sechs Haftbefehle gegen amtierende oder ehemalige Staatsoberhäupter verhängt. Das waren alles Chefs von Staaten, die man nicht anders nennen kann als failed States. Gleichzeitig, denkt unsere Elite, haben die amerikanischen Präsidenten bombardiert, abgeschlachtet, geplündert und Unschuldige in Guantanamo gefoltert, so viel sie wollten, und keiner hat sich darüber beschwert. Und warum? In deren Logik: Weil die amerikanischen Präsidenten stark und mächtig sind und alle sie fürchten. Wer sind folglich die, die solche Haftbefehle bekommen? Die, die nicht stark und mächtig sind, die, die keiner fürchtet. Ist das gut?

Ich kann es natürlich auch nicht hundertprozentig wissen, aber soweit man diese Leute nach jahrelanger Beobachtung durchschauen kann, sehen ungefähr so ihre Gedankengänge aus. Nicht lang, nicht komplex, ziemlich kurz und gerade, wie Bahnschwellen.   

Heißt das, Putin verliert in ihren Augen quasi seine Legitimität, seinen Status als anerkannter und unhinterfragter Führer

Na ja, nicht gleich die ganze Legitimität, die verliert man nicht so schnell. Es gibt kein einzelnes Ereignis, abgesehen vom physischen Tod, das die Macht des Präsidenten auslöschen würde. Das müsste schon eine ganze Kette solcher „bedauerlicher Missverständnisse“ und „zufälliger Pannen“ sein. Diese Kette hat schon relativ viele Glieder. Aber man weiß nie, welcher Strohhalm dem Kamel das Kreuz bricht. 

Aber was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Wie viele solcher Strohhalme müssen sich ansammeln, und was für welche?

Das lässt sich mit der Stabilität einer Bank vergleichen. Bei keiner Bank ist das ganze Geld, das die Kunden eingezahlt haben. Es liegt nicht physisch dort. Die Kunden lassen ihr Geld auf dem Konto, weil sie überzeugt sind, dass das besser ist, als das Geld zu Hause aufzubewahren. Wenn eine Gruppe von Kunden sich dessen nicht mehr so sicher ist und ihr Geld abhebt, sehen das die anderen und heben ebenfalls ihr Geld ab – und die Bank geht pleite. Sie ist also so lange stabil, solange die Kunden ihr vertrauen, und das tun sie, solange sie vertrauen. Das ist ein bisschen mystisch. 

Welcher Strohhalm bricht dem Kamel das Kreuz

Legitimität ist in der Politikwissenschaft einer der umfangreichsten und schwierigsten Begriffe, weil er ein irrationales Element enthält. In Wirklichkeit weiß niemand, warum die einen Leute Befehle erteilen und die anderen ihnen folgen. Erklärungen dazu gibt es viele, aber wenn man ehrlich ist, dann stehen im Zentrum dieses Phänomens einige Rätsel. Also, der Wahrheit am nächsten kommt, dass die Macht Macht ist, solange die Menschen rundherum glauben, dass sie es ist. Genauso, wie eine Bank nicht alles Geld hat, das eingezahlt wurde, gibt es keinen Leader, der so viel Macht hat, dass er alles umsetzen könnte, was er eigentlich umsetzen müsste. Er kann es nur mithilfe anderer Menschen, aber nur, wenn die ihn tatsächlich für den Leader halten.

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Strohhalme es braucht, um unserem Kamel das Kreuz zu brechen. Wir können nur erkennen, welches Ereignis sich als Strohhalm auf seinen Rücken legt, und welches ein Leckerbissen für ihn ist. Denn es gibt Phänomene und Ereignisse, die diese Legitimität füttern, und solche, die ihr schaden. Dieser Haftbefehl schadet ihr natürlich. Der Besuch aus China ist Futter. Was könnte hier eine Kettenreaktion auslösen? Wer wird der Kunde sein, der sagt: „Leute, wir sollten mal los. Hebt euer Geld ab, gleich wird das alles den Bach runtergehen.“ Was das sein wird, wissen wir nicht. 

Wir haben viele historische Beispiele, wie in sehr autoritären und strengen Systemen Massenproteste angefangen haben. Das passiert nicht dann, wenn das System besonders böse Bösartigkeiten macht. Die wirken oft erst recht systemstärkend, weil sie die Menschen einschüchtern und keiner mehr Widerstand wagt. Aber die Kombination, der Eindruck einer Schwäche in der Führungsriege und gleichzeitig eine spezielle Gemeinheit, irgendeine Schweinerei, die manchmal gar nicht so groß sein muss – das kann so ein Trigger sein. 

Was sind die offensichtlichen Strohhalme? Misserfolge aller Art an der Front zum Beispiel. Aber wie wir sehen, kann man sich aus Charkiw zurückziehen, aus Cherson, ohne dass groß etwas passiert. Doch eine Anhäufung derartiger Ereignisse, vielleicht wenn sie in einer kurzen Zeitspanne dicht aufeinander folgen, könnte vielleicht zu dem führen, was in Tolstois Krieg und Frieden beschrieben wird: Da schreit irgendein Soldat: „Das war's, Leute!“ und rennt los, und alle rennen hinterher. 

Die Empörung, die Unzufriedenheit mit der Situation muss also vom Volk ausgehen und nicht von den Eliten?

Nein, im Gegenteil, so habe ich das nicht gemeint. In einer Autokratie ist natürlich die Position der Elite das Entscheidende. Solange sie dafür ist, den Status quo zu bewahren, wird sich dieser auch halten. 

Am Beginn muss eine Schwäche stehen

Andererseits ist gerade im Nachhinein oft schwer erkennbar, wer als Erster Alarm geschlagen hat, denn sobald die Staatsmacht zu schwächeln beginnt, fangen sofort die Proteste an. Wenn dann ein neues Regime kommt, sagt es, wir sind auf einer Welle des Volkszorns gekommen, das Volk hat den Tyrannen gestürzt, und nicht: Die Elite hat beschlossen, den Kopf des gealterten Diktators zu opfern, um sich die Verlängerung ihrer Position zu sichern. Das klingt nicht so schön, und für die Geschichtsbücher ist es auch nichts, deswegen, noch einmal, entsteht im Nachhinein der Eindruck, dem Volk sei die Geduld gerissen. Aber am Beginn muss eine Schwäche stehen, und erst danach kommen die Konsequenzen.  

Wie lange kann man die Idee der [politischen – dek] Mobilisierung, der Geschlossenheit, der belagerten Festung noch bemühen? Dass die Eliten sich dicht um ihren Leader drängen müssen, weil sie im Westen geprügelt werden und Russland ihnen ein sicherer Hafen ist. 

Das ist momentan tatsächlich das Schlüsselnarrativ, aber es mobilisiert nicht. Die Mobilisierung der Gesellschaft konnte nicht gelingen, weil unser politisches System seit 20 Jahren auf Entpolitisierung setzt, auf die Trennung von Bevölkerung und Regierung, auf die Verdrängung der Menschen aus der Politik, auf die Verfolgung jeglicher Vereinigungen, jeglicher sozialer Verbindungen. Warum wurden die NGOs so terrorisiert? Warum wurde die Zivilgesellschaft verfolgt? Warum Nawalnys Strukturen zerschlagen? Weil das eigenständige, netzartige Zusammenschlüsse waren, die von unten wuchsen. Das durfte nicht sein, Zusammenhalt darf es nur im Staat geben, nicht in der Gesellschaft. Das hilft beim Machterhalt, wie man sieht, auf sehr lange Zeit. Aber wenn man dann so gescheit ist, eine Situation zu schaffen, in der man eine Mobilisierung braucht, dann sieht man, dass die gar nicht mehr möglich ist.  

Solange das Geld dafür da ist

Unsere [Regenten – dek] haben das bereits verstanden und versuchen es auch nicht mehr. Stattdessen verkaufen sie genau diese Geschichte: Im Westen werdet ihr alle geprügelt und herabgewürdigt, haltet euch fern. Bleibt hier, wir tun euch nichts, und ihr verdient gutes Geld. Den Staatsbürgern sagen sie: Wir zahlen euch komplett alles, das Leben, den Tod, den Wehrdienst, die Kinder. Das ist dieser scheußlich klingende neue Gesellschaftsvertrag „Geld gegen Fleisch“ wie er in der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] artikuliert wurde: Ihr liefert uns lebende Ware, wir geben euch Geld. Und zwar so viel Geld, wie ihr noch nie gesehen habt. Bisher funktioniert das durchaus. Oder es heißt: Hier verdient ihr besser und schneller, mehr als im Westen, wir werden neue Gebiete erschließen, es wird Infrastrukturprojekte geben. Und, das wird zwar nicht ausgesprochen, schwingt aber irgendwie mit: Wir hören auf, euch wegen Korruption zu belangen, wir werden euch beschützen, und ihr werdet innerhalb Russlands und der freundlich gesinnten Länder absolut frei sein. Geht nur nicht in den Westen, da sind schlechte Menschen, Transparenz, Strafverfolgungen, allerlei unangenehme öffentliche Diskussionen. Das könnt ihr alles nicht brauchen.

So ist also das Narrativ: Das ist ein Krieg, oder vielmehr eine Konfrontation mit dem Westen, die ewig und unüberwindlich ist. Wir sind zwei unterschiedliche Zivilisationen, daran wird sich nie etwas ändern. Aber das sei gut so, der richtige, natürliche Lauf der Dinge. Und wer betroffen ist, dem zahlen wir Geld, und dann wird es euch sogar besser gehen – was wolltet ihr denn mit diesem Verwandten, den keiner braucht? Geld ist doch viel besser. Also, so lautet das Angebot, der Gesellschaftsvertrag. Überzeugend? Absolut! Wie lange das anhalten kann? Da würde ich gern eine ganz einfache, plumpe Antwort geben: Solange das Geld dafür da ist. 

Putin beschreibt Russland oder stellt es zumindest in öffentlichen Reden einerseits als mächtigen Staat dar, als Supermacht, und andererseits als Opfer des Westens. Was ist das für ein Doppeldenk? 
       
Soweit ich das verstehe, ist das so gemeint: Ja, wir sind mächtig, reich und moralisch überlegen, und deswegen greift uns der Westen ständig an und wird uns immer angreifen, weil wir von Natur aus einander Feind sind. Aber wir sind so stark, dass er uns nie endgültig besiegen und in die Knie zwingen wird. Wir stehen immer wieder auf. Ohne dass wir uns je zur vollen Größe aufgerichtet hätten, sind wir so mächtig, dass der ganze kollektive Westen mit vereinten Kräften es nicht schafft, uns zu besiegen. Das ist, wie mir scheint, eine sehr vorteilhafte Darstellung des Geschehens, weil man niemanden besiegen und sich nirgendwo hinbewegen muss. Man kann jederzeit hinausgehen und sagen: Wir haben erfolgreich unsere einzigartige Zivilisation verteidigt, unsere Werte, sie konnten uns nicht versklaven, sie konnten uns nicht spalten. Seht nur, wir leben hier genauso wie vorher. Außerdem kann man sein eigenes An-der-Macht-Sein ebenfalls als permanenten Sieg hinstellen.  

Die Rhetorik ist bei uns voller Angriffe, gleichzeitig geht es ständig darum, dass wir Opfer sind. Sind wir nun Opfer, oder sind wir am Gewinnen? Welches Bild entsteht in den Köpfen der Menschen, die sich das im Fernsehen anschauen? Und das mit dem sowjetischen Doppeldenk habe ich nicht grundlos gesagt — steht Putins Doppeldenk nicht in dessen Tradition?

Der sowjetische Doppeldenk bestand darin, dass die Leute das Eine dachten, das Andere sagten und etwas Drittes taten. Und der postsowjetische Mensch, also die Generation, zu der ja unsere ganze Führungsriege noch gehört, kann nicht verstehen, dass es zwischen diesen drei Bereichen eine gewisse Beziehung geben muss. Wenn ihm vorgeworfen wird, dass er pausenlos lügt, dann versteht er nicht, was damit gemeint ist, weil er glaubt, dass das alle Menschen so machen. Die Verbindung zwischen Gedanken, Handlungen und Worten ist für ihn nicht klar, weil er in einer grundlegend anderen Kultur sozialisiert wurde, in der man sagt, was von einem erwartet wird, sich seinen Teil denkt und das tut, was einem je nach Situation nützt. Man hat also keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken. 

Die unverfälschtesten Vertreter dieses Typus sind bei uns jene, die der Generation der sowjetischen Boomer angehören, geboren in den 1950er Jahren. Warum gerade die? Sie waren 1991 ungefähr 40, also bereits erwachsene Menschen, die fest im Leben stehen. Sie haben das gesamte Programm der sowjetischen Bildung durchlaufen und wurden bereits von Sowjetmenschen unterrichtet. Das ist eine sehr spezifische Generation, ihr wurde jede lebendige Verbindung zum vorherigen, vorsowjetischen Russland gänzlich abgeschnitten. Sie wuchsen vor dem Informationszeitalter auf, es gab für sie in vielerlei Hinsicht keine Möglichkeiten, sich auf eigene Faust weiterzubilden. Das sind die Leute, die uns regieren. Doppeldenk und dreifache Divergenz sind für sie absolut charakteristisch. 

Keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken

Was Sie angesprochen haben, das ist der öffentliche Diskurs, den die Menschen momentan vorgesetzt bekommen, in dem Russland Opfer und Sieger zugleich ist. Das erscheint tatsächlich unlogisch, aber ein öffentliches Narrativ dieser Art muss gar nicht mit Fakten überzeugen, sondern es muss emotional überzeugen. Das heißt, die Menschen wollen eine gemeinsame Emotion spüren, und die besteht darin, dass wir Angst haben und gleichzeitig stolz sind: Uns greifen alle an, aber wir leisten Widerstand, der niemals brechen wird. 

Aber was Zukunftsaussichten angeht – das ist der größte Schwachpunkt. Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere, da ist nichts. Im öffentlichen Diskurs fällt nie ein Wort darüber, wie herrlich unser Leben sein wird, wenn wir siegen. Oder höchstens, dass wir die „Nazi-Regierung“ stürzen werden und das ukrainische Volk endlich aufwachen und erkennen wird, dass es in Wirklichkeit Teil des russischen Volkes sei. Und dann würden Russland und die Ukraine zusammen ein neues geopolitisches Zentrum bilden. Oder, dass wir uns mit China zusammentun und gemeinsam die USA besiegen, und dann … Es gibt dieses Bild der sogenannten multipolaren Welt, was immer das sein mag. Aber eine Vorstellung davon, wie toll diese multipolare Welt aussehen wird? Na gut, nun haben wir also die Hegemonie der USA gebrochen – und jetzt? Was kommt da noch so Großartiges auf uns zu?

Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere

Das ist ein ziemlich wichtiger Punkt, weil in der Öffentlichkeit oder überhaupt in der Politik oft das Fehlende wichtiger ist als das Vorhandene. Was nicht passiert ist, zählt oft mehr, als das, was passiert ist. Es lohnt sich, auf diese Lücken zu achten, sie sagen sehr viel aus. 

Das Fehlen einer Zukunftsvision scheint mir sehr bedeutend. Meine Arbeitshypothese ist: Am effektivsten erreicht die aktuelle Propaganda Menschen derselben Alterskategorie wie unsere Regierung. Das sehen wir in allen Umfragen, bei jedem Thema. Das Alter ist der wichtigste Faktor, der die Meinung bestimmt, egal wozu. Vielleicht richtet sich dieser Diskurs an Menschen, die kein Bild der Zukunft entwerfen können, weil sie wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden. Primitiv ausgedrückt. Daher brauchen sie auch kein solches Bild. Anders kann ich mir das nämlich nicht erklären. Die Sowjetmacht hat ein strahlendes Bild der Zukunft gemalt, Nazideutschland hat eine strahlende Zukunft versprochen, Mussolini hatte seine Idee vom neuen Rom, und in China gibt es die Idee der blühenden Gesellschaft. Egal, ob dieses Bild nun mehr oder weniger Details enthält, es kann auch nur ganz allgemein sein – aber es muss vorhanden sein. Bei uns hat man das Gefühl, es herrsche ein Verbot, als würden alle Sätze sofort unterbunden, in denen ein Verb im Futur vorkommt. 

Aber was wird mit den Kindern passieren, mit den Jugendlichen, die man jetzt mit aller Kraft zu militarisieren und indoktrinieren versucht und denen man diese neo-sowjetische „Ideologie“ einimpfen will?

Entgegen der landläufigen Annahme ist das, was Autoritarismus von Totalitarismus unterscheidet, nicht die Intensität der Repressionen. Schulbildung mit dem Ziel, die Kinder zu ideologisieren, ist aber ein Merkmal des Totalitarismus.

Wohin kann das führen? Noch sind wir in der heißen Phase eines Konflikts, von dem noch keiner erschöpft ist. Daher braucht es keine langen Erklärungen. Man kann sagen, wir wurden angegriffen, wir wehren uns. Bisher ist das Fehlen einer halbwegs einprägsamen, halbwegs zusammenhängenden ideologischen Botschaft kein Problem. Aber wenn man sich zehn Jahre halten und eine ganze Generation von Schülern von der ersten bis zur zehnten Klasse indoktrinieren will, dann wird man allein mit der Geschichte, dass der Westen immer schon gegen uns war, nicht weit kommen. Da braucht es schon so etwas wie den sowjetischen Diskurs. 

Der sowjetische Diskurs war etwas Ganzes, er war vielseitig und harmonisch zugleich. Er hatte eine philosophische Komponente für die Gebildeten – den Marxismus. Er hatte einen Teil, den wir heute Memes nennen würden — einprägsame, bunte Bilder und Sprüche, die jeder in der Sowjetunion kannte. Dazwischen gab es eine große Menge unterschiedlicher ideologischer Produktion – Malerei, Lieder, das Ballett Der helle Weg, allerlei Bücher, Gedichte, Prosa. Der sowjetische Mensch war komplett von Ideologie umgeben, er verwendete sie, war durchdrungen von ihr. 

Durchdrungen von der Ideologie

Wir haben bisher nichts Vergleichbares. So etwas können Sie erzeugen, wenn Sie a) die Zeit dafür haben und b) ein solches Monopol auf den öffentlichen Raum haben, so dass die Menschen, die lesen, schreiben, singen, malen oder tanzen wollen, gar keine andere Wahl haben, als zu Ihnen zu kommen und dieses ideologische Produkt zu schaffen. Bei uns ist die Situation noch anders: Wie viel Zeit wir haben, wissen wir nicht. Von der Zeit hängt hier tatsächlich vieles ab. Ein solches Monopol wie in der Sowjetunion besteht bisher auch nicht, weil die Menschen, die ihre kreativen intellektuellen Erzeugnisse verkaufen wollen, trotz allem die Wahl haben. Sie können sie irgendwo anders verkaufen oder angesichts der unklaren Lage erst mal gar nicht verkaufen und sagen: „Wisst ihr was, ich werde mir nicht gleich ein Z auf die Stirn malen, ich warte mal ab.“

Noch gelingt es also nicht, die Jugend für diese neue Vergangenheit zu begeistern und an das sowjetische Gepäck anzuknüpfen? 

In der Tat, wenn wir uns die Umfragen ansehen, dann sehen wir, dass jede Generation, die jünger als 65 ist, sich immer weiter vom [vorgegebenen – dek] normativen Ideal entfernt, dem offiziellen Diskurs immer weniger zustimmt. Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist in dieser Hinsicht am schlimmsten. Sie sind für den Staat vollends verloren, daher versucht er, sie lieber schnell zu vertreiben oder umzubringen oder in die Emigration zu zwingen, weil er sie nicht brauchen kann: Sie nehmen nicht an, was er ihnen beibringen will. Aber wir haben zehn Jahre mit einer relativ hohen Geburtenrate hinter uns, in den „goldenen Putinjahren“, als die Geburtenrate höher war als davor und danach. Das war der Zeitraum zwischen 2004 und 2014, zehn Jahre, in denen die Menschen daran glaubten, dass das Leben besser geworden ist, und etwas mehr Kinder bekamen … Wir haben also gar nicht so wenig Jugendliche: Die Älteren werden bald 18, die Jüngeren wurden gerade eingeschult, die 2016 Geborenen zum Beispiel. Während bei den 18- bis 24-Jährigen nichts mehr zu machen ist, kann man es mit diesen sehr wohl noch versuchen. Wenn man die irgendwie indoktriniert und dafür diese zehn Jahre zur Verfügung hat, dann hat man in zehn Jahren eine beträchtliche Zahl junger Leute, die, so der Plan, diesem Kurs treu sind. Und im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt [in der Ukraine – dek] zu kämpfen versucht, werden sich mit denen vielleicht sogar besser Kriege führen lassen. Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.   

„Im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt zu kämpfen versucht, werden sich mit den Jüngeren vielleicht sogar besser Kriege führen lassen.Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.“ / Foto © Riccky 1409/Wikimedia unter CC BY-Sa 4.0

Aber da muss man erstmal die nächsten zehn Jahre durchhalten. Grob geschätzt hat Putins Regime und Putin selbst … na ja, zehn, fünfzehn Jahre vielleicht noch. Was und wer kann die Nachfolge antreten? Wie kann die nächste Regierung aussehen, das nächste Regime, das in zehn, fünfzehn Jahren an die Macht kommt? Oder gehen wir immer noch davon aus, dass alles beim Alten bleibt?

Alles, was wir als Antwort auf diese Frage tun können, ist mögliche Szenarien beschreiben und sie dann nach Wahrscheinlichkeit ordnen. Das Wahrscheinlichste ist immer das Trendszenario: Was auch immer Sie prognostizieren, am ehesten bleibt alles ungefähr wie bisher. Wie beim Wetter, in 85 Prozent der Fälle bleibt es morgen ungefähr so wie heute. Aber wenn das in 100 Prozent der Fälle so wäre, dann gäbe es keine Jahreszeiten. Genauso ist es hier: Unser Trendszenario ist so lange das Wahrscheinlichste, bis etwas Anderes passiert. Und dann löst sich der ganze Trend in Luft auf.  

Ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht

Er verschwindet nicht gänzlich, das Vergangene wirkt immer auf die Zukunft, aber trotzdem. Sehen wir uns also dieses Trendszenario genauer an. Angenommen, das aktuelle politische Regime zieht diese – manchmal militärische, manchmal nicht-militärische – Konfrontation noch zehn Jahre in die Länge. Oder eigentlich noch zwei Amtszeiten des Präsidenten, sechs plus sechs. In dieser Zeit schaffen wir eine neue, vom Westen isolierte Wirtschaft, die zum Osten hin offen ist, bilden mit China irgendeine Art gemeinsamen Wirtschaftsraum, bauen neue Pipelines, neue Straßen, unsere Städte in Sibirien erleben einen Aufschwung, weil durch sie der ganze Verkehr läuft. Wir kämpfen irgendwie auf niedriger Flamme gegen die Ukraine oder ringen um eine Trennlinie. Na, wir machen aus uns eine Art Riesen-Donbass und haben diese acht Jahre, die zwischen 2014 und 2022 lagen, nun eben von 2024 bis irgendwann nach 2030. Inzwischen isolieren wir den Informationsfluss endgültig, etablieren die Plattform Rutube, schalten YouTube aus, transponieren alle auf unsere eigenen Plattformen, und die russische Bevölkerung vergisst mit der Zeit, dass es eine andere Medienrealität gibt, dass es Hollywoodfilme gibt, andere Lieder, andere Informationen, eine andere Literatur. Wir konsumieren das Eigene. In dieser Zeit perfektionieren wir auch unsere Gespräche über das Wichtige, erschaffen irgendeinen Ideologen, der uns eine Ideologie produziert, und folgen dieser in unserer Erziehung.         
   
Unter Bedingungen der Isolation und womöglich ohne die Gelegenheit zu sehen, wie es auch anders ginge, erziehen wir zehn Jahre lang die Kinder, die wir geboren haben, als wir noch Geld hatten. Und dann, dann haben wir eine junge Generation, die wir einsetzen können, dazu noch die aus China bezogenen Ressourcen – und damit ziehen wir wieder in den Krieg. In dem wir sehr viel mehr Erfolg haben. In der Ukraine passiert in der Zwischenzeit aus irgendeinem Grund gar nichts, der Westen ist wie immer von allem müde, und da installieren wir in Kyjiw unsere prorussische Regierung. Des Weiteren kann man dann schon die Macht auf ein glänzendes Nachfolgeteam übertragen, das den dreifachen Staat aus Russland, Belarus und der Ukraine regiert. Na, wie gefällt Ihnen dieses Bild?

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Ekaterina. Das will ich, wenn ich ehrlich bin, nicht mehr erleben.

Das, was ich hier beschrieben habe, ist das Wunschszenario derjenigen, die jetzt an der Macht sind. Sie sehen hier Merkmale eines Trendszenarios – es soll alles so weitergehen, es soll uns nichts passieren, die Front soll standhalten, die Öleinnahmen nicht versiegen … Und wir bereiten uns in dieser Zeit, in dieser Pause der Geschichte, auf den nächsten rüstungsindustriellen und militärischen Kraftakt vor. Das heißt, hier haben wir ein Element eines Trendszenarios, das, ich wiederhole, sehr oft vorkommt, weil große Systeme, große soziale Körper diese Kraft der Trägheit besitzen und sich gewissermaßen selbst in die Zukunft fortschreiben. Aber es gibt auch Elemente, die sozusagen der Phantasie angehören, die davon ausgehen, dass die ganze Außenwelt einfach einschläft, während wir uns hier vorbereiten, und sich außer uns niemand wappnet.   

Ich muss sagen, ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht. Sie können sich wahrscheinlich genauso gut wie ich eine Konstellation der Ereignisse vorstellen, in der genau das passiert. Warum auch nicht? Noch einmal, alles, was wir tun können, ist, unsere Szenarien nach Wahrscheinlichkeit zu ordnen. 

Am Ende [des Interviews] fragen wir immer alle: Wann sehen wir uns persönlich? In Russland, natürlich. Das heißt, Sie nennen uns ein Jahr, einen Monat oder vielleicht sogar ein genaues Datum und einen Ort, und wir gucken mal, ob wir das hinbekommen.

Okay, also, nach dem Krieg um 18:00, ja? Meine vagen Schätzungen haben zwar nicht wirklich Hand und Fuß, aber trotzdem … Ich würde sagen, ab 2024 … Da fängt der Boden schon an nachzugeben, da sinken wir schon ein. Deswegen, lieber Pawel … Also, 2024 ist natürlich sehr mutig. Sagen wir, 2025, irgendwann im März. In der Redaktion der Novaya Gazeta … 

Einverstanden, Potapow-Gasse Nummer drei. Vielen Dank, liebe Ekaterina, es war mir ein Vergnügen.    

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Der Sowjetmensch

„… die hohen Berge versetzt er, / der einfache sowjetische Mensch“ – so ehrt ein berühmtes Lied aus dem Jahr 1937 den Sowjetmenschen. Dieser war in der utopischen Vorstellungswelt der sowjetischen Ideologie ein Idealtyp und fast ein Übermensch. In diesem Sinne wurde der Ausdruck lange verwendet und war fest in der offiziellen Kultur der UdSSR verankert. Doch im Zuge der Perestroika hat die Wissenschaft eine andere Begriffsbedeutung konstatiert, die der ersten genau entgegenläuft: Der einst heldenhafte Sowjetmensch wurde zur Karikatur seiner selbst, dem opportunistischem und untertänigen homo sovieticus.

Das soziologische Phänomen des Sowjetmenschen jedoch machen Wissenschaftler auch im Russland von heute noch aus.

Das bolschewistische Konstrukt des Sowjetmenschen geht auf die vielfältigen Ideen-Strömungen in der christlichen Tradition wie auch in der Moderne zurück, die sich mit dem Thema des Neuen Menschen befassten.1 In der frühen Sowjetunion war dieses Konzept in den Reihen der künstlerischen Avantgarde allgegenwärtig und genoss zeitweise den Status einer offiziösen Doktrin der herrschenden Kulturpolitik: Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz vom Verstand geleitet, der Sache des Kommunismus ergeben. Er lebte und arbeitete mit höchster Disziplin und Kultur, war fest mit dem Kollektiv verbunden und besaß einen heroischen Willen, fähig, gänzlich die Natur zu beherrschen und alle dem Kommunismus entgegenstehenden Schwierigkeiten und Klassenfeinde zu überwinden.

Die weitere Entwicklung der Idee fiel in die Zeit der Industrialisierung und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft seit Ende der 1920er Jahre: Das Stalinsche Programm enthielt sowohl den Aufbau einer neuen Gesellschaft des Sozialismus als auch die Transformation des Menschen zum Sowjetmenschen. Die gesamte Kultur hatte diesem Ziel zu dienen. Eine zentrale Rolle erhielten dabei die Schriftsteller als „Ingenieure der menschlichen Seele“, unter der ideellen Führung von Maxim Gorki. Alle Medien der sowjetischen Massenkultur wurden in den Dienst der psychologischen Umgestaltung des Einzelnen genommen.2

Dieser hehre Mythos rund um den Sowjetmenschen faszinierte nicht wenige der – vor allem jungen – Leute, die oft aus einfachsten bäuerlichen Verhältnissen in diese „neue Gesellschaft“ geworfen wurden und dort soziale Aufstiegschancen fanden.

In der Realität stießen die idealen Züge des Sowjetmenschen mit den Widersprüchen des sowjetischen Alltagslebens der 1920er und 1930er Jahre zusammen. Dies waren beispielsweise die anhaltende materielle Not der sozialen Versorgung und der Wohnverhältnisse, der Zwang zu autoritärer Anpassung an Partei-Instanzen, sowie der Forderung, im „Dienst an der Sache“ allenthalben „Feinde des Sozialismus“ zu suchen und zu denunzieren.3 Faktisch lebte der Sowjetmensch also in zwei Welten, die er durch Double Thinking zusammenhielt: der Fähigkeit, in seiner Lebenswelt zwei entgegengesetzte Erfahrungen und Überzeugungen – Mythos und Realität – miteinander zu vereinbaren.4

Sowjetmensch vs. homo sovieticus (Alexander Sinowjew)

1981 veröffentlichte der Satiriker und Soziologe Alexander Sinowjew in München den Roman Homo Sovieticus, in dem er Aspekte des politischen und alltäglichen Lebens in der Sowjetunion satirisch beleuchtete: Der Sowjetmensch bei Sinowjew ist im Wesentlichen ein willenloser Opportunist. Mit seinem Sarkasmus legte Sinowjew einen Grundstein für den oft anzutreffenden Spott über die Idee des Sowjetmenschen. 

Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz der Sache des Kommunismus ergeben – Foto © Kommersant

Diese Deutung drang im Zuge der Perestroika auch in die Sowjetunion. Nahezu gleichzeitig begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Vor allem Juri Lewada (1930–2006), damaliger Leiter des Umfrageinstituts WZIOM, trieb die Forschungen über den „anthropologischen Idealtypus“ zwischen 1989 und 1991 maßgeblich voran.5

Soziologische Einordnung

Lewada zählte zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Sowjetmenschen unter anderem die Vorstellung von eigener Überlegenheit und Einzigartigkeit,6 gesellschaftlicher Gleichheit, Völkerfreundschaft und vom Staat als fürsorglichen Vater. Angesichts des gemeinsamen hehren Ziels – Aufbau des Kommunismus – garantierte der starke Staat die Richtigkeit der Auserwähltheit, er sorgte sich um seine Bürger und vereinte sie zu einer imperialen Ganzheit, die die Grenzen des Ethnischen wegzuwischen suchte.

In diesem idealen Modell waren alle Menschen gleich, alle Ethnien waren Bruder-Völker. Das Propaganda-Bild des kapitalistischen Feindes und die schroffe Ablehnung dieses Feindes hielten das Sowjetvolk nach innen zusammen – und halfen so auch, interethnische Spannungen zu unterbinden.

Um dieses Bild aufrecht zu erhalten, musste der Staat allerdings alle Impulse von außen unterbinden, das Sowjetvolk musste sich selbst isolieren und konnte erst in dieser „erzwungenen Selbstisolation“7 als einzigartig und überlegen aufgehen.

Abgesehen von dieser abstrakten, feindlichen Außenwelt gab es nur den Staat, außerhalb dessen sich der Sowjetmensch nichts vorstellen konnte.

Werteverfall und Identitätskrise

Da die kollektive Identität also aufs Engste mit dem Staat verbunden war, sollte der Zerfall der Sowjetunion auch das Ende des Sowjetmenschen bedeuten. Die Öffnung nach außen mündete in den Verlust des gemeinsamen Feindes, das Innen bröckelte so, dass Wissenschaft und Politik alsbald nahezu einstimmig ein „ideologisches Vakuum“, eine „Identitätskrise“ oder einen „Werteverfall“ konstatierten.

All das, was zuvor Alles bedeutet hatte, wurde ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Glauben an den Vater Staat wurde ein Gefühl der sozialen Schutzlosigkeit, aus der Überlegenheit – ein Gefühl des Abgehängtseins, aus der Fiktion der Gleichheit – eine tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaft. Das Brudervolk zerfiel in Ethnien, und mit dem überall erwachenden Nationalismus bezeichneten sich Ende 1989 nur noch knapp ein Viertel der in einer WZIOM-Studie Befragten mit Stolz als Sowjetmensch.8

Der Sowjetmensch der post-sowjetischen Zeit

Folgestudien, die von 1994 bis 2012 durchgeführt wurden, zeigten allerdings, dass das gesellschaftliche Phänomen Sowjetmensch lebendiger ist, als der Staat, der es ins Leben gerufen hatte:9 Sie führten zu dem Ergebnis, dass im neuen Jahrhundert eine neue Generation diesen anthropologischen Idealtypus reproduziert habe. Vor allem solche staatlichen Institutionen wie Armee, Polizei und Geheimdienste, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen, können sich demnach in großen Teilen der Bevölkerung auf Stereotype und Überzeugungen stützen, die auch schon dem Sowjetmenschen inne waren: autoritärer Staats-Paternalismus, Militarismus und Identifizierung mit dem Großmacht-Status.

So sei der Sowjetmensch auch heute noch höchst lebendig und präge nach wie vor die politische Kultur Russlands,10 meint Lew Gudkow, der als Direktor des 2003 gegründeten Lewada-Zentrums Juri Lewada nachgefolgt ist.


1.Küenzlen, Gottfried (1997): Der Neue Mensch: Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt am Main
2.Günter, Hans (1993): Der sozialistische Übermensch: Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/Weimar
3.Fitzpatrick, Sheila (1999): Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York/Oxford
4.Fitzpatrick, Sheila (2005): Tear off the Masks: Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton
5.Juri Lewada (1993): Die Sowjetmenschen: 1989 - 1991: Soziogramm eines Zerfalls, München
6.Gudkov, L. D. (2007): „Sovetskij Čelovek“ v sociologii Jurija Levady, in: Obščestvennye nauki i sovremennost' № 6/2007, S. 16-30
7.ebd.
8.Gestwa, Klaus (2013): Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperium: Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10/2013, S. 331-341
9.Gudkov, Lev (2010): Conditions Necessary for the Reproduction of "Soviet Man", in: Sociological Research, Nov-Dez., Bd. 49, 6/2010, S. 50-99
10.Forbes.ru: Lev Gudkov: nadeždy na to, čto s molodym pokoleniem vse izmenitsja, okazalis' našimi illjuzijami

 

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

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Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

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Pionierlager Artek

Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff der glücklichen sowjetischen Kindheit. 1925 erst als Sanatorium für Tuberkulosevorsorge eröffnet, bestand das Lager nur aus einigen Zelten am Strand, einer Fahnenstange und einem Appellplatz. Bereits in den 30er Jahren wurde es ausgebaut und ist zum Traumland und Wunschziel vieler Generationen von Pionieren geworden. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Artek zum heiligen Gral der Sowjetnostalgie.

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Kommunalka

Eine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen.

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Tauwetter

Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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