Medien

Debattenschau № 76: Kolyma – Heimat unserer Angst

Am 23. April veröffentlichte der Journalist und YouTuber Juri Dud seinen Film Kolyma – Heimat unserer Angst. Mit mehr als 14 Millionen Views und über 700.000 Likes ist die mehr als zwei Stunden lange Doku eines der erfolgreichsten Videos des jungen Journalisten.

https://www.youtube.com/watch?v=KdoBaxnKfSY&feature=youtu.be

Kolyma gilt als Inbegriff des Gulag und der Stalinschen Säuberungen. Allein in Sewwostlag, dem 1932 gegründeten größten Lager in der Region, saßen unter unmenschlichen Haftbedingungen jährlich bis zu 190.000 Menschen ihre Strafe ab. Viele davon, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. In den Kolyma-Lagern waren unter anderem der Autor der Kolymskije rasskasy (Erzählungen aus Kolyma) Warlam Schalamow inhaftiert sowie Sergej Koroljow, der später als Vater der sowjetischen Raumfahrt berühmt wurde. Mit Nachfahren und Historikern führt Dud lange Interviews.  

Duds Zuschauerschaft gilt als jung. Da fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland laut einer Umfrage noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört hat, feiern viele seinen Dokumentarfilm nun als eine aufklärerische Leistung. Auch vor diesem Hintergrund löste der Film eine heftige Diskussion in den russischen Medien aus: Ist es ein Auftrag, Russland zum Einsturz zu bringen? Ist es ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, oder eine Möglichkeit für die Nation, in den Abgrund zu schauen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.

Quelle dekoder

Echo Moskwy: Hohlraum der Erinnerungskultur

Laut einer Umfrage haben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Russland noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört. Diese Leerstelle füllt jetzt der Film Kolyma aus, meint Ex-Polittechnologe Gleb Pawlowski auf Echo Moskwy:

Deutsch
Original
Es ist ein guter Aufklärungsfilm. Davon sollte es viele geben, und das wäre übrigens auch möglich. [...] Er füllt eine Leerstelle, eine Leerstelle an der Stelle des Wortes „Stalin“. Stalin kennen alle, 100 Prozent. Aber was ist das bitteschön, was steht hinter dem Wort? Nicht alle wissen doch, dass es eine besondere Bestialität war, derer sich die Staatsmacht bediente, und zwar – ich würde sogar sagen – unter persönlichem Druck von Josef Wissarionowitsch Stalin. Dass er der Autor des Ganzen war, dass er persönlich wie am Fließband Dokumente durchsah und entschied: „Plattmachen!“ Wer weiß diese Dinge?
Это хороший просветительский фильм, я думаю. Таких должно быть много, между прочим, и могло быть много <...>.
[Он] заполняет пустоту на этом месте, пустоту на месте слова «Сталин». Сталина-то все знают, сто процентов. А что это такое, чем это заполнено? Не все же знают, что это особый тип зверства, который практиковался властью, практиковался именно под личным, я бы сказал даже, давлением Иосифа Виссарионовича Сталина; что он автор этого, что он лично просматривал паточные [sic – dek] документы и ставил резолюцию: «Бить!» Вот эти вещи кто знает?

erschienen am 29.04.2019, Original

Rossijskaja Gaseta: Mächtige journalistische Arbeit

In der regierungsnahen Zeitung Rossijskaja Gaseta bringt der Schriftsteller Andrej Maximow eine persönliche Note in seine lobenden Worte ein:

Deutsch
Original
Juri Dud hat mit Kolyma einen grandiosen Film gemacht. Auf dieser Feststellung bestehe ich. Juri Dud hat ein Filmereignis geschaffen. 70 Prozent der Russen heißen die Taten Stalins gut. Die Intelligenzija sagt dazu Ach! und Oh!. Und Dud dreht einen Film. Einen klugen Film. Sehenswert. Ernst.
Meine Mutter ist vor mehr als zehn Jahren gestorben. Und bis zu ihrem Tod ist sie zusammengezuckt, wenn sie nachts hörte, wie jemand Autotüren zuschlug: Meinen Opa hatten sie geholt. 
Ein junger Mensch in zerfetzten Jeans und roter Winterjacke hat nun über diese Angst einen Film gedreht. Ich nicht. Und viele andere nicht. Er hat es gemacht. Danke, Juri Dud, für diese mächtige journalistische Arbeit. Danke für das Beispiel. [...]
Dem Autor des Films wird fehlender Patriotismus vorgeworfen und unterstellt, etwas in den Dreck ziehen zu wollen. Aber ich möchte Ihnen eines sagen, meine Lieben: Kolyma ist nicht nur – was sag ich – vielleicht gar nicht so sehr ein Film über die Stalinschen Säuberungen als vielmehr ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, über einen Geist, den zu zerstören nicht möglich war. Ein Film darüber, dass die Menschen hier bei uns immer stärker und gütiger sind als das System. 
Юрий Дудь снял выдающийся фильм "Колыма". Я настаиваю на этом определении. Юрий Дудь снял картину-событие. 70% россиян одобряют деятельность Сталина. Интеллигенция заахала. Дудь снял кино. Талантливое. Зримое. Серьезное. 
Моя мама умерла более десяти лет назад. И до самой смерти она вздрагивала, если слышала, как ночью хлопает дверь машины: мой дедушка был репрессирован. Молодой человек в рваных джинсах и красной куртке снял кино про этот страх. Я не снял. И много кто еще не снял. А он сделал. [...] Спасибо, Юрий Дудь, за мощную журналистскую работу. Спасибо за пример.

[...]
… автора картины обвиняют в отсутствии патриотизма и желании чего-то там опорочить. А знаете, что я вам скажу, дорогие мои: "Колыма" - это не только, а, может быть, и не столько картина о сталинских репрессиях, сколько фильм - о силе духа советского человека, духа, который невозможно было сломить. Про то, что люди у нас всегда сильнее и добрее системы.

erschienen am 05.05.2019, Original

Livejournal/Arkadi Babtschenko: Hipper Jüngling in teuren Klamotten

Der oppositionelle Journalist Arkadi Babtschenko sieht auf Livejournal ein Authentizitätsproblem der Doku:

Deutsch
Original
Sieh an: in Kolyma ist es kalt. Wer hätte das gedacht. Moskau hat für sich den Einfluss der Kälte entdeckt: als das Vernichtende all des Menschlichen im Menschen. Eine übersättigte Community, die es fertiggebracht hat, sich aus allen Erschütterungen, Kriegen, Naturkatastrophen herauszuhalten, die das Land in den letzten 30 Jahren umfänglich mitgemacht hat, hört jetzt zu, wie ein hipper Jüngling in teuren Klamotten ihnen etwas über die Kälte erzählt. [...]
Geht in die Bibliotheken, ihr Infantilos.
Nehmt eure Kinder mit.
Und lest.
На Колыме, оказывается, холодно. Кто бы мог подумать. Москва открыла для себя уничтожающее в человеке все человеческое влияние холода. Сытая тусовка, умудрившаяся остаться в стороне от всех потрясений, войн, катаклизмов, которые последние тридцать лет несла их страна по всему периметру, слушают, как им про холод рассказывает модный мальчик в дорогой одежде. <...>
Идите в библиотеки, инфантилы. 
Детей своих ведите. 
Читайте.

erschienen am 03.05.2019, Original

Swobodnaja Pressa: Wir klauen euch eure Zukunft

Zu den schärfsten und lautstärksten Kritikern des Dokumentarfilms gehört Sachar Prilepin. Auf Swobodnaja Pressa erläutert der polarisierende Schriftsteller seinen Standpunkt:

Deutsch
Original
Der Sinn des Films ist so banal, dass einem leicht übel wird. Der Autor sagt: Kinder, jetzt erzähle ich euch, warum ihr diesem fiesen Land nichts schuldig seid, in dem in vergangenen Zeiten solche wie ihr, nämlich Kinder, für's Eisessen ins Lager gesteckt wurden. [...]
Offensichtlich ist es möglich, den historischen Fokus, der 1987 bis 1991 gesetzt wurde, einfach zu wiederholen. Mit dem bisherigen Resultat waren die Auftraggeber nicht zufrieden: Denn wir sind wieder hervorgekrochen und fluchen nun, was das Zeug hält. Nun gut, sagen sie, dann fangen wir euch eben eure Zukunft weg: eure naiv dreinschauenden Erben. Und sie sind äußerst erfolgreich auf ihrem Fang: 500.000 Likes – das ist ein ganz veritabler Maidan, ein Versammlungsplatz gefüllt bis in die letzte Ecke.
Смысл фильма банален до легкой тошноты. Автор говорит: дети, сейчас я вам расскажу, почему вы ничего не должны этой мерзкой стране, где в былые времена таких же, как вы, детей сажали за съеденное мороженое. <...>
Оказывается, фокус, который был произведён в 1987—1991 гг. — вполне можно еще раз повторить. Прежним результатом заказчики не удовлетворены: мы как-то выползли и отругиваемся теперь. Ну, ладно, сказали они, мы своруем у вас ваше будущее: ваших лупоглазых наследников. И более чем успешно воруют. Пятьсот тысяч лайков — это вам, имейте в виду, хорошая майданная площадь, заполненная до краёв.

erschienen am 29.04.2019, Original

The New Times: Guter Grund für Optimismus!

Nicht nur die Doku selbst hat in Russland für Aufsehen gesorgt, auch die implizite Kontroverse zwischen Prilepin und Dud ist ein großes Thema. Auf The New Times sieht der Politologe und Schriftsteller Fjodor Krascheninnikow diesen Streit entschieden: 

Deutsch
Original
Der Streit zwischen Prilepin und Dud ist grundlegend: Es geht darum, wer die Jugendlichen in die Zukunft führt und wie diese Zukunft einst werden wird. [...]
Die Niederlage Prilepins und seinesgleichen war unausweichlich, weil all ihre faulige UdSSR-Nostalgie, all ihre masochistische Liebe zu Stalin-Stiefeln, ihr gewissenloses Jonglieren mit Orden toter Kriegsveteranen und das Posieren in Soldatenmänteln, all die Sagen über den Donbass, den provinziellen Hass gegen Amerika und Europa – all das kannst du nicht denen verkaufen, die mit dem Internet geboren sind und ihr Leben lang damit gelebt haben. Diese junge Menschen interessiert kein Prilepin, der über den Donbass redet, sie interessiert Dud, wenn er über Kolyma spricht – und das lässt Optimismus aufkommen!
Спор Прилепина и Дудя принципиален, и он о том, кто поведет молодежь в будущее и каким это будущее станет. <...>
Поражение Прилепина и ему подобных неизбежно, потому что всю их протухшую ностальгию по СССР, всю их мазохистскую любовь к сапогам тов. Сталина, их бессовестное жонглирование медалями умерших ветеранов и позирование в мундирах, все эти былины про Донбасс и провинциальную ненависть к Америке и Европе — всё это не продать тем, кто родился и прожил всю жизнь в интернете. Им, этим ребятам, не интересен Прилепин про Донбасс, им интересен Дудь про Колыму — и это хороший повод для оптимизма!

erschienen am 06.05.2019, Original

Spektr: Wenn man lange in einen Abgrund schaut ...

Semjon Nowoprudski betrachtet Duds Kolyma als „die größte Tat des gegenwärtigen russischen Journalismus“. Auf Spektr argumentiert er für seine These:

Deutsch
Original
Kolyma ist in Duds Film ein Gebiet von schönster Natur und absoluter Hoffnungslosigkeit, was das Leben angeht. So kann man nicht leben. Hier kann man nicht leben. Hier herrscht ewiges Eis. Ewiges Eis und die ewige Scheußlichkeit der Verwüstung in den Seelen von Millionen Russen. Dieser Film und die Reaktion darauf ergeben ein Blutbild – es ist der Versuch der Russen, öffentlich über ihre schlimmste Tragödie zu sprechen. 
In der russischen Geschichte ist immer viel Blut geflossen. Die Machthaber haben das Volk immer als „menschliches Material“ angesehen, als „Personal“, jetzt auch noch als „Elektorat“. Dieser Film – beinahe mutet er unterhaltsam, ruhig an, mit Elementen aus dem ganz normalen Leben – erweist sich als Möglichkeit für unsere Nation, in den Abgrund zu schauen. Und dort ihr Spiegelbild zu sehen.
Колыма в фильме Дудя предстает территорией красоты природы и абсолютной безнадежности уклада жизни. Так жить нельзя. Здесь жить нельзя. Это вечная мерзлота. Но мерзлота и мерзость запустения в душах миллионов россиян. Этот фильм и реакция на него дают «общий анализ крови» — становятся попыткой россиян публично проговаривать свою самую главную трагедию. В российской истории всегда лилось много крови. Власть всегда считала людей «человеческим материалом», «личным составом», теперь вот еще «электоратом». Этот фильм, вроде бы почти развлекательный, спокойный, с элементами обычной нормальной жизни, оказался способом для нации заглянуть в бездну. И увидеть там свое отражение.

erschienen am 07.05.2019, Original

dekoder-Redaktion

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnose

Monumentale Propaganda

Es gab sie überall: Die Stalins, Lenins, und wer es noch auf die Sockel im ganzen Sowjetreich schaffte. Bis sie dort unerwünscht waren. Die Geschichte über den Aufstieg und Fall und teilweisen Wiederaufstieg der Monumente schreibt Monica Rüthers.

Gnosen
en

Juri Dud

Seit Februar 2017 ist die russische Medienszene um einen YouTube-Kanal und Medienstar reicher. vDud (rus. „вДудь“) heißt das Interview-Projekt des Sportjournalisten und Bloggers Juri Dud, das drei Jahre nach seinem Start über sieben Millionen Abonnenten und über 925 Millionen Aufrufe vorweisen kann. Der durchschlagende Erfolg des Projekts lässt die Novaya Gazeta bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen des ersten Videos vom „Dud-Effekt“ sprechen. Dieser zeige sich vor allem darin, dass die Abwesenheit im russischen Staatsfernsehen immer stärker von Erfolg gekrönt sei. Und in der Tat: der Dud-Effekt wirkt, vor allem auf junge Menschen. Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.

Der 1986 in Potsdam geborene Juri Dud hat seine Berufswahl bereits als Jugendlicher getroffen. Als sich sein Kindheitstraum, Fußballspieler zu werden, aufgrund chronischen Asthmas zerschlug, entdeckte er den Journalismus – nach der Prostitution der in Russland am leichtesten zugängliche Beruf, wie Dud witzelt.1 

Als am 2. Februar 2017 der YouTube-Kanal vDud online ging, war der damals 30-jährige Dud bereits ein bekanntes Gesicht in der medialen Öffentlichkeit. Seine ersten Schritte im Journalismus hatte er schon als Kind gemacht: Mit elf schrieb er für eine Zeitung für Gleichaltrige, mit 13 absolvierte er ein Praktikum bei der Zeitung Segodnja. Bereits mit 14 wurde er freier Mitarbeiter bei der Izvestia, bekam dort mit 16 eine feste Anstellung als Sportreporter und absolvierte parallel dazu ein Journalistikstudium an der Moskauer Staatlichen Universität. Er war als Sportreporter für mehrere Fernsehsender wie NTW-Pljus, Rossija 2 oder Match TV tätig und von 2011 bis 2018 Chefredakteur des renommierten Internetportals Sports.ru. Für diese Medienauftritte wurde er 2016 und 2017 vom Männer- und Lifestyle-Magazin GQ – Gentlemen’s Quarterly zum „Mann des Jahres“ gekürt.2 

Gegenpol zum Fernsehen

Die Erfolgsstrategien von Duds YouTube-Projektes sind einfach, transparent und unverhohlen kommerziell. Dies schmälert jedoch keineswegs seine gesellschaftliche und politische Relevanz und Brisanz. vDud ist als Gegenpol und Konkurrenz zum überästhetisierten und überregulierten staatlichen beziehungsweise staatsnahen Fernsehen konzipiert. Im Intro zu einer vDud-Spezialausgabe, die die „goldenen“ 1990er Jahre des Musiksenders MTV in Russland beleuchtet, formuliert Dud seine Kritik am heutigen Fernsehen explizit und schonungslos: „Wir sind es gewohnt, dass das Fernsehen eine Schande ist. Das wichtigste Massenmedium des Landes lügt, fügt Schaden zu, bereitet die Bevölkerung auf den Krieg vor und kommuniziert mit den Menschen in einer toten Komsomol-Sprache.“3

Mit dem Interview bedient Dud ein klassisches Fernsehformat, doch sein legeres Auftreten, sein Nicht-Still-Sitzen-Können und seine direkten Fragen – insbesondere in Bezug auf Geld, Vermögensverhältnisse und Sex – sind gerade ein Beispiel dafür, wie man es nach Lehrmeinung nicht machen sollte. Dennoch wirkt er, wie ihm wohlgesonnene Kritiker immer wieder bescheinigen, gut vorbereitet auf seine Gesprächspartner, stimmt die Fragen gezielt auf sein Gegenüber ab und nimmt sich die Zeit, die er für angemessen hält (die Dauer eines Interviews beträgt zwischen 40 Minuten und 2 Stunden). 

Das Interview-Setting ist minimalistisch, die Kamera meist statisch auf die beiden frontal einander gegenübersitzenden Gesprächspartner gerichtet. Abgesehen von nur wenigen, kurz eingespielten Standbildern oder Videoclips und einer alternierenden Position, die die Gesprächspartner im Stehen zeigt, liegt die Konzentration auf dem Interview selbst.

Tabubruch und Freiheit

Tabubrüche gehören zu Duds grundlegenden Erfolgsstrategien, doch sie sind gemäßigt, wohldosiert und wohlkalkuliert. Sie ziehen die mediale Aufmerksamkeit auf sich – ähnlich wie in das Videobild eingeblendete Schlagwörter oder zentrale Aussagen und „starke“ Ausdrücke der Interviewpartner die Aufmerksamkeit der Rezipienten wecken. Bereits der Titel des Kanals spielt mit einem Sprachtabu, steckt darin doch nicht nur der Nachname seines Schöpfers, sondern auch das Thema Sex, über das dieser so gerne spricht (vdut’ ist gleichbedeutend mit dt. „durchficken“).

Während die Unterhaltungsprogramme und Talk-Shows in den großen russischen Fernsehkanälen immer pompöser, gleichförmiger und starrer werden, vermitteln bereits die Anordnung und der Ablauf von Duds Interviews den Eindruck des Ungezwungenen und Spontanen. Der YouTube-Kanal vDud und sein Schöpfer strahlen Freiheit aus – die Freiheit, sich nicht an Sprachkonventionen halten zu müssen und die russische Vulgärsprache Mat nach Lust und Laune verwenden zu können (was insbesondere für die Interviewpartner gilt). Die Freiheit, politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen diskutieren zu können und schließlich die Freiheit, die Interviewpartner unabhängig von politischen Vorgaben auszuwählen. 

Waren es am Anfang hauptsächlich noch Vertreter der Musikszene (den Auftakt bildeten die Rapper Basta und L’One sowie der Punk-Rock-Star Sergej Schnurow), die er interviewte, so weitete Juri Dud den Personenkreis sehr schnell auf ausgeprägte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, der Medienszene und sogar der Wissenschaft aus. Unter den Gästen der regelmäßigen Interviews finden sich der Chefredakteur von Radio Echo Moskwy Alexej Wenediktow, der Fernseh-Interviewer Nummer eins Wladimir Posner oder der ehemalige Fernsehmoderator Sergej Dorenko.

Duds Auswahl der Gesprächspartner zielt immer wieder auch darauf ab, Persönlichkeiten in die mediale Öffentlichkeit zurückzuholen, die die russischen Staatsmedien mit einem Bann belegt haben. Dies gilt für Alexej Nawalny genauso, wie für Michail Chodorkowski. Gleichzeitig finden sich unter Duds Gästen aber auch Vertreter des politischen Establishments, wie Wladimir Shirinowski oder der Präsidentschaftskandidat der Kommunisten Pawel Grudinin, mediale Gallionsfiguren des patriotischen Lagers, wie der Regisseur Nikita Michalkow und der mächtige Medienmann Dimitri Kisseljow oder der ukrainische Fernsehmoderator Dimitri Gordon.

 

Im Präsidentschaftswahlkampf 2018 hat sich Juri Dud mit dem Kandidaten der Kommunisten getroffen und ihn über sein Verhältnis zu Stalin befragt

Ist die Rede von Interviewpartnern, so  scheint die Verwendung der geschlechtsspezifischen männlichen Form hier durchaus adäquat, stellen weibliche Gäste doch die Ausnahme dar. So waren im Laufe der ersten drei Jahre nur wenige Frauen bei Dud zu Gast, unter anderem die Journalistin und Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak und die ehemalige Pussy Riot-Aktivistin und Performance-Künstlerin Nadeshda Tolokonnikowa. 

Generationen verbinden

Die Auswahl der Gäste wie auch die Diskussionsthemen zeigen, dass Dud einerseits seine eigene Generation und vor allem junge Menschen ansprechen will, während er andererseits über seine Diskussionspartner die jüngere Vergangenheit des Landes ergründet. Das Interesse an der Zeit und den Personen, die ihn persönlich geprägt haben, verpackt er häufig in bewusst naive, mitunter provokative, jedenfalls aber ungewohnt direkte Fragen. Gerade dies verleiht den Interviews eine Lebendigkeit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, die man im Fernsehen mittlerweile kläglich vermisst. Im Interview mit Chodorkowski lautete beispielsweise eine Frage, warum dieser damals, im Jahr 1996, – bei aller Wertschätzung für Boris Jelzin – auf einen „lebenden Leichnam“ gesetzt hätte. 

Hipster und Volksaufklärer

Juri Dud vereint in seinem Internet-Auftritt verschiedene soziale Rollenbilder, die vor allem greifbar werden im Kontrast zu dem, was er nicht ist und nicht sein will. Den ideologisch deklarierten traditionellen Werten und dem politischen Patriotismus setzt Dud Weltoffenheit und liberale Werte entgegen, dem Zynismus der offiziellen Medienmacher Aufrichtigkeit, dem journalistischen Dilettantismus und Opportunismus Professionalität und Leistungsbereitschaft, dem radikalen Protest gemäßigte Kritik am System, dem antimaterialistischen Habitus der spätsowjetischen Intelligenzija Konsum und Markenbewusstsein. Rein äußerlich ist er ein Hipster mit perfekt gestyltem Haar, lässig gekleidet in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, das iPhone stets griffbereit. 

Die größte Resonanz sowohl an Aufrufen wie auch in der öffentlichen Debatte erzielt Dud allerdings weniger mit den Interview-Ausgaben, als vielmehr mit Dokumentarfilmen über gesellschaftlich brisante Themen. Bereits im ersten Jahr erweiterte Dud das reine Interview-Format in Richtung eines Interview-basierten dokumentarischen Porträts, als er dem Schauspieler und Idol des ersten postsowjetischen Jahrzehnts Sergej Bodrow eine vDud-Ausgabe widmete. Dem folgten weitere Porträts über Kultur- und Medienschaffende der vergangenen Jahrzehnte, die für ganze Generationen prägend waren, etwa über den Kultregisseur Alexej Balabanow oder über Oleg Tabakow, einen der bekanntesten sowjetischen Schauspieler seit der Tauwetterzeit

Duds Interesse an diesen Persönlichkeiten ist stets von Fragen der Gegenwart und der subjektiven Wahrnehmung seiner Generation motiviert. Zu seinen besonderen Stärken zählt dabei, das Charakteristische der jeweiligen Person im Intro der einzelnen Folge konzis zu formulieren. Im Fall von Oleg Tabakow etwa die Verbindung von Konservatismus und Interesse für das Neue, im Fall von Balabanow die Liebe zu Russland bei gleichzeitiger Kritik. Auf diese Weise – und unabhängig vom Format – enthüllt Dud mit jeder Ausgabe ein weiteres kleines Stück seiner Lebenshaltung und seines Verständnisses von Gesellschaft, Politik und Geschichte. Man könnte auch sagen, er arbeitet kontinuierlich an seiner Rolle als moralisches Vorbild, Volksaufklärer und Volksbildner im YouTube-Format.

Am deutlichsten kommt diese Rolle in drei thematisch fokussierten Dokumentarfilmen zum Ausdruck: in Kolyma – rodina naschego stracha (Kolyma – Heimat unserer Angst), Beslan. Pomni (dt. Beslan. Gedenke) und WITSCH w Rossii (dt. HIV in Russland). Die Grundfragen, die er in diesen Filmen stellt, sind so einfach wie erhellend, so selbstverständlich für die Aufgeklärten wie eine wahre Entdeckung für die Nichtwissenden. Kolyma, der Inbegriff des stalinistischen Gulag, soll vor allem jenen als Entdeckung dienen, die noch nie etwas vom Stalinterror gehört haben – laut einer Umfrage betrifft das fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland. Im Fall von HIV geht es dagegen darum, die russische Gesellschaft allgemein und insbesondere junge Menschen über die Krankheit und über das Leben mit der Krankheit zu informieren. 

Weltoffener russländischer Patriotismus

Solide journalistische Recherchen und ausgesprochen gut gewählte Interviewpartner sind in Duds Dokumentarfilmen gepaart mit starken, eingängigen Thesen. 
Die Hauptthese in Kolyma lautet, dass das (Über)Leben im Kommunismus zu einer Grundangst der Eltern- und Großelterngeneration geführt habe, die sich etwa in der Devise „Nur ja nicht auffallen!“ – „Ne wysowywaisja!“ – zeige. 
In Beslan rollt Dud die zeitliche Abfolge der Geiselnahme 2004 minutiös auf, um die Frage der politischen Verantwortung für die Katastrophe noch einmal aus heutiger Sicht und mit heutigem Wissensstand zu stellen und nicht zuletzt auch, um die Opfer ausführlich zu Wort kommen zu lassen. 

In seiner Gesamtheit ist vDud ein gelungener Hybrid, in dem das alte Fernsehinterview mit seinem Fokus auf Gesprächsinhalte, die Fernsehdokumentation und das dokumentarische Porträt an die neuen ökonomischen Regeln und Bedingungen der digitalen Medien angepasst werden. Dud bewirbt in integrierten Werbespots Gadgets und Dienstleistungsangebote jeder Art und macht kein Hehl daraus, dass sich damit gutes Geld verdienen lässt. Damit inszeniert  er sich als Vertreter einer westlich orientierten, dynamischen Pop- und Konsumkultur. Gleichzeitig macht die große öffentliche Resonanz des Projekts deutlich, dass Dud das Potenzial hat, gesellschaftlichen Konsens zwischen unterschiedlichen Gruppen und Positionen herzustellen – zwischen Alt und Jung, intellektuell und kommerziell, traditionell und liberal. Einem engstirnigen Nationalismus setzt er seine Vorstellung eines weltoffenen russländischen Patriotismus entgegen, indem er vermittelt, dass „die Welt groß und klasse ist“ und man sich daher besser als ein Teil dieser Welt definiert, „als sie misstrauisch durch den Zaun zu beäugen“.4 Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.


1.vgl. Jurij Dud’ im Interview mit The Flow, 11.06.2016 oder zu Gast bei Ivan Urgant in der Fernsehshow Večernyj Urgant am 29.09.2017 
2.Ein weiteres Mal bekam er diesen Preis im September 2019 verliehen. 
3.YouTube: MTV – glavnyj kanal našego detstva / vDud' 
4.YouTube: Antocha. Putešestvie iz Magadana v Evropu / vDud' 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose

Ilya Varlamov

Ausgestattet mit einer Kamera wandert Ilya Varlamov durch Städte und kommentiert das Gesehene. Magdalena Kaltseis über einen russischen Urbanblogger mit Millionenpublikum.

Gnose

VKontakte

Facebook-Klon, Facebook-Alternative oder sogar digitaler „Auswanderungsort“: VKontakte (VK) ist das meistgenutzte soziale Netzwerk im postsowjetischen Raum. In der Praxis wirft VK immer wieder Fragen zum Daten- und Minderheitenschutz sowie zur staatlichen Kontrolle der Netzkommunikation auf. Sein Gründer Pawel Durow kam in Russland unter Druck und hat das Land inzwischen verlassen.

Gnose

Lenta.ru

Lenta.ru ist ein Online-Nachrichtenportal, das Newsticker, Themen-Artikel und Meinungsbeiträge kombiniert. Mit über acht Millionen Besuchern monatlich ist die Ressource eine der populärsten ihrer Art im russischen Internet. Im März 2014 sorgte die Entlassung der Chefredakteurin für Diskussionen über die Ukraine-Berichterstattung und politische Zensur im Internet.

Gnose

Leonid Wolkow

Wenn Alexej Nawalny Präsident wäre, dann wäre Leonid Wolkow der Chef seiner Administration. Jan Matti Dollbaum über den zur Fahndung ausgeschriebenen Exilpolitiker, der Nawalnys Präsidentschaftskampagne geleitet hat.

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)