Welche Rolle spielt das Fernsehen derzeit in Russland? Ist das Internet immer ein Garant für Informationsfreiheit? Wie hängen Patriotismus, Medien und Politik zusammen? Wie populär ist Putin wirklich, und bei wem? Diese Fragen verfolgen Yevgenia Albats und Iwan Dawydow von The New Times im Interview mit dem profilierten Ökonomen Konstantin Sonin, HSE Moskau und seit September 2015 auch University of Chicago.
Internet versus Fernsehen
Bekanntermaßen hängen Demokratisierungsprozesse unmittelbar mit dem Zugang zu Informationen zusammen und damit, ob Menschen die Möglichkeit haben, Alternativen abzuwägen. Eben darum schien mit dem Aufkommen und der weiten Verbreitung des Internets in Russland keine ernstzunehmende Rückwärtsbewegung mehr möglich: Solange die Behörden das Netz nicht einfach dichtmachen, würden die Menschen wachgerüttelt und die Aussicht, erneut hinter einem eisernen Vorhang zu landen, ließe sie schaudern. Doch was in unserem geliebten Vaterland geschehen ist, scheint ganz und gar unerklärlich. Zugang zum Internet, zu alternativer Information ist da, doch das Land klebt an den Fernsehgeräten, die Leute schlucken, was vom Bildschirm auf sie einströmt, und unternehmen nicht einmal den Versuch, den Inhalt auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu prüfen. Das Internet ist der Fernsehpropaganda unterlegen. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Gerade das letzte Jahr gibt uns in dieser Hinsicht zu denken, offenbar sind Informationen kein so einfacher Gegenstand, wie es scheint. Die Erfahrung von 2014 hat gezeigt: Die Tatsache, dass Informationen zugänglich sind, bedeutet noch nicht, dass sie in irgendeiner Form genutzt würden. Zum einen hat ein und dieselbe Information für verschiendene Menschen unterschiedliche Bedeutung, je nach dem Weltbild, das in den Köpfen bereits vorhanden ist. Zum anderen bauen die Menschen jede neue Information so in ihr Bild der Gegenwart und der Zukunft ein, wie es ihren Vorlieben entspricht: Die passenden Bausteine nehmen wir uns, den Rest lassen wir liegen.
Das heißt aber nicht, dass über das Fernsehen jeder beliebige Inhalt lanciert werden könnte. Nehmen wir doch einmal folgendes Szenario, als Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, die Ressourcen, die auf die Propaganda für den Ukrainekrieg und die Annexion der Krim verwendet wurden, wären stattdessen darauf gerichtet gewesen, dass die Oblast Rostow an die Ukraine abgetreten werden soll. Hätten wir die Oblast Rostow dann tatsächlich der Ukraine gegeben? Ich bin überzeugt, dass das nicht geschehen wäre. Das bedeutet, dass die Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt oder auf gewisse zuvor nicht realisierte, aber doch lebendige Vorlieben trifft.
Die Propaganda funktioniert, wenn sie das innerste Wesen des kollektiven Bewusstseins anspricht. Ich glaube, in jedem Land kann sich ein Politiker, wenn er das will, des aggressiven Wesens des Menschen bedienen. Aber längst nicht alle setzen zur Erhaltung ihrer Macht auf diesen Weg.
Ich denke, wir müssen einsehen, dass der mögliche Zugang zu Quellen unzensierter Informationen, zur freien Presse nicht so entscheidend ist, wie wir angenommen haben. Wir sehen heute, dass es Dinge gibt, die tiefer liegen. Das hätten wir allerdings auch schon früher begreifen können. Als zum Beispiel in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, ging dies zwar mit Gewalt einher, es existierte aber dennoch eine verhältnismäßig freie Presse. Was die Mehrheit allerdings nicht daran hinderte, dem Irrsinn zu verfallen und mit Hitler zu sympathisieren.
Die Büchse der Pandora
Denken Sie an den arabischen Frühling. Die Medien schrieben: Am Anfang war ein Wort, und dieses Wort war ein Tweet.
Massenkundgebungen und spontane Aufstände gab es lange vor der Erfindung des Internets und sogar vor der Erfindung der Schriftsprache. Twitter hat die Versammlung auf dem Tahrir-Platz leichter gemacht, aber es ist nicht gesagt, dass sich dort nicht auch sonst Massen von Menschen zusammengefunden hätten. Ich würde die Rolle der sozialen Netzwerke auch im Fall der Mobilisierung für den Bolotnaja-Platz und Sacharow-Prospekt nicht überbewerten. Auch ohne die Internet-Aufrufe wären nicht weniger Demonstranten gekommen. Man braucht nur an die riesigen Kundgebungen Ende der 1980er Jahre zu denken: Damals wurde jedes Flugblatt, das mit Durchschlag auf der Schreibmaschine getippt wurde, einzeln in einen Briefkasten gesteckt, und es kamen mehrere hunderttausend Menschen zusammen – wesentlich mehr als heute mit Hilfe des Internets.
Wir haben die kühne Hypothese aufgestellt, Glasnost hätte nichts mit dem Niedergang des sowjetischen Regimes zu tun. Die Perestroika - ja, das Gesetz über die Kooperativen und die missglückten Wirtschaftsreformen - ja, die wirtschaftliche Stagnation - ja, aber Glasnost - nein.
Mir kommt es vor, als hätte das Volk Sehnsucht nach Propaganda. Die gigantischen Feierlichkeiten zum siebzigsten Jubiläum des Tags des Sieges haben eine Explosion der Begeisterung ausgelöst, alle schauten die alten Filme, hörten die alten Lieder. Was hatte die Leute vorher davon abgehalten? Sie hätten sich jederzeit eine DVD oder eine CD kaufen und für sich alleine feiern könen! Aber nein. Im Fernsehen sollte das alles kommen. So ist es auch mit der Propaganda. Unterschwellig entsprach ihre gegenwärtige Thematik den Erwartungen: Keiner mag uns und wir mögen die anderen auch nicht – besonders die Ukrainer und die Amerikaner. Und schuld an allem sind die Juden und die Liberalen. Das passte bestens zu den politischen Zielen der Führung unseres Landes.
Ich glaube, wenn beispielsweise Alexej Nawalny oder Wladimir Ryshkow freien Zugang zum Fernsehen hätten, würden die mit Äußerungen wie „Jakunin mit seinen Pelzdepots soll verurteilt werden und hinter Gitter kommen“ allgemeine Zustimmung erreichen. Wenn man aber die gesamte Prime-Time darauf verwendet zu begründen, dass wir eine rechtsstaatliche Gesellschaft brauchen, also ein faires und unabhängiges Gericht mit Einhaltung parlamentarischer Verfahren bei der Annahme von Gesetzen und der Gewährleistung freier Konkurrenz auf dem Markt – dann geht all das ins Leere, und da hilft auch keinerlei propagandistische Ressource.
Überdies hat das heutige Regime mit seiner Hetzpropaganda eine Pandorabüchse so voller Hass geöffnet, dass es auch einer nachfolgenden Regierung kaum gelingen wird, sie wieder zu schließen. Zu dem Thema habe ich mich einmal mit Michail Chodorkowski unterhalten. Ich frage ihn: „Stellen Sie sich vor, Sie kommen an die Macht und haben sich, sagen wir, den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben. Das Volk fordert von Ihnen, alle korrupten Beamten und Politiker hinter Gitter zu bringen. Werden Sie sie hinter Gitter bringen?“ „Nein, das kann ausschließlich ein von mir unabhängiges Gericht“, antwortet Chodorkowski. „Aber das Volk verlangt trotzdem, dass Sie persönlich darüber entscheiden, wer wie lange hinter Gitter kommt“, wende ich ein. „Ihre Argumente für ein Gerichtsverfahren werden als Schwäche aufgefasst: Das Volk will umgehende Bestrafung, und Sie schlagen ein kontradiktorisches Verfahren vor.“ Es ist eine fatale Situation, in der wir uns befinden: Wer auch immer als nächstes an die Macht kommt, wird gewissermaßen Geisel der heutigen Vorlieben und Erwartungen sein.
Trügerische Zahlen
Sehr wichtig ist zu verstehen, dass es nichts bringt darüber zu lamentieren, ob das Volk nun gut oder schlecht ist, aufgeklärt oder ungebildet – man muss an die gebildeten Schichten, an die Elite appellieren. Aber eines ist doch bemerkenswert: Unter den Putinanhängern, den Befürwortern von Krymnasch und dem Krieg in der Ukraine, findet sich eine große Zahl von Leuten, die keine Steuern zahlen und denen ihr Salär einfach im Umschlag ausgehändigt wird. Man sollte meinen: Eine starke Armee erfordert eine Menge Geld, also unterstütze die Macht, welche auch immer, und zahl Steuern. Die Antwort: „Wozu? Die stecken sich doch sowieso alles in die eigene Tasche.“
Das ist eines dieser mystischen Dinge – die ständig auftauchenden Zahlen zu Putins großer Popularität, und dabei ist es gar nicht so einfach, diese uneigennützigen Fans seiner Politik im wirklichen Leben zu Gesicht zu bekommen. Auch in meinem Umfeld gibt es Leute, die Putin unterstützen, allerdings – für Geld. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass diese Unterstützung eine Scheinunterstützung ist. Wie viele Menschen bekommt Putin denn zusammen für eine Kundgebung, wenn er sie nur über das Fernsehen anspricht, ohne Administrative Ressource, ohne die ganzen Busse, die angeblich seine glühenden Anhänger herankarren! Ich vermute, gerade mal tausend.
Aber was bezeichnen wir dann als Popularität? Bei uns ist die Popularität des Präsidenten eine sehr spezielle Popularität. Wenn die Soziologen bei uns einen Menschen fragen, ob er für den Präsidenten ist, dann antwortet er: Ja. Ansonsten ist er in den meisten Fällen gar nicht für ihn. Er beklagt sich über sein schweres Los. Schimpft auf die Beamten. Kann die Abgeordneten nicht leiden. Er ist der Ansicht, dass an der Macht sowieso alle stehlen. Kurz, im täglichen Leben sagt er durchweg „nein“, aber bei der Umfrage „ja“.
Ich möchte aber noch etwas anderes zu bedenken geben. Die sehr wichtige Entscheidung über den Beitritt der Krim wurde ja in engen Kreis getroffen, ohne Beteiligung von Vertretern des Wirtschafts- und Finanzblocks. Das ist ein Merkmal einer Dysfunktion, eines Versagens im System der Staatsverwaltung. Infolge dieses Funktionsversagens befinden wir uns heute in einer äußerst schwierigen Situation mit einer fatalen inneren Entwicklungslogik.
Wir haben faktisch eine Armee, die Kriegshandlungen durchführt, und dazu haben wir offenkundig noch einen Super-Überbau, der damit beschäftigt ist, diese Armee so aussehen zu lassen, als sei sie keine Armee. Eine gewaltige Menge von Menschen und eine noch gewaltigere Menge an Geld ist involviert in das, was sich im Osten der Ukraine abspielt. Und noch mehr sind mit der Vorbereitung auf irgendeinen fantastischen großen Krieg beschäftigt. Und wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen, ist völlig unklar.
Nutznießer der Verhältnisse
Es gab also ein Versagen im System der Staatsverwaltung. Warum hat man die Sache danach noch weitergetrieben? Ging es den Profiteuren des Regimes nicht auch ohne Krieg in der Ukraine bestens?
Kurzfristig ziehen alle Leute, die in der Kriegsindustrie sitzen, Vorteile aus dieser Situation. Heute werden, so weit ich sehe, alle wesentlichen Entscheidungen von einer ganz kleinen Gruppe getroffen, in der die Silowiki und die Militärs absolut überproportional vertreten sind. Das heißt, anstelle eines Gremiums, in dem das größte Gewicht bei den Ministern für Wirtschaft und Finanzen liegt, wird heute alles von den Silowiki entschieden. Aber für einen Hammer sieht alles um ihn herum aus wie ein Nagel. So auch für die Silowiki – ihre Prioritäten bestehen einzig darin, dass der Krieg weiter finanziert wird. Und heute zu erwarten, dass von den Silowiki einer aufsteht und sagt: Nein, Leute, wir können nicht so viel für den Krieg ausgeben und die ganzen Mittel vom Konsum abziehen – das ist naiv.
Die Militärausgaben führen unvermeidlich zu Abstrichen bei den sozialen Haushaltsposten, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen - auch für die, die jetzt Putin applaudieren.
Wenn wir in dieser Weise über den Haushalt sprechen, haben wir es mit Metaphern zu tun, aber in Wirklichkeit ist der Haushalt zum Teil ein Gummihaushalt, entscheidend sind die Prioritäten. Man kann noch mehr Panzer fabrizieren, noch weniger für Bildung und Gesundheit ausgeben und noch mehr für Propaganda, und die Militärausgaben noch einmal verdoppeln. Das Material wird sich widersetzen, aber es wird Rogosin nicht zwingen, den Weg freizumachen. Rogosin wird Druck machen. Zumal er die Folgen nicht ausbaden muss. So wie zum Beispiel der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow. Er machte Druck und blieb stur, und die Folgen musste das ganze Land ausbaden, das dann in der Folge auch zusammenbrach. Heute kann man unseren Haushalt so straffen, Investitionsprojekte und die Ausgaben für Gesundheit und Bildung so sehr zusammenkürzen, dass man den Militärhaushalt verdoppeln kann. Verdreifacht man ihn, gehen die Lehrer auf die Straße, und in den Krankenhäusern geht das Licht aus – aber auch das ist möglich. Vervierfachen geht wahrscheinlich nicht. Aber diese Richtung kann man jedenfalls noch lange weiterverfolgen.
Und dazu braucht man dann auch die Propaganda: der Feind steht vor den Toren.
Genau. Darum liebe ich das Beispiel von Slobodan Milošević. Während er Präsident von Serbien war, schrumpfte das Land auf die Hälfte zusammen, der Lebensstandard der Serben halbierte sich, krasser als bei uns in den schlimmsten Momenten der 1990er Jahre. Bei seinen letzten Wahlen erhielt er fast 36 Prozent der Stimmen. Die Propaganda hatte ihr Werk getan. Die Ausbeutung nationalistischer Ambitionen kann Menschen dazu bringen, große Probleme zu beschönigen und gravierende Opfer zu rechtfertigen.
Die Krim-Hysterie hat sich gelegt, das Projekt Noworossija wird offenbar langsam eingestellt …
Das würde ich nicht sagen. Es gibt eine Menge Leute, die ein Interesse an der Fortführung des Projekts Noworossija haben. Seine Nutznießer sind die Militärs und der militärisch-industrielle Komplex, außerdem gibt es Leute, die damit ihre Popularität aufrechterhalten. Es ist ja unverkennbar, dass viele die Fortsetzung des Banketts wollen.
Und trotzdem muss man nachlegen, damit das patriotische Feuer weiter brennt?
Ich glaube, Sie überschätzen die Dimension der Absichten. Ich gehe davon aus, dass es innerhalb der Macht keinerlei Gedanken daran gibt, die Bevölkerung zu betrügen. Putin und seine Entourage glauben selbst daran, dass Russland von Feinden umzingelt ist und die NATO vor den Toren steht. Und nicht nur das, die Leute, die diesen Glauben nicht teilen, werden aus den höheren Machtetagen verdrängt.
Dazu kommt, je mehr sie sehen, dass sie von Feinden umgeben sind, desto mehr rechtfertigt dies den eigenen Verbleib an der Macht. Angeblich sitzen wir im Schützengraben, wir kämpfen gegen den Feind, und wenn wir den Schützengraben verlassen, werden die Feinde unser Territorium besetzen. Eben dieses Motiv rechtfertigt auch zehn Jahre Führung durch Staatskorporation. Es wird im großen Stil geplündert, alles ist entsetzlich ineffektiv, aber die Hauptsache ist, ich sitze im Schützengraben. Mit einer derartigen Argumentation kann ich alles rechtfertigen, was mit mir passiert, und hinsichtlich dessen, was ich über mich höre, eine kognitive Dissonanz zulassen. Und wenn ich gehe, bricht überhaupt alles zusammen. Das ist das Modell, das heute in Kraft ist.
Wie wird das weitere Szenario aussehen?
Wenn es nicht zu irgendwelchen außerordentlichen politischen Entscheidungen kommt, etwa Mariupol, Charkow und Kiew anzugehen, was vor zwei Jahren ausgeschlossen und heute bloß noch eher unwahrscheinlich erscheint, kann die Wirtschaft im heutigen Zustand noch fünf bis zehn Jahre so weiterbestehen – und zwar ohne besondere Probleme. Aber dann wird es erneut zu einer Krise wie 1991 kommen, d. h. einer Haushaltskrise und einer politischen Krise. Allerdings ein paar Nummern kleiner. Ich sehe keine besonderen Anhaltspunkte für einen Zerfall des Landes oder so etwas. Aber die ganze Sache wird mit Stagnation und dem Verfall des politischen Regimes einhergehen.