Am 22. August 1990 um 18:57 geht der erste unabhängige Radiosender der Sowjetunion auf Sendung. Als Radio-M gestartet, bekommt der Sender bald einen neuen Namen, mit dem er in die Geschichte eingehen soll: Echo Moskwy (dt. Das Echo Moskaus). Am Beginn stand der kollektive Wunsch nach Veränderung und Demokratisierung. Mit dem Slogan „Das freie Radio für freie Menschen“ wird Echo Moskwy über mehr als drei Jahrzehnte hinweg als Hochburg des liberalen Diskurses gelten. Der überwiegende Teil seines Weges aber war von Strategien der Anpassung an ein immer autoritärer werdendes politisches System und feindlicheres gesellschaftliches Klima geprägt. Dabei wird erst im Nachhinein sichtbar, wie vorhersehbar das Ende doch war: Am Abend des 1. März 2022, nur wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine, wird der Sender abgeschaltet, die Website gesperrt. Am 3. März folgt auch die „Liquidierung“ der Trägergesellschaft – eine Entscheidung des Direktorenrats des Mehrheitseigentümers Gazprom-Media, die laut Chefredakteur Alexej Wenediktow, gerade einmal 15 Minuten in Anspruch genommen hat. Die „Liquidierung“ von Echo Moskwy bedeutete nicht nur das Aus eines der letzten kritischen Medien in Russland – sondern läutete symbolisch das Ende einer Epoche ein, die der Radiosender nicht nur begleitet, sondern auch mitgestaltet hat.
Am 1. August 1990 trat in der Sowjetunion das Gesetz über die Presse und andere Massenmedien in Kraft, das faktisch die sowjetische Zensur aufhob. Die Idee eines neuen Radiosenders war aber schon da. Bereits im Mai trifft sich eine Gruppe von Moskauer Enthusiasten und Intellektuellen.
Das Gründungskollektiv
Ihre Vision war die Schaffung einer „vollkommen neuen Art“ von Radio, das den „Prinzipien des freien Journalismus und einer vollkommenen Abwesenheit von Propaganda und Gehirnwäsche“1 verpflichtet sein sollte. Mit zum Gründerkollektiv gehörten Professoren der journalistischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, Abgeordnete des Moskauer Stadtsowjets sowie Journalisten aus Rundfunk und Presse. Als zentrale Figur für Konzept und Umsetzung gilt jedoch Sergej Korsun, zum damaligen Zeitpunkt Sprecher für das französischsprachige Radioprogramm des internationalen sowjetischen Radiosenders Radio Moskau. Für die Programmentwicklung zog er seinen Arbeitskollegen Sergej Buntman hinzu.
Am 22. August 1990 war die Gruppe soweit, und was sie sich überlegt hatten, ging tatsächlich auf Sendung – ein Programm aus aktuellen Nachrichten, einem Interview mit dem damaligen Reformer und Jelzin-Mitstreiter Sergej Stankewitsch und der Musiknummer All my loving der Beatles.2 Die Sendezeit in den ersten Monaten war auf zunächst zwei, später drei Stunden beschränkt.
Von seiner Gründung im August 1990 dauerte es nur wenige Monate, bis der Radiosender zum Schlüsselmedium des politischen Prozesses wurde. Den ersten Anlass dazu gab die sowjetische Militärintervention in Litauen im Januar 1991, über die der Radiosender live berichtete. Zum entscheidenden Medium wurde Echo Moskwy dann während des Augustputsches in Moskau im selben Jahr. Während das Staatsfernsehen die Aufnahme des Balletts Schwanensee übertrug, sendete Echo Moskwy in den Tagen vom 19. bis 21. August 1991 mit Unterbrechungen Informationen zu den Ereignissen und mobilisierte die Menschen für den Widerstand gegen die Putschisten. Es waren Tage, die die Zukunft des Landes entscheiden sollten. So wurde der Sender Teil der großen Erzählung von Ende und Neubeginn in Russland.
Institutionalisierung und zunehmender politischer Druck
Auf die ersten Jahre des Enthusiasmus folgte eine Phase der Professionalisierung und Institutionalisierung unter den ökonomisch schwierigen Bedingungen der 1990er Jahre. Man begann, rund um die Uhr zu senden und stellte das Unternehmen auf eine sichere finanzielle Basis, indem der Medienmagnat Wladimir Gussinski mit seiner Most-Gruppe (ab 1997 Media-Most) zum Mehrheitseigentümer wurde. Auf diese Zeit geht eine Klausel zurück, die bis zum Schluss Geltung hatte und einen Schutz gegenüber Eingriffen vonseiten des Eigentümers darstellte. Sie besagte, dass der Chefredakteur vom Kollektiv zu wählen ist. 1998 wurde als Chefredakteur jener Mann gewählt, der den Sender bis zum Schluss wesentlich bestimmen sollte: Alexej Wenediktow.
Nach der Zerschlagung von Gussinskis Medienunternehmen wurde Echo Moskwy 2001 in die Gazprom-Media-Holding überführt. Seit diesem Zeitpunkt, insbesondere aber seit Putins dritter Amtszeit ab Mai 2012, war die Frage der Unabhängigkeit des Senders von staatlichen Zugriffen über den verlängerten Arm von Gazprom-Media ein dauerhaftes Thema.
Dabei ist unbestritten, dass Echo Moskwy gerade im Unterschied zum Fernsehsender NTW, der ebenso von Gussinskis Media-Most-Gruppe zu Gazprom-Media wechselte, bis zuletzt ein politisch und gesellschaftlich höchst kritisches Programm bot. Insbesondere im Zuge der Krim-Annexion und mit Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 stellte sich der Sender gegen die patriotische Mobilisierung in den Staatsmedien und demonstrierte „editorial dissidence“, wie der bulgarische Investigativ-Journalist und Rechercheleiter von Bellingcat Christo Grozev die auch weiterhin verfolgte kremlkritische Haltung des Senders nannte.3
Forum des Wortes und der Diskussion
Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer deutlich mehr als nur eine Informationsquelle – es war ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion. Neben aktuellen Informationen und Kurznachrichten im Halbstundentakt bestand das Programm aus einer Fülle an Interview-Sendungen mit Experten aus Politik und Gesellschaft sowie aus sogenannten „Autoren-Programmen“, die meist in Monologform bestritten wurden. Auch die thematischen Programmschienen zu Geschichte, Literatur, Kultur, Reisen und vielem mehr spielten für den Sender eine wichtige Rolle. Musik wurde nur in Spezialsendungen gespielt und blieb vorwiegend auf die Nachtstunden beschränkt. Zu den Stimmen und – seit Beginn der Live-Übertragung der Sendungen – Gesichtern des Senders wurden unter anderem Tatjana Felgengauer, Alexander Pljuschtschew und Olga Bytschkowa, die die Interview-Sendung Osсoboje mnenije (dt. Besondere Meinung) moderierten. Eigene „Autoren-Programme“ bekamen auch bekannte Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens, wie die Schriftstellerin und Journalistin Julia Latynina, der Vielschreiber Dimitri Bykow oder der Spekulationen zugeneigte Politologe Stanislaw Belkowski.
Obwohl die sogenannten liberalen oder oppositionellen Positionen bei der Auswahl der Gäste und Experten eindeutig in der Überzahl waren, kamen regelmäßig auch Personen aus dem kremlnahen Milieu und konservativen Meinungsspektrum zu Wort, wie der dem konservativ-orthodoxen Lager zuzurechnende Journalist Maxim Schewtschenko, der Putin nahestehende Politologe Sergej Markow oder der Chefredakteur des Boulevard-Blattes Komsomolskaja Prawda Wladimir Sungorkin.
Obwohl Echo Moskwy als Radiosender zu den traditionellen, „alten“ Medien gehörte und mit seinem linearen Programm in mehr als 30 Städten Russlands empfangen werden konnte, hatte sich der Sender in den letzten zehn Jahren seines Bestehens zu einer vielgestaltigen Internetplattform entwickelt. So bot die Webadresse echo.msk.ru eine Reihe von Blogs, ein frei zugängliches Sendungsarchiv und Live-Video-Übertragungen aus dem Radiostudio. Der Sender selbst erreichte täglich ein Millionenpublikum und rangierte über viele Jahre unter den meistgehörten Radiosendern von Moskau und Sankt Petersburg.
Fragen journalistischer Ethik und innere Spannungen
Im Jahr 2014 stieg nicht nur der politische Druck auf die Inhalte, sondern es mehrten sich auch offensichtliche Eingriffe in die Personalstruktur. So besetzte der Direktorenrat die Stelle des Generaldirektors mit Jekaterina Pawlowa, einer Journalistin aus den Staatsmedien mit engen Beziehungen zur Regierung (ihr Ehemann Alexej Pawlow war zum damaligen Zeitpunkt stellvertretender Leiter der Presse- und Informationsabteilung der Präsidialverwaltung).4 Im selben Jahr entbrannte ein Konflikt um die Entlassung des Echo-Journalisten Alexander Pljuschtschew durch den damaligen Generaldirektor von Gazprom-Media Michail Lesin, der mit einem Kompromiss zwischen Lesin und Wenediktow – Personalentscheidungen im Journalistenkollektiv waren die alleinige Angelegenheit des Chefredakteurs – endete. So wurde Pljuschtschew, der einen beleidigenden Tweet anlässlich des Todes von Alexander Iwanow, dem Sohn des hochrangigen Politikers und Putin-Vertrauten Sergej Iwanow, gepostet hatte,5 für zwei Monate beurlaubt. Die Echo-Journalistinnen und Journalisten einigten sich im Anschluss auf besondere Verhaltensregeln in den sozialen Medien. Gleichzeitig zeigte dieser Fall, dass die Grenzen zwischen politischer Einmischung und journalistischer Ethik nicht immer klar gezogen werden können.
Auch wenn es Einzelfälle blieben, kam es auf politischen Druck hin zu Einmischungen in den Redaktionsalltag. Das zeigte sich unter anderem in Löschungen von bereits gesendeten Inhalten von der Webseite. So wurde im Dezember 2015 ein Interview mit dem Publizisten und Satiriker Viktor Schenderowitsch entfernt, in dem dieser die grassierende Gesetzlosigkeit im Land beklagt und auf die direkten Verbindungen von Wladimir Putin zu kriminellen Kreisen in den 1990er Jahren verwiesen hatte.6
Fragen journalistischer Ethik, die nicht zuletzt auch auf innere Spannungen schließen ließen, bewegten das Gründungsmitglied Sergej Korsun dazu, 2015 den Sender zu verlassen. Korsun begründete sein Ausscheiden damit, dass die Werte, für die Echo Moskwy einst stand und zu denen unter anderem journalistische Professionalität und Redlichkeit gehörten, nicht mehr auf allen Ebenen gegeben seien. Korsuns Kritik galt vor allem der jungen, umstrittenen Journalistin Lesja Rjabzewa, der er vorwarf, die Grenzen des professionellen Journalismus durch provokante Äußerungen und eine zum Teil vulgäre Sprache überschritten zu haben.7
Am Bestehen des Senders bis zum März 2022 hatte Chefredakteur Alexej Wenediktow zweifelsohne einen wesentlichen Anteil / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
Echo Moskwy als Vitrine der Meinungsfreiheit
Am Bestehen des Senders bis zum März 2022 hatte der Chefredakteur Alexej Wenediktow zweifelsohne einen wesentlichen Anteil. Wenediktow oder Wenik (dt. Besen), wie er unter anderem wegen seiner Frisur von vielen scherzhaft genannt wird, war bei den Echo-Journalistinnen und Journalisten für sein aufbrausendes Temperament und sein autoritäres Auftreten bekannt.8 Er verstand es über die Jahre hinweg, zwischen den politisch Verantwortlichen, den ökonomischen Interessen von Gazprom-Media und den Angestellten seines Senders zu vermitteln. Selbst Generaldirektor Michail Lesin, mit dem er im Fall Pljuschtschew im Clinch gelegen hatte, bescheinigte Wenediktow ein ausgeprägtes politisches Gespür: „Wenediktow erschien mir immer als ein kluger und talentierter Politiker, der viele Jahre lang geschickt zwischen den Aktionären, den politischen Kräften manövriert hat. Er war für alle bequem. All die Mythen, dass er super-demokratisch und liberal sei, lassen wir beiseite.“9
Wenediktow selbst nannte im Jahr 2018 gegenüber dem YouTuber Juri Dud drei Hauptgründe, warum die politische Macht mit Wladimir Putin an der Spitze ein Interesse am Fortbestand des Senders gehabt haben könnte.10 Erstens gelte Echo Moskwy als „Vitrine der Freiheit des Wortes in diesem Land“, sprich: als Feigenblatt, das sich vorzeigen lässt. Zweitens würde der Präsident nur zu gut wissen, dass der Sender niemanden politisch unterstützen und niemals einen „Krieg“ gegen ihn führen würde, und drittens habe Putin gegenüber Wenediktow persönliche, vielleicht sogar sentimentale Beziehungen aus der ersten Zeit seiner Präsidentschaft. Abgesehen davon würde Putin selbst kritische Informationen aus dem Radiosender beziehen.
Seit dem 3. März 2022 ist Wenediktows optimistische Einschätzung genauso Geschichte wie die Existenz der meisten unabhängigen Medien in Russland.
Shiwoi gwosd: Weiterleben oder Wiedergeburt?
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass auf der Frequenz von Echo Moskwy in Moskau, Sankt Petersburg und einigen anderen russischen Städten am 9. März 2022 Radio Sputnik auf Sendung ging. Gleichzeitig hat Wenediktow seine Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt und bereits am 4. März seinen neuen Telegram-Kanal mit den Worten „Ja tut s wami“ (dt. Ich bin hier mit euch) eröffnet. Bereits eine Woche später nimmt der Youtube-Kanal Shiwoi gwosd (dt. Lebender Nagel) seinen Betrieb auf. Die Programm-Ankündigung für den 11. März 2022 erinnert mit insgesamt drei Sendungen stark an die Anfänge von Echo Moskwy, doch das Trägermedium hat sich grundlegend geändert. Denn obwohl sich viele der Echo-Journalistinnen und Journalisten nach kurzer Zeit unter dem Dach von Shiwoi gwosd einfinden und auch Podcasts der Sendungen unter dem alten Markenzeichen Echo Moskwy zur Verfügung gestellt werden, verfügen die Formate nicht mehr über die Präsenz, die der Radiosender mit seiner Live-Übertragung im Alltag der Menschen einnahm. So gesehen ist das Weiterleben von Echo Moskwy weniger ein Zeichen für dessen Wiedergeburt, als vielmehr dafür, dass mit der Abschaltung des Senders am 1. März 2022 eine Epoche zu Ende gegangen ist.