Medien

„Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.“

Vor fünf Jahren, im Mai 2020, begann in Belarus eine Geschichte, die das Leben von Swetlana Tichanowskaja für immer veränderte – genauso wie das Leben von zigtausenden Belarussen. Ihr Mann Sergej Tichanowski, der damals einen populären, regimekritischen YouTube-Kanal betrieb, war bei einer Kundgebung am 7. Mai zum ersten Mal festgenommen worden. Er hatte beschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat anzutreten. Dazu kam es allerdings nicht mehr: Tichanowski wurde erneut verhaftet und durfte nicht kandidieren. Stattdessen übernahm seine Frau, in der Folge entwickelte sich eine historische Massenbewegung

Das belarussische Online-Portal GazetaBY startet aus Anlass jener Ereignisse das Projekt Transit. Der Beginn. Im ersten Teil der Publikationsreihe spricht Swetlana Tichanowskaja in einem Interview über ihre Wandlung von einer Hausfrau zur Politikerin und Anführerin einer Protestbewegung.

Quelle Salidarnasc/Gazeta.by

Swetlana Tichanowskaja zeigt im Juli 2020 ihre Registrierung zur Präsidentschaftskandidatin. / Foto © GazetaBY.com

GazetaBY: Wann haben Sie gespürt, dass sich Ihr friedliches, geregeltes Leben verändert? 

Swetlana Tichanowskaja: Als Sergej zum ersten Mal verhaftet wurde. Das war wie eine kalte Dusche. Ich habe sofort die Gefahr gespürt. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass wir Neujahr nicht zusammen verbrachten. Ein eigenartiges Gefühl: Sergej ist im Gefängnis, die Kinder und ich unterstützen seine Mutter in Homel. 

Und was haben Sie zu Ihrem Mann gesagt, als er nach der Nacht im Gefängnis wieder rauskam?  

Ob ich ihm gesagt habe: „Hör auf damit?“ Nein. Dafür kenne ich meinen Mann zu gut. Eheleute sollten einander unterstützen, nicht einander etwas ausreden. Wie so viele andere verfolgte ich Sergejs Livestreams und sah, dass er sehr populär wird. Charismatisch, auffällig – für die Menschen ist das anziehend. Sie kamen in Strömen, wenn Sergej in diese oder jene Stadt reiste, um „Tauben zu füttern“. 

Ich half meinem Mann, wo ich konnte. Bestellte Sticker und so weiter. Aber ich war nicht besonders stark involviert. In jenem Frühling hatte ich gerade wieder angefangen zu arbeiten: Nachdem ich mich zehn Jahre um unseren Sohn gekümmert hatte, unterrichtete ich an einer Online-Schule. 

Und da kommt Sergej eines Tages nach Hause und sagt: „Die Leute wollen, dass ich als Präsident kandidiere.“ – „Du weißt aber schon, welche Konsequenzen das haben kann?“ – „Ja, ich weiß.“ Aber sein Entschluss stand bereits fest. 

Diese Frage müsste ich natürlich eigentlich Sergej stellen, aber diese Möglichkeit gibt es leider gerade nicht. Vielleicht können Sie etwas Licht ins Dunkel bringen: Warum engagiert sich jemand, der so lange erfolgreicher Unternehmer war, plötzlich für gesellschaftliche Anliegen und geht dann auch noch in die Politik? 

Ich glaube nicht, dass Sergej von Anfang an vorhatte, in die Politik zu gehen. Er hatte ein verlassenes Anwesen gekauft und wollte es zu einer Herberge für Pilger ausbauen. Da fingen die Scherereien an. Um Strom zu verlegen, das Dach neu zu decken – für alles brauchte man einen Haufen Genehmigungen. Nach und nach fragt man sich dann, warum einem so viele Steine in den Weg gelegt werden, anstatt dass die Menschen einfach Geld verdienen zu lassen? Warum wirft der Staat ihnen immer Knüppel zwischen die Beine? 

So kam Sergej allmählich zu dem Schluss, dass es in unserem Land vieles gibt, was sich ändern muss. Seine Anhängerschaft wuchs rasant, wobei sich viele einfache Menschen anschlossen, die sich früher überhaupt nicht gesellschaftlich engagiert hatten. Sergej schaffte es, ihre Herzen zu berühren. 

Sergei Tichanowski beim Interview im Jahr 2020. / Foto © Tut.by

Da beschlossen die Behörden, Tichanowski von der Registrierung abzuhalten, indem sie ihn genau an dem Tag, als die Frist für die Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission verstrich, einsperrten. Aber dann folgte eine Überraschung …     

Selbst da hat meine Transformation noch nicht eingesetzt. Ich bin nicht in die Politik gegangen – ich bin für meinen Mann hingegangen, um ihn zu unterstützen. In einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden habe ich die Unterlagen mit seiner Vollmacht eingereicht. Doch sie haben Sergejs Registrierung als Präsidentschaftskandidat abgelehnt. Ich hatte nicht viel Zeit zum Überlegen. Und da habe ich, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, beschlossen, den Antrag auf meinen Namen zu stellen. In dem Moment war die Entscheidung für mich absolut klar. Ich habe nicht in die Zukunft gedacht, nicht die Folgen einkalkuliert. Ich dachte, man würde mich abweisen, so wie meinen Mann. Aber ich musste es für ihn tun. 

Später gab es Gerüchte, wir hätten uns abgesprochen. Aber in Wahrheit war es ein Schock für Sergej. Er ruft mich an: „Sweta, ich bin draußen!“ Und ich antworte: „Das freut mich, aber ich kann nicht sprechen – ich fahre gerade zum Wahlamt.“ Sergej war sicher, dass es um seine Registrierung geht. Als wir später wieder telefonierten, wusste er gar nicht, was los ist: „Wie, du? Wie kann das sein? Warum haben sie mich nicht registriert?“ 

Er kommt also aus dem Gefängnis nach Hause, und seine Frau ist Präsidentschaftskandidatin. (lächelt) Wir hatten nicht einmal Zeit, alles zu besprechen. Sergej hat sich gleich in die Arbeit gestürzt. In einem Interview sagte er mal, er sei mir sehr dankbar und stolz auf mich. 

In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. 

Als mein Mann neun Tage später eine längere Haftstrafe bekam, war ich wie gelähmt. Ich habe mich kaum an der Unterschriftensammlung beteiligt. Aber Sergejs Mitstreiter haben sich organisiert und alles selbst in die Hand genommen. Ich bin an diesem Punkt nur nach Komarowka gefahren, um für Viktor Babariko und Valeri Zepkalo zu unterschreiben, und zu meiner eigenen Kundgebung, um Unterschriften zu sammeln. 

Auf wen hätten Sie bei den Wahlen gesetzt, wenn man Sie nicht registriert hätte? 

Wahrscheinlich hätte ich mich einfach zurückgezogen. Hätte versucht, Geld für Sergejs Anwälte aufzutreiben. Vielleicht auch nicht. Weil die Bewegung bereits sehr groß war. Später hörte ich, wie Leute auf einen Witz reagierten, den ich bei der Wahlkommission gemacht hatte: „Mein Gott! Sie hat gesagt, dass sie ihr ganzes Leben lang davon geträumt hat, Präsidentin zu werden! Eine von uns!“ Das heißt, manche nahmen mich als glühende Oppositionelle wahr. 

In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. Du kommst aus dem Wahlamtsgebäude, und auf der Straße wartet schon eine Traube von Leuten mit Kameras. Du denkst: „Meine Güte, was mache ich mit denen? Worüber soll ich mit ihnen reden? Ich bin nicht hergekommen, um eine Revolution zu machen oder die Wahlen zu gewinnen. Ich bin wegen meinem Mann hier.“ 

Dann siehst du die riesigen Schlangen von Menschen, die unterschreiben wollen. Massenhaft Menschen, die dich unterstützen – weil du eine von ihnen bist und nicht irgendein Beamter. Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal. 

Und dann klingelt das Telefon … 

Ich hatte Pech, dass damals niemand mit politischer Erfahrung auf mich zugekommen ist und mir erklärt hat, wie man sich bei Drohungen und in kritischen Situationen im Allgemeinen verhält. Ich war überhaupt nicht vorbereitet. 

Ein Anrufer sagte: „Hören Sie auf damit. Sonst wandern Sie ins Gefängnis, und Ihre Tochter und Ihr Sohn kommen ins Waisenhaus.“ Ich bin nach Hause und habe eine Videobotschaft aufgenommen, dass ich die Kampagne abbreche. Aber dann … dann dachte ich daran, wie viele Menschen sich eingebracht hatten. Und ich beschloss weiterzumachen, trotz meiner Angst. Vor allem um die Kinder … 

Zum Glück schlossen sich unserem Team nach und nach erfahrene Politiker an: Alexander Dobrowolski, Anna Krassulina … Das war Mascha Moros zu verdanken, unserer Stabsleiterin, die Kontakt zur Vereinigten Bürgerpartei (OGP) aufgenommen hatte, damit sie uns ihr Programm schickten, das ich gar nicht hatte. [Diese Leute] nahmen eine Riesenlast von mir. Es gab ja eine Menge Fragen. Wir mussten eine Stiftung gründen, damit uns die Menschen Geld für die Vorwahlkampagne überweisen konnten. Reisen organisieren, Kundgebungen. 

Haben Sie damals zu Hause übernachtet? 

Ich habe versucht, nicht alleine zu sein. Deshalb war ich viel bei der Familie Moros. Und wenn ich in meiner Wohnung schlief, war Mascha bei mir. Ich habe damals eine Kamera installiert, damit man mir nichts Verbotenes unterjubelt. Wie die 900.000 Dollar, die erst bei der dritten Durchsuchung unter Sergejs Couch „gefunden“ wurden. 

Unsere Kampagne war von den Möglichkeiten her die bescheidenste. Babariko hatte ein cooles Team und genügend Ressourcen, um seine Ideen in die Tat umzusetzen. Bei uns arbeiteten einfache Menschen, getrieben von nacktem Enthusiasmus. Ich bezweifle sogar sehr, dass die Leute sich von Anfang an bewusst waren, welche Veränderungen wir wollten. Das kam erst später. Zunächst gingen alle gegen Ungerechtigkeit und Willkür auf die Straßen. Danach machte jeder seine eigene Entwicklung durch. Auch ich. 

Ich erinnere mich an meine allererste Fahrt zu einer Kundgebung – in Dserschinsk. Ich weiß noch: Du musst dahin und auf diese Bühne. Aber meine Güte, wo bin ich, wo ist die Bühne? (lächelt) In der ersten Zeit bekam ich meine Reden geschrieben. Aber dann wurde mir klar: Etwas stimmt nicht, das ist nicht meine Art. Und ich fing an, einfach mit den Menschen zu reden. 

Welche Städte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?  

Gomel – das ist meine Stadt. Und Mogiljow – dort machten wir uns Sorgen, ob überhaupt jemand kommen würde, weil das traditionell Lukaschenkos Domäne ist. Aber überall kamen die Menschen in Massen. Ich erinnere mich noch daran, wie man mich begrüßt und verabschiedet, und dass ich, ohne vollends zu verstehen, was da überhaupt passiert, einfach den Vibe der Menschen spüre und mit ihnen auf einer Welle schwimme. 

Von wem stammt die Idee zu dem Trio: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa, Veronika Zepkalo

Nach eigener Aussage stammt sie von Valeri Zepkalo, aber wie es in Wirklichkeit war, kann ich nicht genau sagen. Wir drei (Veronika, Maria, Swetlana – Anm. d. Red.) haben uns getroffen und über ein ganz simples Konzept gesprochen: den Weg von jetzt an nicht mehr jede für sich zu gehen, sondern gemeinsam, und zwar unter dem Motto: „Für faire und ehrliche Wahlen“. Ich war sofort dafür. Sieben Minuten – und der Plan stand. Ich glaube, wenn ich aus irgendwelchen Gründen abgelehnt hätte, wären sie bereit gewesen, sich mit Sergej Tscheretschen zu verbünden. 

Sind Sie jemals mit einer Achterbahn gefahren? 

Natürlich. 

Erinnert Sie dieser Abschnitt Ihres Lebens nicht an eine Achterbahnfahrt? 

Nein, weil es dort unterschiedliche Abschnitte gibt: Du kriechst langsam nach oben, und dann rast du in die Tiefe. Aber 2020 hatte ich keine Möglichkeit, Luft zu holen. Alles passierte in rasender Geschwindigkeit. 

Und dann kam der 9. August. Was hatten Sie erwartet? 

Je näher der Wahltag kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre im Stab. Nicht wenige unserer Anhänger waren bereits hinter Gittern. Ich hatte den Eindruck, dass das Team von Babariko keine sichtbaren Formen des Protests wollte. Sie versuchten, alles „im Rahmen des Gesetzes“ zu machen. Aber man kann die Leute ja nicht aufhalten. 

Ich weiß noch, wie die Auszählung der Stimmen begann, und plötzlich ruft jemand im Stab, dass die erste echte Hochrechnung veröffentlicht wurde. Dann die zweite, dritte … Alle: „Wow! Unglaublich!“ Auf der einen Seite bricht Euphorie aus, und auf der anderen hörst du Schüsse. 

Was dachten Sie persönlich, wie schätzten Sie Ihre Chancen ein? 

In dem Moment existierte ich nicht als Person, wir waren alle wie ein Organismus. Wir gewinnen! Wir Belarussen! Als eine Nation! 

So war die Stimmung damals … 

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnose Belarus

Swetlana Tichanowskaja

Faire freie Wahlen – mit diesem Ziel ging das Wahlbündnis um Swetlana Tichanowskaja in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Lukaschenko. Seit sie ins Exil musste, entwickelte sich Tichanowskaja zur wichtigsten politischen Stimme ihres Landes. Anfang März 2023 wurde sie in Abwesenheit zu 15 Jahren Straflager verurteilt. Das Porträt einer Politikerin, die nie eine sein wollte.

Gnose Belarus

Alexander Lukaschenko

Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.  

Gnosen
en

Swetlana Tichanowskaja

„Serjoscha, ich liebe dich sehr. Ich mache das nur für dich und die Menschen, die an dich glauben.“ Das sagte Swetlana Tichanowskaja vor Reportern, als sie aus dem Minsker Büro der Zentralen Wahlkommission trat, in der sie wenige Minuten zuvor die Bestätigung ihrer Präsidentschaftskandidatur ausgehändigt bekam. Zu diesem Zeitpunkt saß ihr Mann Sergej Tichanowski bereits seit mehr als zwei Wochen in Haft – er ist bis heute nicht frei. Die belarussischen Behörden hatten dem bekannten Blogger und Gründer des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben die Kandidatur zu den Wahlen verweigert. Daraufhin hatte seine seine Frau Swetlana beschlossen, an seine Stelle zu treten.

Zurückhaltend, naiv, unerfahren: Das dachten dann wohl die meisten Belarussen, als sie Swetlana Tichanowskaja 2020 zum ersten Mal sahen, nur drei Monate vor den Wahlen vom 9. August. Seitdem ist Tichanowskaja zu einer erfahrenen Politikerin geworden, die schon jetzt mehr Staatsmänner von Weltrang getroffen hat als Machthaber Alexander Lukaschenko in seiner ganzen Laufbahn.

Swetlana Tichanowskaja und das sie stützende Wahlbündnis trat mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen / Foto © Jindřich Nosek (NoJin) unter CC BY-SA 4.0

Alexander Lukaschenkos strategischer Fehler und der Beginn von Swetlana Tichanowskajas neuem Leben fielen auf den 14. Juli 2020: Tichanowskaja wurde als einzige von drei aussichtsreichen Oppositionskandidaten zum Wahlkampf zugelassen. Mit dieser Zulassung wollte das Regime den Eindruck fairer Wahlen erwecken. Damals behauptete Lukaschenko noch, dass die belarussische Gesellschaft sowieso nicht „reif“ genug sei, um eine Frau ins Präsidentenamt zu heben. Ein ehrlicher politischer Wettstreit gegen männliche Kandidaten wäre ihm höchstwahrscheinlich zu risikoreich gewesen. Daher hatten die Behörden Sergej Tichanowski und Viktor Babariko präventiv festgenommen, außerdem Waleri Zepkalo die Kandidatur verweigert. Wenig später sollte sich herausstellen, wie bereit die belarussische Gesellschaft war, einer Frau das Vertrauen zu schenken.

Drohungen, erzwungenes Video und Tausende Anhänger

Tichanowskaja verkündete zwei Tage nach ihrer Registrierung als Kandidatin, sich mit Babarikos Kampagnenleiterin und Zepkalos Ehefrau zusammenzuschließen. Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo wurden als die „drei Grazien“ bezeichnet, und große Teile der Gesellschaft begannen, sie als Leitfiguren für einen potentiellen Wandel  anzusehen. Von Tichanowskaja erfuhren die Belarussen im Zuge des Wahlkampfs die Geschichte einer Hausfrau und Mutter, die eine Projektionsfläche für viele belarussische Frauen bot: Sie wurde in der Kleinstadt Mikaschewitschi geboren und hatte an der Pädagogischen Universität von Mosyr Fremdsprachen studiert. Später arbeitete sie in Gomel als Übersetzerin für Englisch und heiratete im Jahr 2005. Sie und ihr Mann bekamen zwei Kinder. Weil ihr Sohn mit einer Hörbehinderung geboren wurde, gab sie ihre Arbeit auf, um für ihn da zu sein.  

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen  hunderttausende Menschen in ganz Belarus. Schon damals war zu erkennen, dass Tichanowskaja – einmal ihrem Mann zuliebe in die Welt der Politik eingetaucht und von seinen Wählern unterstützt – ihr Projekt nicht auf halbem Wege fallen lassen würde. Auch dann nicht, als sie im Zuge der erfolgreichen Wahlkampagne einen Anruf von einer unbekannten Nummer erhielt: Der Anrufer drohte ihr mit Verhaftung und damit, ihr die Kinder wegzunehmen. Also nahm die Großmutter die Kinder in Obhut und reiste mit ihnen nach Litauen aus. Sie selbst setzte ihren Wahlkampf fort. Das Wahlbündnis um Tichanowskaja trat dabei mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen.

Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse am 9. August 2020 kam es in Belarus noch am selben Abend zu Massenprotesten, Verhaftungen und Polizeigewalt: Der Unmut über das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis hatte landesweite Proteste ausgelöst. Berechnungen zu den Stimmabgaben, die Aktivisten vorgenommen haben, legten nahe, dass das Wahlbündnis um Tichanowskaja ziemlich wahrscheinlich mindestens den zweiten Wahlgang erreicht hatte, was den offiziell verkündeten Zahlen von 9,9 Prozent diametral entgegenstand1. Die Zentrale Wahlkommission erklärte, mehr als 80 Prozent der Stimmen seien an Lukaschenko gegangen.

Für Tichanowskaja brachte der nächste Tag endgültige Ernüchterung. Als sie das Wahlergebnis bei der Zentralen Wahlkommission in Minsk anfechten wollte, kehrte sie von dort nicht wieder zurück. Nachdem litauische Behörden tags darauf angaben, dass sie sich in Litauen aufhalte, tauchten zwei Videos auf: Darin rief eine verängstigte Tichanowskaja die Belarussen dazu auf, nicht mehr auf die Straße zu gehen, und erklärte, das Land  verlassen zu haben. Sie begründete das mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder2. Später wurde bekannt, dass mindestens eines dieser Videos unter dem Druck des belarussischen Geheimdienstes KGB entstanden war3.
Zehn Tage später gab Tichanowskaja in Litauen ihre erste Pressekonferenz aus dem Exil.

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen hunderttausende Menschen in ganz Belarus / Foto © Nadia Buzhan

Ein Treffen mit Biden – „Mehr als ein Foto auf Twitter“

Ihr erster wichtiger politischer Schritt im Exil war es, dem Regime ein symbolisches Volksultimatum zu stellen: Sie forderte Lukaschenko auf zurückzutreten, zudem alle politischen Gefangenen freizulassen und die Gewalt gegen die Protestierenden zu beenden. Andernfalls drohe ein Generalstreik – zu dem es im Oktober 2020 tatsächlich kam: Studierende, Ärzte, Unternehmer, Angestellte und Arbeiter der mächtigen Staatsbetriebe schlossen sich dem an. Allerdings erreichte der Streik nicht die gewünschten Ausmaße. Auch weil es der Staatsmacht gelang, die Welle des Ungehorsams und den Protestwillen mit brutalen Festnahmen und Kündigungen zu brechen und einzuhegen. Daher war der Streik relativ schnell beendet, und weitere Versuche, solche Streiks zu organisieren, blieben auch später erfolglos.  

Tichanowskaja und ihr Team begannen vom Exil aus, international politische Aufmerksamkeit für die belarussische Demokratiebewegung zu schaffen, indem sie zahlreiche Staatsoberhäupter westlicher Länder traf, darunter Emmanuel Macron, Angela Merkel, Boris Johnson und Joe Biden. Sie wurde zu einer ernst zunehmenden Stimme für ihr Land. Der Politologe Artyom Shraibman bemerkte damals zu Tichanowskajas Treffen mit Biden: „Ein solches Symbol auf [Präsidenten]Ebene ist mehr als ein Foto auf Twitter. Für die amerikanischen Bürokraten ist das ein starkes Signal.“ Zum Vergleich: Lukaschenko hat in den vergangenen zwei Jahren nur Putin, staatliche Amtsträger aus Venezuela und Staatsführer aus der Einflusssphäre der OVKS getroffen.

Diplomatische Erfolge im Exil

Nach den gefälschten Wahlen hatte die westliche Diplomatie Lukaschenko deutlich zu verstehen gegeben, dass Verhandlungen erst nach einem angemessenen Dialog mit der Opposition, Neuwahlen und der Freilassung politischer Gefangener möglich seien.

Unterdessen konnte Tichanowskaja nach nur wenigen Monaten in Litauen wichtige diplomatische Erfolge erzielen: Das EU-Parlament und der US-Kongress erkannten den auf ihre Initiative hin gegründeten Koordinationsrat als legitime Vertretung des belarussischen Volkes an. Im Sommer 2021 wurde ihrem Büro von der litauischen Regierung der Diplomatenstatus verliehen. Im Februar 2022 kündigte sie die Bildung einer Exilregierung an.
Dass Tichanowskaja durch die westliche Gemeinschaft so vielseitige Unterstützung erhielt, hat ihre Anerkennung erheblich gesteigert, auch bei den Belarussen im Inland.

Zum ersten Mal seit Langem hat auch die belarussische Diaspora eine angesehene moderne Führungspersönlichkeit. Swetlana Tichanowskaja und ihr Team kommunizieren regelmäßig mit Vertretern der belarussischen Diaspora in aller Welt, etwa in den von ihr eingerichteten Volksbotschaften, die als informelle Auslandsvertretungen der Belarussen fungieren. Sie persönlich nimmt an Demonstrationen von Belarussen im Ausland teil und unterstützt Familien von politischen Gefangenen.
Der letzte führende Politiker der Diaspora war Sjanon Pasnjak, ein ehemaliger Abgeordneter des belarussischen Obersten Sowjets, der seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in Belarus lebt und Vorsitzender der ultrakonservativen christlichen Partei BNF ist. Für viele Belarussen, die schon lange im Ausland sind, ist er bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Der Großteil der belarussischen Diaspora, die seit 2020 weltweit noch einmal um mindestens 100.000 Menschen gewachsen ist, dürfte jedoch inzwischen Tichanowskaja anhängen, auch, weil sie für eine neue Generation steht.

Gleichzeitig droht den Exilpolitikern angesichts der harten politischen Repressionen ein Bedeutungsverlust bei den Menschen in Belarus selbst: Laut einer unabhängigen Umfrage unter Belarussen, die den Protest unterstützen, vertrauen zwar 85 Prozent der Befragten Tichanowskaja, im Februar 2022 hätten jedoch nur 19 Prozent für sie gestimmt. Der beliebteste Oppositionspolitiker ist nach wie vor Viktor Babariko, den 45 Prozent der Befragten wählen würden.

Wobei die Unterstützung für Tichanowskaja seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder leicht angestiegen ist. Ihr Team leistet unter anderem humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und verfolgt die Bewegung von russischem Militärgerät auf dem Territorium von Belarus.
Dabei verfügt sie nachweislich über Wirkmacht: Als Tichanowskaja am 27. Februar, dem Tag des umstrittenen Verfassungsreferendums, dazu aufrief, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, kam es in Belarus zu zahlreichen Protesten, bei denen mindestens 500 Menschen festgenommen wurden, die meisten in Minsk.

Kritiker in den oppositionellen Reihen

Innerhalb der belarussischen Opposition wurden immer wieder auch kritische Stimmen laut, die ihr mangelnde politische Kompetenz, eine unklare Position und umstrittene politische Entscheidungen vorwarfen, darunter übertriebenen Optimismus und eine viel zu konkrete Ankündigung eines Siegs über das Regime – was der bekannte Philosoph Wladimir Mazkewitsch mit den Worten quittierte: „Im Herbst haben Sie geschrien, das Regime würde bis Weihnachten oder Neujahr fallen. Es ist aber nicht gefallen, und die Menschen, die darauf gehofft haben, sind jetzt verzweifelt.“ Zu wenig strategisches Denken, um auch die Unentschlossenen anzusprechen, kritisierte Politologe Andrej Kasakewitsch und befand, es brauche mehr als mit politischen Statements in den sozialen Medien „viral“ zu gehen.
Eine der ersten öffentlichen Äußerungen, die Tichanowskajas Glaubwürdigkeit vorübergehend ernsthaft untergrub, war ein Interview mit dem russischen Wirtschaftsmedium RBK im September 2020, kurz nach ihrer Emigration. Darin bezeichnete sie Putin als „weisen Regenten“. Später rechtfertigte sie ihre Aussage mit mangelnder Erfahrung – der Zweck des Interviews sei gewesen, Putin dazu anzuhalten, Lukaschenko nicht länger zu unterstützen.

Tichanowskaja drohen bis zu 59 Jahre Haft, wenn nicht die Todesstrafe

Entgegen Lukaschenkos Behauptung, die belarussische Gesellschaft sei für eine Frau an der Spitze nicht reif, haben die Belarussen mit Swetlana Tichanowskaja nicht nur eine wenig bekannte Frau groß gemacht, sondern sehen in ihr auch die Verkörperung einer Ära der Freiheit, die allerdings alles andere als nahe scheint. Tichanowskaja wurde zum Symbol dieses Kampfes, was trotz aller Kritik nur wenige bestreiten. Oder, wie es Ales Santozki in einer Analyse für Nascha Niwa ausdrückte: „Dass wir jetzt das Büro von Tichanowskaja und andere organisierte Strukturen mit stabilen Kontakten zu den politischen Eliten westlicher Länder haben, ist tatsächlich ein großer Vorteil für uns. Denn das verleiht Belarus abseits von Lukaschenko politische Subjekthaftigkeit. Und wenn die Zeit der Entscheidung über die Zukunft der gesamten Region kommt, kann das einen großen Unterschied machen.“

Am 14. Dezember 2021 war Tichanowskajas Ehemann Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Sie habe keine Hoffnungen gehegt, dass er vor einem Machtwechsel in Belarus freikommen würde, kommentierte sie das Urteil am Rande einer Sitzung mit Parlamentsabgeordneten, zu der sie an diesem Tag in Schweden war4. Für sie selbst ist eine Rückkehr in ihr Heimatland unter diesen Bedingungen unwahrscheinlich. Aktuell laufen offiziell mindestens sechs Strafverfahren gegen sie (unter anderem wegen „Gründung einer extremistischen Vereinigung“, „Aufruf zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ und „Vorbereitung eines terroristischen Akts“). Am 6. März 2023 wurde sie in Abwesenheit von einem Minsker Gericht zu 15 Jahren Straflager verurteilt. 


1.Die Aktivisten haben die Wahllokale zugrunde gelegt, in denen Swetlana Tichanowskaja offiziell gewonnen hatte. Demnach erreichte sie in knapp 200 der Wahllokale eine Stimmenmehrheit von rund 57 Prozent, während ihr laut dieser offiziellen Zahlen zugleich in fast 4500 Wahllokalen angeblich nur 3 Prozent der Stimmen zugekommen sein sollen. Diesereklatante Widerspruch deutet auf massive Wahlfälschung hin, vgl. Itogowy ottschet o wyborach Presidenta Respubliki Belarus (Po dannym platform «Golos», «Subr» i soobschtschestwa «Tschestnyje ljudi»)
2.vgl.: currenttime.tv: Tichanovskaja zapisala dva videoobraščenija. V odnom ona govorit o detjach, vo vtorom prosit ne vychodit' na ulicy 
3.vgl.: mediazona.by: Belarus' posle vyborov. Den' tretij  
4.Die Autorin nahm an dieser Sitzung als Vertreterin der belarussischen Diaspora aus Schweden teil. 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose Belarus

Alexander Lukaschenko

Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.  

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)