Vor fünf Jahren, im Mai 2020, begann in Belarus eine Geschichte, die das Leben von Swetlana Tichanowskaja für immer veränderte – genauso wie das Leben von zigtausenden Belarussen. Ihr Mann Sergej Tichanowski, der damals einen populären, regimekritischen YouTube-Kanal betrieb, war bei einer Kundgebung am 7. Mai zum ersten Mal festgenommen worden. Er hatte beschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat anzutreten. Dazu kam es allerdings nicht mehr: Tichanowski wurde erneut verhaftet und durfte nicht kandidieren. Stattdessen übernahm seine Frau, in der Folge entwickelte sich eine historische Massenbewegung.
Das belarussische Online-Portal GazetaBY startet aus Anlass jener Ereignisse das Projekt Transit. Der Beginn. Im ersten Teil der Publikationsreihe spricht Swetlana Tichanowskaja in einem Interview über ihre Wandlung von einer Hausfrau zur Politikerin und Anführerin einer Protestbewegung.
GazetaBY: Wann haben Sie gespürt, dass sich Ihr friedliches, geregeltes Leben verändert?
Swetlana Tichanowskaja: Als Sergej zum ersten Mal verhaftet wurde. Das war wie eine kalte Dusche. Ich habe sofort die Gefahr gespürt. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass wir Neujahr nicht zusammen verbrachten. Ein eigenartiges Gefühl: Sergej ist im Gefängnis, die Kinder und ich unterstützen seine Mutter in Homel.
Und was haben Sie zu Ihrem Mann gesagt, als er nach der Nacht im Gefängnis wieder rauskam?
Ob ich ihm gesagt habe: „Hör auf damit?“ Nein. Dafür kenne ich meinen Mann zu gut. Eheleute sollten einander unterstützen, nicht einander etwas ausreden. Wie so viele andere verfolgte ich Sergejs Livestreams und sah, dass er sehr populär wird. Charismatisch, auffällig – für die Menschen ist das anziehend. Sie kamen in Strömen, wenn Sergej in diese oder jene Stadt reiste, um „Tauben zu füttern“.
Ich half meinem Mann, wo ich konnte. Bestellte Sticker und so weiter. Aber ich war nicht besonders stark involviert. In jenem Frühling hatte ich gerade wieder angefangen zu arbeiten: Nachdem ich mich zehn Jahre um unseren Sohn gekümmert hatte, unterrichtete ich an einer Online-Schule.
Und da kommt Sergej eines Tages nach Hause und sagt: „Die Leute wollen, dass ich als Präsident kandidiere.“ – „Du weißt aber schon, welche Konsequenzen das haben kann?“ – „Ja, ich weiß.“ Aber sein Entschluss stand bereits fest.
Diese Frage müsste ich natürlich eigentlich Sergej stellen, aber diese Möglichkeit gibt es leider gerade nicht. Vielleicht können Sie etwas Licht ins Dunkel bringen: Warum engagiert sich jemand, der so lange erfolgreicher Unternehmer war, plötzlich für gesellschaftliche Anliegen und geht dann auch noch in die Politik?
Ich glaube nicht, dass Sergej von Anfang an vorhatte, in die Politik zu gehen. Er hatte ein verlassenes Anwesen gekauft und wollte es zu einer Herberge für Pilger ausbauen. Da fingen die Scherereien an. Um Strom zu verlegen, das Dach neu zu decken – für alles brauchte man einen Haufen Genehmigungen. Nach und nach fragt man sich dann, warum einem so viele Steine in den Weg gelegt werden, anstatt dass die Menschen einfach Geld verdienen zu lassen? Warum wirft der Staat ihnen immer Knüppel zwischen die Beine?
So kam Sergej allmählich zu dem Schluss, dass es in unserem Land vieles gibt, was sich ändern muss. Seine Anhängerschaft wuchs rasant, wobei sich viele einfache Menschen anschlossen, die sich früher überhaupt nicht gesellschaftlich engagiert hatten. Sergej schaffte es, ihre Herzen zu berühren.
Da beschlossen die Behörden, Tichanowski von der Registrierung abzuhalten, indem sie ihn genau an dem Tag, als die Frist für die Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission verstrich, einsperrten. Aber dann folgte eine Überraschung …
Selbst da hat meine Transformation noch nicht eingesetzt. Ich bin nicht in die Politik gegangen – ich bin für meinen Mann hingegangen, um ihn zu unterstützen. In einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden habe ich die Unterlagen mit seiner Vollmacht eingereicht. Doch sie haben Sergejs Registrierung als Präsidentschaftskandidat abgelehnt. Ich hatte nicht viel Zeit zum Überlegen. Und da habe ich, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, beschlossen, den Antrag auf meinen Namen zu stellen. In dem Moment war die Entscheidung für mich absolut klar. Ich habe nicht in die Zukunft gedacht, nicht die Folgen einkalkuliert. Ich dachte, man würde mich abweisen, so wie meinen Mann. Aber ich musste es für ihn tun.
Später gab es Gerüchte, wir hätten uns abgesprochen. Aber in Wahrheit war es ein Schock für Sergej. Er ruft mich an: „Sweta, ich bin draußen!“ Und ich antworte: „Das freut mich, aber ich kann nicht sprechen – ich fahre gerade zum Wahlamt.“ Sergej war sicher, dass es um seine Registrierung geht. Als wir später wieder telefonierten, wusste er gar nicht, was los ist: „Wie, du? Wie kann das sein? Warum haben sie mich nicht registriert?“
Er kommt also aus dem Gefängnis nach Hause, und seine Frau ist Präsidentschaftskandidatin. (lächelt) Wir hatten nicht einmal Zeit, alles zu besprechen. Sergej hat sich gleich in die Arbeit gestürzt. In einem Interview sagte er mal, er sei mir sehr dankbar und stolz auf mich.
In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst.
Als mein Mann neun Tage später eine längere Haftstrafe bekam, war ich wie gelähmt. Ich habe mich kaum an der Unterschriftensammlung beteiligt. Aber Sergejs Mitstreiter haben sich organisiert und alles selbst in die Hand genommen. Ich bin an diesem Punkt nur nach Komarowka gefahren, um für Viktor Babariko und Valeri Zepkalo zu unterschreiben, und zu meiner eigenen Kundgebung, um Unterschriften zu sammeln.
Auf wen hätten Sie bei den Wahlen gesetzt, wenn man Sie nicht registriert hätte?
Wahrscheinlich hätte ich mich einfach zurückgezogen. Hätte versucht, Geld für Sergejs Anwälte aufzutreiben. Vielleicht auch nicht. Weil die Bewegung bereits sehr groß war. Später hörte ich, wie Leute auf einen Witz reagierten, den ich bei der Wahlkommission gemacht hatte: „Mein Gott! Sie hat gesagt, dass sie ihr ganzes Leben lang davon geträumt hat, Präsidentin zu werden! Eine von uns!“ Das heißt, manche nahmen mich als glühende Oppositionelle wahr.
In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. Du kommst aus dem Wahlamtsgebäude, und auf der Straße wartet schon eine Traube von Leuten mit Kameras. Du denkst: „Meine Güte, was mache ich mit denen? Worüber soll ich mit ihnen reden? Ich bin nicht hergekommen, um eine Revolution zu machen oder die Wahlen zu gewinnen. Ich bin wegen meinem Mann hier.“
Dann siehst du die riesigen Schlangen von Menschen, die unterschreiben wollen. Massenhaft Menschen, die dich unterstützen – weil du eine von ihnen bist und nicht irgendein Beamter. Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.
Und dann klingelt das Telefon …
Ich hatte Pech, dass damals niemand mit politischer Erfahrung auf mich zugekommen ist und mir erklärt hat, wie man sich bei Drohungen und in kritischen Situationen im Allgemeinen verhält. Ich war überhaupt nicht vorbereitet.
Ein Anrufer sagte: „Hören Sie auf damit. Sonst wandern Sie ins Gefängnis, und Ihre Tochter und Ihr Sohn kommen ins Waisenhaus.“ Ich bin nach Hause und habe eine Videobotschaft aufgenommen, dass ich die Kampagne abbreche. Aber dann … dann dachte ich daran, wie viele Menschen sich eingebracht hatten. Und ich beschloss weiterzumachen, trotz meiner Angst. Vor allem um die Kinder …
Zum Glück schlossen sich unserem Team nach und nach erfahrene Politiker an: Alexander Dobrowolski, Anna Krassulina … Das war Mascha Moros zu verdanken, unserer Stabsleiterin, die Kontakt zur Vereinigten Bürgerpartei (OGP) aufgenommen hatte, damit sie uns ihr Programm schickten, das ich gar nicht hatte. [Diese Leute] nahmen eine Riesenlast von mir. Es gab ja eine Menge Fragen. Wir mussten eine Stiftung gründen, damit uns die Menschen Geld für die Vorwahlkampagne überweisen konnten. Reisen organisieren, Kundgebungen.
Haben Sie damals zu Hause übernachtet?
Ich habe versucht, nicht alleine zu sein. Deshalb war ich viel bei der Familie Moros. Und wenn ich in meiner Wohnung schlief, war Mascha bei mir. Ich habe damals eine Kamera installiert, damit man mir nichts Verbotenes unterjubelt. Wie die 900.000 Dollar, die erst bei der dritten Durchsuchung unter Sergejs Couch „gefunden“ wurden.
Unsere Kampagne war von den Möglichkeiten her die bescheidenste. Babariko hatte ein cooles Team und genügend Ressourcen, um seine Ideen in die Tat umzusetzen. Bei uns arbeiteten einfache Menschen, getrieben von nacktem Enthusiasmus. Ich bezweifle sogar sehr, dass die Leute sich von Anfang an bewusst waren, welche Veränderungen wir wollten. Das kam erst später. Zunächst gingen alle gegen Ungerechtigkeit und Willkür auf die Straßen. Danach machte jeder seine eigene Entwicklung durch. Auch ich.
Ich erinnere mich an meine allererste Fahrt zu einer Kundgebung – in Dserschinsk. Ich weiß noch: Du musst dahin und auf diese Bühne. Aber meine Güte, wo bin ich, wo ist die Bühne? (lächelt) In der ersten Zeit bekam ich meine Reden geschrieben. Aber dann wurde mir klar: Etwas stimmt nicht, das ist nicht meine Art. Und ich fing an, einfach mit den Menschen zu reden.
Welche Städte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Gomel – das ist meine Stadt. Und Mogiljow – dort machten wir uns Sorgen, ob überhaupt jemand kommen würde, weil das traditionell Lukaschenkos Domäne ist. Aber überall kamen die Menschen in Massen. Ich erinnere mich noch daran, wie man mich begrüßt und verabschiedet, und dass ich, ohne vollends zu verstehen, was da überhaupt passiert, einfach den Vibe der Menschen spüre und mit ihnen auf einer Welle schwimme.
Von wem stammt die Idee zu dem Trio: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa, Veronika Zepkalo?
Nach eigener Aussage stammt sie von Valeri Zepkalo, aber wie es in Wirklichkeit war, kann ich nicht genau sagen. Wir drei (Veronika, Maria, Swetlana – Anm. d. Red.) haben uns getroffen und über ein ganz simples Konzept gesprochen: den Weg von jetzt an nicht mehr jede für sich zu gehen, sondern gemeinsam, und zwar unter dem Motto: „Für faire und ehrliche Wahlen“. Ich war sofort dafür. Sieben Minuten – und der Plan stand. Ich glaube, wenn ich aus irgendwelchen Gründen abgelehnt hätte, wären sie bereit gewesen, sich mit Sergej Tscheretschen zu verbünden.
Sind Sie jemals mit einer Achterbahn gefahren?
Natürlich.
Erinnert Sie dieser Abschnitt Ihres Lebens nicht an eine Achterbahnfahrt?
Nein, weil es dort unterschiedliche Abschnitte gibt: Du kriechst langsam nach oben, und dann rast du in die Tiefe. Aber 2020 hatte ich keine Möglichkeit, Luft zu holen. Alles passierte in rasender Geschwindigkeit.
Und dann kam der 9. August. Was hatten Sie erwartet?
Je näher der Wahltag kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre im Stab. Nicht wenige unserer Anhänger waren bereits hinter Gittern. Ich hatte den Eindruck, dass das Team von Babariko keine sichtbaren Formen des Protests wollte. Sie versuchten, alles „im Rahmen des Gesetzes“ zu machen. Aber man kann die Leute ja nicht aufhalten.
Ich weiß noch, wie die Auszählung der Stimmen begann, und plötzlich ruft jemand im Stab, dass die erste echte Hochrechnung veröffentlicht wurde. Dann die zweite, dritte … Alle: „Wow! Unglaublich!“ Auf der einen Seite bricht Euphorie aus, und auf der anderen hörst du Schüsse.
Was dachten Sie persönlich, wie schätzten Sie Ihre Chancen ein?
In dem Moment existierte ich nicht als Person, wir waren alle wie ein Organismus. Wir gewinnen! Wir Belarussen! Als eine Nation!
So war die Stimmung damals …