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„Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

Um das gegenwärtige Russland zu erklären, bemühen viele russische Sozialwissenschaftler Weimar-Vergleichе: Nach dem Systemzusammenbruch kam es in beiden Ländern zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen oft über Identitätskrisen und über Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Schließlich gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. 

Einige Sozialwissenschaftler sehen auch zwischen der Wilhelminischen und der Gesellschaft des Homo Sovieticus Parallelen. Diese seien von Untertanen durchsetzt gewesen, wie sie zum Beispiel Heinrich Mann beschrieb: obrigkeitshörig, kollektivistisch und konformistisch. Und diese Eigenschaften, so die Behauptung der Wissenschaftler, würden sowohl die politische Kultur der Weimarer Republik als auch die des gegenwärtigen Russland prägen. 

Die Beweisdecke für solche Thesen ist sehr dünn, meint dagegen Grigori Judin. In einem Interview mit der Novaya Gazeta räumt der Soziologe mit gängigen Klischees auf. 

Quelle Novaya Gazeta

„Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin

Novaya Gazeta: In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich über das Modell des Homo Sovieticus, das von vielen russischen Soziologen aufgegriffen und von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird: Wladimir Putin etwa spricht von einem „Element des Kollektivismus“ in den Herzen der Russen. Ist da etwas dran?

Grigori Judin: Es gibt die Sichtweise, die UdSSR habe eine neue anthropologische Art hervorgebracht, die zudem noch schrecklich resistent ist: Nichts kann ihr etwas anhaben. Dieser Typus vernichtet sämtliche Institutionen, die auf seine Transformation abzielen. Zu seinen typischen Eigenschaften gehören Konformität, Paternalismus; er liebt jede Form von Gleichmacherei. Insgesamt also ein höchst unangenehmer Typ, der bei jedem normalen Menschen Abscheu hervorrufen muss. All dem liegen zwei Dinge zugrunde, die man mit dem sowjetischen Menschen assoziiert: der Kollektivismus und der Hass auf den Individualismus.

Das bringt uns in eine recht merkwürdige Situation. Denn sämtliche Studien zeigen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, weder über den sowjetischen noch den heutigen russischen Menschen so zu denken. Überhaupt ist die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus aus Sicht der Sozialwissenschaften ein fragwürdiges Unterfangen: Ihre Gründerväter waren eher um eine Synthese bemüht. 

Russland ist eines der individualistischsten Länder überhaupt

Und selbst wenn wir diese Dichotomie bemühen, stellen wir fest, dass im heutigen Russland die individualistische Denkweise viel stärker ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die internationale Werte-Forschung, die es uns erlaubt, Russland mit anderen Ländern zu vergleichen. Wie sich herausstellt, ist Russland eines der individualistischsten Länder überhaupt.

Womit hängt das zusammen?

Das ist nicht weiter überraschend, denn die Institutionen des Kollektiv- oder gemeinschaftlichen Lebens, die den Individualismus ausgleichen würden, sind bei uns nicht entwickelt. Sie wurden in einem hohen Maß bereits in der späten Sowjetunion unterdrückt, und danach hat sich überhaupt niemand mehr darum gekümmert. Seit den 1990er Jahren versuchen wir, eine liberal-demokratische Gesellschaft aufzubauen, aber von den zwei Komponenten haben wir nur an eine gedacht. Wir haben eine gestutzte Version des liberal-demokratischen Systems importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie.

Wir haben eine gestutzte Version importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie

Damals bestand die Hauptaufgabe darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, Konkurrenz zu schaffen. Unter Existenzangst verlangte man den Menschen Unternehmersinn ab und lehrte sie, dass niemand für sie sorgen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Heute ist die Gewissheit, dass du keine Hilfe zu erwarten hast und jeder sich selbst retten muss, zum Grundprinzip des russischen Lebens geworden. 

Das Ergebnis ist eine zunehmend radikale Entfremdung der Menschen voneinander und der fehlende Glaube an das gemeinschaftliche Handeln.
Für den demokratischen Aspekt interessierte sich so gut wie keiner. Doch genau das, was wir also links liegen ließen, weil es uns unwichtig erschien, ist das Allerwichtigste: Institutionen der regionalen Selbstverwaltung, regionale Vereinigungen, Berufsverbände. Um den Ausbau der regionalen Selbstverwaltung hat sich in den 1990er Jahren niemand  gekümmert, und später wurde sie ganz bewusst unterdrückt. Niemand hat für Initiativen von unten und Berufsverbände gesorgt, ganz im Gegenteil, in allen Bereichen, die traditionell in den Händen von Fachleuten lagen, sehen wir heute die uneingeschränkte Macht von Managern.

Aber dieser Individualismus ist keiner, den man als positiv bezeichnen kann. 

Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag gefragt: Welcher Schlüsselbegriff beschreibt die russische Gesellschaft, wenn es weder der Kollektivismus noch der Individualismus tun? Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.

Aus soziologischer Sicht geht es nicht um einen Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus. Moderne Gesellschaften können nur bestehen, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den beiden existiert. Unser Problem ist, dass in Russland ein aggressiver Individualismus vorherrscht, der von Angst genährt wird und deshalb in brutale Konkurrenz, totales gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft umschlägt.

Verstehe ich richtig, dass ein gesunder Kollektivismus nicht das Primat der Gruppe über das Individuum meint, sondern die Idee eines Gemeinwohls? In Russland steht man dieser Sicht ja eher zynisch gegenüber.

Genau das ist das Schlüsselwort, das die Alltagsmoral in Russland beschreibt: Zynismus. Wenn du dich lächerlich machen willst, musst du nur das Wort „Gemeinwohl“ in den Mund nehmen: Wo hast du denn so was je gesehen? Weißt du denn nicht, wie es auf der Welt zugeht? Genau diese ethische Grundeinstellung resultiert aus einem mangelnden Gleichgewicht, einem unterentwickelten Gemeinschaftsleben.

Das Interessanteste ist, dass wir die Propaganda der Sowjetzeit gemeinhin belächeln, aber sobald es um den sowjetischen Kollektivismus geht, schenken wir ihr aus irgendeinem Grund weiterhin Glauben. Die UdSSR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, aber wir glauben immer noch, dass die Sowjetmenschen echte Kollektivisten waren. Was an der spätsowjetischen Zeit so kollektiv gewesen sein soll, ist dabei völlig unklar. Es ist jedoch bequem, an die Mär vom schrecklichen sowjetischen Kollektivisten zu glauben – so können wir skeptisch herabschauen, anstatt zu handeln, und dabei auch noch das eigene Ego streicheln (ich bin ja ganz anders, weil ich Wert auf Persönlichkeit und Individualität lege).

Richtet sich die heutige TV-Propaganda nicht in genau diesen Begriffen an das kollektive Unterbewusstsein der Russen? „Wir sitzen alle in einem Boot“, „wir müssen uns verbünden“ und so weiter.

Natürlich, diejenigen, die diese Botschaften aussenden, wollen, dass wir uns mit ihnen verbünden. Gleichzeitig sagt man uns: Verbündet euch ja nicht untereinander. Das ist furchtbar gefährlich und kann nur in einer Revolution enden, diese Botschaft „Verlasst euch auf die Führung, unterstützt sie, und sie wird euch voreinander und vor heimtückischen Feinden beschützen“.

Die Propaganda verbreitet also eine verzerrte Botschaft über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, der Geschlossenheit. Aber funktioniert sie auch, oder macht das alles keinen Sinn?

Sie funktioniert, man muss nur richtig verstehen, worauf sie abzielt. Das Ziel ist, die Atomisierung als eine unvermeidbare Tatsache hinzustellen. Die Botschaft der offiziellen Propaganda ist nicht, dass wir in einem perfekten Land mit tadelloser Regierung leben. Ganz und gar nicht – vielmehr sagt uns die Obrigkeit: „Ja, ich bin schlecht, aber wenn ich nicht da bin, wird es euch noch schlechter gehen, so ist das Leben. Jeder Mensch und jeder Politiker kümmert sich nur um sich selbst, das ist die menschliche Natur. Kollektives Handeln ist unmöglich. Und ganz egal, wer nach mir kommt, er wird kein bisschen besser sein, aber er wird euch nicht vor der Außenwelt beschützen können oder wollen. Es wird Chaos und Anarchie geben.“
Die Hauptemotion, mit der die Propaganda arbeitet, ist die Angst, und das Hauptmotiv, dessen sie sich bedient, ist die Suche nach Schutz.

Ein Thema, das aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist, sind die Beziehungen zur Ukraine. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte: Ganze Familien sind wegen der Krim, dem Maidan und so weiter zerbrochen. Wie passt das zusammen mit dem ungesunden Individualismus der russischen Gesellschaft? Hat dieser Konflikt Konsequenzen, die nicht einkalkuliert waren?

Wenn man sagt, dass es in Russland an kollektivem Leben mangelt, heißt das auch, dass das Bedürfnis danach immer da ist. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, dass die Menschen insgesamt nur schwer mit diesem Mangel umgehen können. Dieses Problem haben nicht nur wir: Immer häufiger hört man von der Rückkehr der Identität als einer der Haupttendenzen der liberalen und postliberalen Welt.

Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.

Überall auf der Welt versuchen die Menschen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch das Erstarken der konservativen Kräfte

Die Menschen streben stets nach einem kollektiven Leben, und in Russland sehen wir dafür viele Beweise. Die Geschichte mit der Krim kam 2014 – ein oder zwei Jahre, nachdem unterschiedliche  Teile der russischen Gesellschaft begonnen hatten, ihr Bedürfnis nach kollektivem Handeln zum Ausdruck zu bringen und sich Bewegungen und Demonstrationen anzuschließen.

Sie meinen die Bolotnaja?

Nicht nur, das ist ein Beispiel von vielen. Parallel dazu konnte man einen Boom beim ehrenamtlichen Engagement beobachten, der sich nur teilweise mit den Protestbewegungen überschnitt. Es gab ein allgemeines Bedürfnis, das auch heute noch spürbar ist. Der Mensch ist so geschaffen, dass er kollektive Ziele braucht, eine Identität.

Die Mobilisierung von 2014 war ein Mittel der Machthaber, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – teils unbewusst, teils aber auch mit Kalkül.

Wir haben gesehen, wie dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor bei diversen Bewegungen mitgelaufen waren, nun zum Gewehr griffen und in den Donbass fuhren. Und alles nur, weil sie, grob gesprochen, einen Sinn im Leben brauchten. Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn, sie sehen keine Ziele, die gesellschaftlich akzeptiert wären. Initiativen von unten werden im Keim erstickt; das einzige Lebensmodell, das angeboten wird, ist die Erhöhung des Konsumstandards. Aber Konsum kann keinen Sinn liefern, für den man lebt. 

Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn

Die Mobilisierung von 2014 hat gezeigt, dass die „konservativen Werte“, die dieses Vakuum vielleicht hätten ausfüllen können, gar nicht existieren. Viele Familien wurden entlang der Linie Russland/Ukraine gespalten. Jetzt beobachten wir die Spaltung der orthodoxen Kirche. Genau das meine ich mit Atomisierung – wenn die Institutionen des kollektiven Lebens schwach sind, ist es sehr einfach, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

Bis vor Kurzem schien es, als würde die Ukraine in den Hintergrund rücken. Jetzt ist sie wieder in den Nachrichten. Werden die Aufrufe der Propaganda wieder Gehör finden?

Diesen Bonbon kann man nicht ewig lutschen. Ein paar Mobilisierungs-Reserven stecken vielleicht noch in diesem Thema, vor allem, wenn etwas Unerwartetes geschieht: Eine Verschärfung der Situation mit der Ukraine oder einem beliebigen anderen angrenzenden Gebiet – das könnte noch einmal denselben Effekt haben. Aber es ist klar – dies ist eine hohle Identität: Ja, es gibt Menschen, die zum Kämpfen in den Donbass gegangen sind, aber alle anderen sitzen weiterhin vor dem Fernseher. TV-Solidarität ist ein Surrogat, und Mal um Mal schwindet dessen Wirkung dahin.

Die Fake-Mobilisierung übers Fernsehen findet ihr Ende. Auch wenn man die Dosis der Verstrahlung durch Propaganda noch erhöhen kann – eine solche Geschlossenheit wie früher wird es nicht mehr geben, denn die Propaganda ist zur Gewohnheit geworden. Die Nachfrage nach einer kollektiven Identität ist jetzt außer Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration geraten. Deren Repertoire ist ausgeschöpft. Deswegen fangen die Menschen an, selbst etwas zu suchen, von unten.

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Der Sowjetmensch

„… die hohen Berge versetzt er, / der einfache sowjetische Mensch“ – so ehrt ein berühmtes Lied aus dem Jahr 1937 den Sowjetmenschen. Dieser war in der utopischen Vorstellungswelt der sowjetischen Ideologie ein Idealtyp und fast ein Übermensch. In diesem Sinne wurde der Ausdruck lange verwendet und war fest in der offiziellen Kultur der UdSSR verankert. Doch im Zuge der Perestroika hat die Wissenschaft eine andere Begriffsbedeutung konstatiert, die der ersten genau entgegenläuft: Der einst heldenhafte Sowjetmensch wurde zur Karikatur seiner selbst, dem opportunistischem und untertänigen homo sovieticus.

Das soziologische Phänomen des Sowjetmenschen jedoch machen Wissenschaftler auch im Russland von heute noch aus.

Das bolschewistische Konstrukt des Sowjetmenschen geht auf die vielfältigen Ideen-Strömungen in der christlichen Tradition wie auch in der Moderne zurück, die sich mit dem Thema des Neuen Menschen befassten.1 In der frühen Sowjetunion war dieses Konzept in den Reihen der künstlerischen Avantgarde allgegenwärtig und genoss zeitweise den Status einer offiziösen Doktrin der herrschenden Kulturpolitik: Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz vom Verstand geleitet, der Sache des Kommunismus ergeben. Er lebte und arbeitete mit höchster Disziplin und Kultur, war fest mit dem Kollektiv verbunden und besaß einen heroischen Willen, fähig, gänzlich die Natur zu beherrschen und alle dem Kommunismus entgegenstehenden Schwierigkeiten und Klassenfeinde zu überwinden.

Die weitere Entwicklung der Idee fiel in die Zeit der Industrialisierung und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft seit Ende der 1920er Jahre: Das Stalinsche Programm enthielt sowohl den Aufbau einer neuen Gesellschaft des Sozialismus als auch die Transformation des Menschen zum Sowjetmenschen. Die gesamte Kultur hatte diesem Ziel zu dienen. Eine zentrale Rolle erhielten dabei die Schriftsteller als „Ingenieure der menschlichen Seele“, unter der ideellen Führung von Maxim Gorki. Alle Medien der sowjetischen Massenkultur wurden in den Dienst der psychologischen Umgestaltung des Einzelnen genommen.2

Dieser hehre Mythos rund um den Sowjetmenschen faszinierte nicht wenige der – vor allem jungen – Leute, die oft aus einfachsten bäuerlichen Verhältnissen in diese „neue Gesellschaft“ geworfen wurden und dort soziale Aufstiegschancen fanden.

In der Realität stießen die idealen Züge des Sowjetmenschen mit den Widersprüchen des sowjetischen Alltagslebens der 1920er und 1930er Jahre zusammen. Dies waren beispielsweise die anhaltende materielle Not der sozialen Versorgung und der Wohnverhältnisse, der Zwang zu autoritärer Anpassung an Partei-Instanzen, sowie der Forderung, im „Dienst an der Sache“ allenthalben „Feinde des Sozialismus“ zu suchen und zu denunzieren.3 Faktisch lebte der Sowjetmensch also in zwei Welten, die er durch Double Thinking zusammenhielt: der Fähigkeit, in seiner Lebenswelt zwei entgegengesetzte Erfahrungen und Überzeugungen – Mythos und Realität – miteinander zu vereinbaren.4

Sowjetmensch vs. homo sovieticus (Alexander Sinowjew)

1981 veröffentlichte der Satiriker und Soziologe Alexander Sinowjew in München den Roman Homo Sovieticus, in dem er Aspekte des politischen und alltäglichen Lebens in der Sowjetunion satirisch beleuchtete: Der Sowjetmensch bei Sinowjew ist im Wesentlichen ein willenloser Opportunist. Mit seinem Sarkasmus legte Sinowjew einen Grundstein für den oft anzutreffenden Spott über die Idee des Sowjetmenschen. 

Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz der Sache des Kommunismus ergeben – Foto © Kommersant

Diese Deutung drang im Zuge der Perestroika auch in die Sowjetunion. Nahezu gleichzeitig begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Vor allem Juri Lewada (1930–2006), damaliger Leiter des Umfrageinstituts WZIOM, trieb die Forschungen über den „anthropologischen Idealtypus“ zwischen 1989 und 1991 maßgeblich voran.5

Soziologische Einordnung

Lewada zählte zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Sowjetmenschen unter anderem die Vorstellung von eigener Überlegenheit und Einzigartigkeit,6 gesellschaftlicher Gleichheit, Völkerfreundschaft und vom Staat als fürsorglichen Vater. Angesichts des gemeinsamen hehren Ziels – Aufbau des Kommunismus – garantierte der starke Staat die Richtigkeit der Auserwähltheit, er sorgte sich um seine Bürger und vereinte sie zu einer imperialen Ganzheit, die die Grenzen des Ethnischen wegzuwischen suchte.

In diesem idealen Modell waren alle Menschen gleich, alle Ethnien waren Bruder-Völker. Das Propaganda-Bild des kapitalistischen Feindes und die schroffe Ablehnung dieses Feindes hielten das Sowjetvolk nach innen zusammen – und halfen so auch, interethnische Spannungen zu unterbinden.

Um dieses Bild aufrecht zu erhalten, musste der Staat allerdings alle Impulse von außen unterbinden, das Sowjetvolk musste sich selbst isolieren und konnte erst in dieser „erzwungenen Selbstisolation“7 als einzigartig und überlegen aufgehen.

Abgesehen von dieser abstrakten, feindlichen Außenwelt gab es nur den Staat, außerhalb dessen sich der Sowjetmensch nichts vorstellen konnte.

Werteverfall und Identitätskrise

Da die kollektive Identität also aufs Engste mit dem Staat verbunden war, sollte der Zerfall der Sowjetunion auch das Ende des Sowjetmenschen bedeuten. Die Öffnung nach außen mündete in den Verlust des gemeinsamen Feindes, das Innen bröckelte so, dass Wissenschaft und Politik alsbald nahezu einstimmig ein „ideologisches Vakuum“, eine „Identitätskrise“ oder einen „Werteverfall“ konstatierten.

All das, was zuvor Alles bedeutet hatte, wurde ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Glauben an den Vater Staat wurde ein Gefühl der sozialen Schutzlosigkeit, aus der Überlegenheit – ein Gefühl des Abgehängtseins, aus der Fiktion der Gleichheit – eine tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaft. Das Brudervolk zerfiel in Ethnien, und mit dem überall erwachenden Nationalismus bezeichneten sich Ende 1989 nur noch knapp ein Viertel der in einer WZIOM-Studie Befragten mit Stolz als Sowjetmensch.8

Der Sowjetmensch der post-sowjetischen Zeit

Folgestudien, die von 1994 bis 2012 durchgeführt wurden, zeigten allerdings, dass das gesellschaftliche Phänomen Sowjetmensch lebendiger ist, als der Staat, der es ins Leben gerufen hatte:9 Sie führten zu dem Ergebnis, dass im neuen Jahrhundert eine neue Generation diesen anthropologischen Idealtypus reproduziert habe. Vor allem solche staatlichen Institutionen wie Armee, Polizei und Geheimdienste, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen, können sich demnach in großen Teilen der Bevölkerung auf Stereotype und Überzeugungen stützen, die auch schon dem Sowjetmenschen inne waren: autoritärer Staats-Paternalismus, Militarismus und Identifizierung mit dem Großmacht-Status.

So sei der Sowjetmensch auch heute noch höchst lebendig und präge nach wie vor die politische Kultur Russlands,10 meint Lew Gudkow, der als Direktor des 2003 gegründeten Lewada-Zentrums Juri Lewada nachgefolgt ist.


1.Küenzlen, Gottfried (1997): Der Neue Mensch: Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt am Main
2.Günter, Hans (1993): Der sozialistische Übermensch: Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/Weimar
3.Fitzpatrick, Sheila (1999): Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York/Oxford
4.Fitzpatrick, Sheila (2005): Tear off the Masks: Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton
5.Juri Lewada (1993): Die Sowjetmenschen: 1989 - 1991: Soziogramm eines Zerfalls, München
6.Gudkov, L. D. (2007): „Sovetskij Čelovek“ v sociologii Jurija Levady, in: Obščestvennye nauki i sovremennost' № 6/2007, S. 16-30
7.ebd.
8.Gestwa, Klaus (2013): Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperium: Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10/2013, S. 331-341
9.Gudkov, Lev (2010): Conditions Necessary for the Reproduction of "Soviet Man", in: Sociological Research, Nov-Dez., Bd. 49, 6/2010, S. 50-99
10.Forbes.ru: Lev Gudkov: nadeždy na to, čto s molodym pokoleniem vse izmenitsja, okazalis' našimi illjuzijami

 

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

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Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

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Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff der glücklichen sowjetischen Kindheit. 1925 erst als Sanatorium für Tuberkulosevorsorge eröffnet, bestand das Lager nur aus einigen Zelten am Strand, einer Fahnenstange und einem Appellplatz. Bereits in den 30er Jahren wurde es ausgebaut und ist zum Traumland und Wunschziel vieler Generationen von Pionieren geworden. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Artek zum heiligen Gral der Sowjetnostalgie.

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Eine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen.

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Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)