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Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag

„Nie wieder Krieg“ waren einmal die Worte, die den 9. Mai, den „Tag des Sieges“, über Jahrzehnte hinweg in vielen Familien des (post-)sowjetischen Raumes bestimmten. Eigentlich war es immer schon ein Mythos – mehr Wunschdenken denn Realität: In Wirklichkeit kämpften hunderttausende sowjetische und später russländische Soldaten etwa in Afghanistan und in Tschetschenien, viele Militärangehörige (sog. Wojenspezy) beteiligten sich an Kriegen in Afrika.  

Außerdem brachen nach dem Zerfall der Sowjetunion zahlreiche regionale Kriege aus. Bergkarabach und Georgien waren bis Februar 2022 die bekanntesten Beispiele. 

Doch erst der vollumfängliche Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dreieinhalb Jahren legt endgültig offen, wie hochproblematisch die Erinnerungskultur in manchen Teilen des postsowjetischen Raums ist: Einige Aspekte dienen Russland im aktuellen Krieg als Rechtfertigung dafür, ein Volk anzugreifen, das zusammen mit dem russischen und vielen anderen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Faschismus Nazi-Deutschlands gespielt hat. So benutzt die (pro-)russische Propaganda das 80. Jahr nach Kriegsende auch, um nicht nur an die Befreiung Europas 1945 zu erinnern, sondern vielmehr an die imperialen Ambitionen des heutigen Russlands. 

Dekoder-Redakteur Dmitry Kartsev spricht anlässlich des heutigen Gedenktages mit dem Historiker Alexej Uwarow, der derzeit in Deutschland zur Erinnerungskultur in Osteuropa forscht.  

Quelle dekoder

dekoder: Die russische Propaganda rechtfertigt den Angriffskrieg gegen die Ukraine als angeblichen Verteidigungskrieg gegen „Nazis“ und verweist dabei systematisch auf angebliche Parallelen zum Großen Vaterländischen Krieg. Inwieweit hat sich die Geschichtspolitik des Kreml seit dem Zerfall der Sowjetunion verändert?  

Alexej Uwarow: Das ursprüngliche geschichtspolitische Konzept, mit dem Russland 1991 angetreten ist, ist in den Hintergrund geraten und hat sich schließlich inhaltlich substanziell verändert. Ich habe eine Zeit lang die Reden der Präsidenten Putin und Medwedew zum 12. Juni verglichen, dem Tag Russlands. In den frühen 2000er Jahren fanden sich dort noch viele Wörter wie Demokratie, Föderalismus, Recht und Freiheit.   

Seit der berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, vor allem aber seit 2014 wurde der Ton immer aggressiver:  Russland sei mehr als die Russische Föderation, es gebe ja noch das „historische Russland“, für das die Grenzen der 1990er Jahre nicht gelten würden etc. Solche Begriffe wie „Zone privilegierter Interessen“, „russki mir“, „nahes Ausland“ wurden zunehmend wichtiger und verdeutlichten den imperialen Anspruch Russlands. Vor diesem Hintergrund ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg teilweise zu einem Vehikel zur Legitimation des aktuellen Krieges verkommen, und dieser bildet nun in der neuen Geschichtspolitik einen neuen Gründungsmythos, im Rahmen dessen die Ausweitung Russlands auf etwas Größeres, möglicherweise bis hin zu den Grenzen des Russischen Reichs als etwas Normales und Wünschenswertes gilt.  

Gleichzeitig sehe ich aber keine wirklich neuen gesellschaftlichen und sozialen Praktiken im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Es findet zwar eine aggressive Militarisierung der gesamten Gesellschaft statt, doch diese kommt hauptsächlich von oben. Breitenwirksame Grass Roots Initiativen wie Georgsbändchen oder das Unsterbliche Regiment (die natürlich schnell verstaatlicht worden sind) gibt es heute nicht.  

Es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft Elemente aus dem aktuellen Krieg ins gesellschaftliche Bewusstsein zum „Tag des Sieges“ Einzug halten werden, bislang sehe ich aber keine Hinweise dafür, dass die Gesellschaft besonders aktiv auf die politischen Angebote reagiert, die beiden Kriege zu einer gedanklichen Einheit zu verschmelzen. 

Der Kult um den Sieg im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg galt vielen Beobachtern als die Heilige Kuh der russischen Geschichtspolitik unter Putin. Falls die Menschen diese geschichtspolitische Verschmelzung weiterhin jedoch nicht annehmen und die Erzählungen in Konkurrenz geraten – würde der Kreml da nicht diese zentrale geschichtspolitische Ressource verlieren? 

Wie sich die russische Erzählung über den Krieg gegen die Ukraine entwickelt, zeigt, wie eklektisch sie ist. Betrachten wir zum Beispiel, wie der russische Staat in den eroberten Gebieten vorgegangen ist, also in den okkupierten Teilen der Oblasten Cherson und Saporischschja. Denn dort gab es erstaunliche Pirouetten: Militärs kamen, um eine sogenannte „Denazifizierung“ vorzunehmen, und sie griffen dabei zu quasi-sowjetischer Rhetorik.

Dazu brachten sie es fertig, Flaggen und Wappen aus der Zarenzeit hervorzuholen sowie Bilder von Potjomkin oder Suworow. Nicht nur der Zweite Weltkrieg und der andauernde Krieg haben darin Platz. Da finden auch alle möglichen anderen Helden aller erdenklichen Epochen der russischen Geschichte ihren Platz. So werden sicherlich auch die von der Ukraine-Front zurückkehrenden Soldaten als Helden stilisiert und damit in das vorhandene Pantheon aufgenommen.

Die russische Geschichtspolitik hat weniger ideologische Beschränkungen als das sowjetische. Und das macht es flexibler. 

Schauen wir auf die Betroffenen der aktuellen russischen Aggression, die Ukraine – wie wurde und wird dort des Zweiten Weltkriegs gedacht? Früher wurde in der Sowjetunion gemeinsam in allen Republiken der „Tag des Sieges“ gefeiert. Wie hat sich das seit den 1990er Jahren – besonders in der Ukraine – verändert? 

In der Ukraine gab es ab 1999 – unter Viktor Juschtschenko erst als Ministerpräsident, später dann als Präsident – Versuche, zwischen den Veteranen der Roten Armee und den Veteranen, die in den Reihen der OUN und UPA gekämpft haben, zu vermitteln – der sogenannten Division Halytschyna und anderen antisowjetischen Formationen. 

Ich erinnere mich noch, wie die russische Propaganda das schon Mitte der 2000er Jahre als Gleichsetzung der beiden Seiten, eine Relativierung bis Heroisierung des Nazismus darstellte. 

In der gesamten Amtszeit von Juschtschenko ging es um die Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins, insbesondere auf Grundlage der historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert. Juschtschenko konzentrierte sich dabei auf die Ukrainische Volksrepublik, auf die Westukrainische Volksrepublik, und auf die Fortsetzung des antisowjetischen nationalen Befreiungskampfes. Vor seiner Amtszeit hatte die UPA keine große Aufmerksamkeit bekommen, Juschtschenko war der erste ukrainische Präsident, der sie in die staatliche Erinnerungspolitik integrierte.  

Schon damals führte das zu Kontroversen, weil die UPA, die gegen die Sowjetmacht kämpfte, auch Verbrechen gegen Juden und Polen beging. Aber es war nicht Juschtschenkos Absicht, das Gedenken an die sowjetischen Veteranen durch ein Gedenken an die UPA zu ersetzen. Eher war es der Versuch, all das im Sinne einer ukrainischen Nationalerzählung zu verbinden. 

Der Zusammenhang sollte darauf basieren, dass alle Ukrainer sind, dass alle Teil einer ukrainischen Nation und einer ukrainischen Geschichte sind – mit all ihren tatsächlichen Widersprüchen und Konflikten. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es, stark vereinfacht, Gruppen im Land gibt, die den Zweiten Weltkrieg grundverschieden betrachten. Damit muss man einen Umgang finden. Man braucht man eine nationale Erzählung, die nicht spaltet, sondern eint.  

Leider widersprach dieser Ansatz der Einstellung vieler, die in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert waren. Russland indes hat diese Zerwürfnisse für seine Interessen genutzt und die Konflikte weiter geschürt

Und wie entwickelt sich der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in Belarus? 2020 klang es ja an, als gäbe es eine Spaltung zwischen der staatlich verordneten Erinnerungspolitik und dem, was die Menschen für richtig halten: Als Lukaschenko die weiß-rot-weiße Flagge verbieten wollte, das Symbol der Massenproteste und der alten national-demokratischen Opposition. Er tönte, dass die Flagge auf die Nazi-Kollaborateure zurückgehe und seine heutigen Gegner ebenfalls Neonazis seien und so weiter. 

In Belarus gab es schon 1996 erste Tendenzen Lukaschenkos, den Tag der Freiheit am 25. März, an dem 1918 die Belarussische Volksrepublik ausgerufen wurde und der auf national-oppositionelle Initiativen zurückgeht, durch den Tag der Unabhängigkeit am 3. Juli zu verdrängen, an dem die Befreiung von Minsk von der deutschen Besatzung begangen wird. In der Folge wurden Museen bis hin zu Geschichtsbüchern in einer Weise umgestaltet, die selbst russischen Hurra-Patrioten Sorgen bereitete. Denn manche belarussischen Schulbücher konzentrierten sich in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs weitgehend auf die Ereignisse in Belarus  –  also auf die sowjetische Besatzung von Westbelarus ganz zu Beginn, dann die deutsche Besatzung, die Partisanenbewegung, die Operation Bagration, während alles andere, etwa die Schlachten um Moskau und Stalingrad, die Belagerung von Leningrad, in den Hintergrund rückte. Und obwohl die Glorifizierung der Heldentaten im Zweiten Weltkrieg in dieselbe Richtung ging wie in Russland, entstand eine besondere, nationale Version.  

Es ist zwar eine Geschichte gemeinsamer Helden, der belarussischen Partisanen, die ja auch im russischen Pantheon vertreten sind, aber doch auch eine Abgrenzung vom russischen Narrativ. Das betrifft sogar die Symbolik. Das Georgsband hat sich in Belarus nicht durchgesetzt, dort hält der Staat dazu an, eine Apfelblüte auf einer rot-grünen Schleife auf dem Revers zu tragen. Ähnlich der Mohnblume, die in Großbritannien an die Opfer des Ersten Weltkriegs erinnert und mittlerweile auch das Gedenksymbol der Ukraine für ihre Opfer des Zweiten Weltkrieges ist.   

Trotz der gestiegenen Abhängigkeit vom Kreml versucht Lukaschenko diese seine nationale Variante der Erinnerungspolitik gegenüber dem sowjetischen Erbe weiterzuverfolgen.   

Zurück zur Ukraine: Was passierte dort seit Juschtschenko? 

Da muss ich an ein Video aus dem Jahr 2015 denken, in dem einem alten Offizier, gespielt von Wolodymyr Talaschko aus dem sowjetischen Kultfilm W boi idut odni stariki (dt.: Erfahrene Hasen des Geschwaders), von seinem Enkel, einem jungen Soldaten der ukrainischen Streitkräfte zum Tag des Sieges gratuliert wird. Der Opa setzt sich die Schirmmütze der sowjetischen Armee auf und sagt „Slawa Ukrajini“.

In dieser Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs findet die sowjetische Bildsprache mit dem ukrainischen Nationalbewusstsein nicht nur ein Auskommen, sondern unterstützt es sogar. Während früher die Verwendung solcher Bilder Teile der Bevölkerung vor den Kopf stieß und eher spaltend wirkte, verloren sie nach der Annexion der Krym und dem Kriegsbeginn im Donbas dieses Konfliktpotenzial.  

Wolodymyr Selensky setzte diese Linie fort, als er am „Tag des Sieges“ 2022 über den Kampf gegen Eroberer von außen sprach, gegen Faschisten und Raschisten

Sie leben und arbeiten in Bonn, forschen zur russischen Geschichtspolitik. Wie sehen Sie den Einfluss der russischen Aggression gegen die Ukraine darauf, wie man in Deutschland nun die Rolle Russlands im Kampf gegen den Faschismus wahrnimmt? Auch die Rolle der Ukraine, natürlich.   

Soweit ich das anhand meiner Gespräche mit Deutschen und anhand dessen, was ich in den Medien sehe, beurteilen kann, ist das Hauptproblem, dass Russland als einziger Rechtsnachfolger der Sowjetunion gilt: als wichtigster Erbe nicht nur, was Eigentum und den Sitz im UNO-Sicherheitsrat angeht, sondern auch, was die Nachkriegszeit und den Sieg über den Faschismus angeht. So wurde Russland der Löwenanteil der Aufmerksamkeit zuteil, bei allem, was den Krieg an der Ostfront betraf. Immer wieder wird Russland oder russisch synonym anstelle von Sowjetunion bzw. sowjetisch verwendet. 

Erst jetzt fängt das an, sich zu verändern. Auch andere Länder rücken in den Fokus, vor allem natürlich die Ukraine.  

Als ich dieses Jahr an einer Podiumsdiskussion zum historischen Gedenken im Museum Karlshorst teilnahm, hatte ich dort nicht den Eindruck, dass die deutschen Kollegen dazu geneigt wären, Russland durch die Ukraine zu ersetzen oder die Landkarte der Erinnerung abzuändern. Meinem Eindruck nach unterscheiden sie den heutigen Staat der Russischen Föderation, der einen Angriffskrieg führt, von der Sowjetunion als Befreier von Nazi-Deutschland. Und die Russen als jene Menschen, die heute dort leben, von den Russen als Nachkommen der Opfer des Faschismus. Das ist eine komplexe Angelegenheit mit feinen Nuancen.  

Trotzdem, ich sehe einfach keine grundsätzliche Möglichkeit, Russland vollends von dieser Erinnerungskarte zu tilgen. Offenbar bleibt uns nichts anderes übrig, als den Staat außen vor zu lassen und mit jenen Vertretern der russischen Gesellschaft zu interagieren, die zum Dialog bereit sind. Ich habe das Gefühl, in Europa besteht Bedarf an neuen Repräsentanten genau da, wo früher Abgeordnete des russischen Staates saßen: Vor nicht allzu langer Zeit ist ein Freund von mir als Memorial-Mitarbeiter zu einer Zeremonie nach Auschwitz gefahren, zu der früher ein russischer Diplomat eingeladen worden wäre, wo aber jetzt er die russische Zivilgesellschaft repräsentierte. Das ist alles ziemlich merkwürdig und noch recht neu.  

Den Anspruch auf eine eigene Stimme im Dialog über den Zweiten Weltkrieg können nun alle unabhängigen Länder erheben, die einst zur UdSSR gehörten, alle, die das wollen – die Ukraine, Belarus, Usbekistan, Kirgisistan, Kasachstan, Georgien, Armenien … Es hat einfach früher eines davon die meiste Aufmerksamkeit bekommen, das gleicht sich jetzt aus. 

Sie sprechen von einem Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft. Aber glauben Sie, dass die Russen, die gegen den Krieg sind, irgendeine andere Interpretation des Zweiten Weltkriegs entwickeln könnten, abseits der revanchistischen und expansionistischen Bestrebungen des Staates?  

Ich glaube, die Menschen, die oppositionell und regierungskritisch eingestellt sind, haben das alles immer schon differenzierter, komplexer und widersprüchlicher wahrgenommen. Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag. Aber natürlich hat der Krieg gegen die Ukraine das alles verschärft. Die Frage ist, ob eine komplexe Sicht auf den Krieg das ablösen kann, was der Staat heute als Begründung für den Kampf gegen den „kollektiven Westen“ durchsetzen will.   

Aber selbst wenn: Ich befürchte, dass es in der russischen Geschichte sehr viele Kriege gibt, die sich instrumentalisieren und als Teil eines jahrhundertelangen Widerstands abbilden ließen, in dem die Russen und die Sowjetbürger ziemliche Helden waren … Das ist ein Problem, da muss man was tun, ich glaube nicht, dass es darauf schon eine Antwort gibt.  

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Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

Als es der Roten Armee gelungen war, die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad einzukesseln, markierte dies einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der Schriftsteller und Korrespondent Wassili Grossman schrieb, dass die deutschen Soldaten und Offiziere in der schrecklichen Kriegssituation bei Stalingrad nicht nur die eigenen Kräfte, sondern auch die Staatspolitik, die Gesetze, die Verfassung, die Zukunft und die Vergangenheit des eigenen Volkes zunehmend in Frage stellten. 

Bei den sowjetischen Truppen sei genau das Gegenteil passiert: Der erste Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nach vielen Niederlagen hat die sowjetische Staatsführung gerechtfertigt. Die Frage aber, ob das Volk wegen oder trotz der Regierung siegte, blieb offen. Der Sieg bei Stalingrad bestimmte, so Grossman, den Ausgang des Kriegs, „aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat ging weiter“.1 

Und dieser Streit ist noch immer nicht zu Ende. Das einst „siegreiche Volk“ streitet nun aber nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit sich selbst und mit den späteren Generationen, die den Krieg nur in seiner medialen Gestalt wahrnehmen und beurteilen können. 

Im heutigen Russland gibt es kein homogenes „kollektives Gedächtnis“ an den Krieg, sondern mehrere mit-, neben-, und gegeneinander existierende und agierende Bilder der Kriegserinnerung. Die Verflechtung des politischen und individuellen Gedächtnisses ist das Spezifikum russischer Erinnerungskultur, zu welcher sowohl Siegesstolz als auch Trauer gehören.

Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain

Einen Konsens gibt es nicht einmal bei der Frage nach den Kriegsopferzahlen. Seit dem Kriegsende gehört die Arithmetik der Verluste zum Gegenstand der aktiven offiziellen Geschichtspolitik. Stalin wies sieben, später zehn Millionen aus – das Land durfte keine größeren Menschenverluste als die Kriegsgegner erlitten haben. „Der Preis des Sieges“ stieg auf 20 Millionen in den späten 1950ern, auf 27 Millionen in den 1980ern, bis im Februar 2017 der Duma-Abgeordnete Nikolaj Semzow mit Verweis auf geheime Daten der staatlichen Plankommission der UdSSR eine weitere Zahl verkündete: 42 Millionen.2
 
Allein die Zahl von 27 Millionen, die in der Geschichtswissenschaft verankert ist, zeugt von der unvergleichlichen Dimension der Leid- und Opfererfahrung in den Ländern, die von Krieg und deutscher Besatzung betroffen waren. Der Krieg hat tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlassen: Es gibt kaum eine Familie im heutigen Russland und auch in der Ukraine, Belarus und anderen postsowjetischen Ländern, die vom Krieg unberührt geblieben ist. 
Die gesellschaftliche Verankerung des Themas auf der einen Seite und die übergeordnete Bedeutung der Kriegserinnerung für den Staat auf der anderen Seite bedingten die Entstehung einer vielschichtigen und dynamischen Erinnerungskultur.

Unheroischer Krieg

Auf der Ebene der privaten, familiären, alltäglichen Erinnerung war das Bedürfnis, der Trauer Raum zu geben, von Anfang an da. So entstand seit dem Kriegsende in jeder sowjetischen Stadt und in jedem Dorf an einer prominenten Stelle ein Denkmal, um den nicht zurückgekehrten Soldaten zu gedenken. Schlichte Obelisken oder Granitstelen waren oft anonyme Stätten privater Trauerarbeit. 
Ab den späten 1960er Jahren wurden Ehrenmale des Unbekannten Soldaten und Anlagen mit ewigem Feuer angelegt, das Gedenken an diesen Orten wurde offizieller und staatstragender. Zugleich haben diese Orte ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Trauerarbeit nicht verloren. 
Auch in der sowjetischen Zeit war der unheroische Krieg vor allem durch den künstlerischen Diskurs wahrnehmbar, durch Literatur, Film und Musik. Der Film Die Kraniche ziehen von Michail Kalatosow zeigte, dass nicht alle Frauen auf ihre Geliebten warteten, und dass ein Rotarmist auch fallen kann, ohne vorher eine Heldentat zu vollbringen. 
Der Protagonist der Erzählungen von Bulat Okudshawa will im Krieg nur überleben.3 Wassil Bykau schilderte in seinen Erzählungen den Krieg als eine existenzielle Erfahrung, in der es keine Sieger geben kann.4 Ales Adamowitsch beschrieb in seinen Novellen die Gewalt der deutschen Besatzer auf den okkupierten Gebieten5 und zusammen mit Daniil Granin im Blockadebuch6 – die unvorstellbare Opfererfahrung und das Hungersterben in Leningrad.
 
In den frühen 1990er Jahren dominierte das Bild des schrecklichen Krieges in öffentlichen Präsentationen: Zum Thema wurden die verheerenden Niederlagen der ersten Kriegsmonate, die doppelte Opfererfahrung sowjetischer Kriegsgefangener, die Not der Veteranen. Der 22. Juni, Tag des deutschen Überfalls 1941, ist seit 1996 ein staatlich anerkannter „Tag des Gedenkens und der Trauer“. An den Kriegsdenkmälern und auf den Ehrenfriedhöfen finden Gedenkzeremonien statt, die Staatsfahnen werden gesenkt und die Staatssender zeigen keine Unterhaltungssendungen.
Nicht der Sieg, sondern der „Preis des Sieges“ schien für eine kurze Zeit im Zentrum der offiziellen Erinnerungspolitik zu stehen. Auch wenn die schreckliche Erfahrung des Krieges als Diskurs an seiner dominierenden Position inzwischen stark einbüßte, existiert diese Perspektive auf den Krieg auch heute im liberalen Diskurs.7 

Staatliche Heroisierung

Der ideologische Bezug auf den Großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetzeit lässt sich mit dem Begriff des Massenheroismus zusammenfassen. Seit der Oktoberrevolution 1917 war der Heldenkult ein fester Bestandteil der sowjetischen Ideologie. In der zukunftsgerichteteten sozialistischen Weltanschauung hatte das Trauern um Opfer „historischer Prozesse“ – Revolutionen, Kriege, politische Säuberungen – keinen Platz. Die Helden, die zu ehren waren, mussten im Krieg ihr Leben opfern, besonders heldenhaft für das Vaterland sterben, wie etwa der Rotarmist Alexander Matrossow, der sich auf eine Schießscharte warf, oder die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die auch unter der Folter ihre Mitkämpfer nicht verriet und hingerichtet wurde. 
Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider. Für den siegreichen Kampf stehen zum Beispiel die 85 Meter große Skulptur Mutter Heimat auf dem Mamaj-Hügel in Wolgograd (1967) und das 48 Meter große Monument Den heroischen Verteidigern Leningrads in St. Petersburg (1974–75).

In der postsowjetischen Zeit fand der heroisierende Diskurs vor allem in der Moskauer Denkmalanlage Park des Sieges (1995) seine monumentale Form. Im Zentrum steht hier eine 141,8 Meter hohe Stele – zur Erinnerung an die 1418 Kriegstage – an ihrer Spitze schwebt die Siegesgöttin Nike und an ihrem Fuß bekämpft der Heilige Georg den Drachen. Zahlreiche Namen der Helden der Sowjetunion sind an den Wänden im Gedenkraum des Museums eingraviert. 
Im heutigen offiziellen Gebot zu erinnern spielt der Aufruf, den gefallenen Helden würdig zu sein, nach wie vor eine große Rolle. In der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die selektiv auf die stolzen Kapitel der „tausendjährigen Geschichte“ zurückgreift, ist es der militärische Ruhm. Das heroische Pathos ist die gegenwärtige Tonlage, in der die offiziellen Medien und die Regierung über den Krieg sprechen. 

Emotionalisierung und Kommerzialisierung

Die heutige Entwicklung der Kriegserinnerungskultur zeichnet sich zum einen durch Emotionalisierung, zum anderen durch Kommerzialisierung der Erinnerung aus. Durch überzeichnete Emotionalisierung und Effekthascherei verliert der Krieg – wie er etwa im Film (Stalingrad, 2013) oder im historischen Reenactment (nachgestellte Szenen der Einnahme Berlins) dargestellt wird – an Faktizität und Authentizität. Die präsentierten Inhalte werden zunehmend mythen-gesättigter wiedergegeben, das Kriegsgeschehen wird immer stärker zum Mythos.  
 
Gerade weil die Kriegserinnerung auf der privaten Ebene eine sehr wichtige Rolle spielt, wird sie zunehmend als Kontext für kommerzielle Projekte genutzt. Filmproduzenten, Museumsmacher und Event-Veranstalter knüpfen daran an – in der Gewissheit, dass das Kriegsthema Aufmerksamkeit findet und sich gut verkaufen lässt. So beispielsweise im bislang teuersten russischen Film Stalingrad (Fjodor Bondartschuk), der komplett in 3D gedreht wurde, in dem die Straßen- und Häuserkampfszenen im Herbst 1942 wie ein effektvoller Blockbuster inszeniert wurden und der einer Computerspiel-Ästhetik ähnelt.

Privates Gedenken im öffentlichen Raum

Aus dem Bedürfnis der Gesellschaft heraus, eigenständige Formen und Praktiken der Erinnerung zu entwickeln, entstand 2012 in der sibirischen Großstadt Tomsk die Aktion Das Unsterbliche Regiment.8 Bei dieser Aktion tragen Menschen über Straßen und Plätze Porträts ihrer Verwandten, die am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben.9 
Diese Präsenz des privaten Gedenkens im öffentlichen Raum ist das tatsächlich Neue an den Feiern des Kriegsendes. 
Viele Russen teilten in den letzten Jahren Kurzberichte über die Kriegswege ihrer Großeltern in sozialen Netzwerken, viele davon – unzensierte Familiengeschichten, also Erzählungen „jenseits“ des tradierten, heroischen Narrativs. 
Es geht nun nicht mehr darum, ein Zeichen der Zugehörigkeit zur „Wir-Gemeinschaft“ der Erinnernden zu setzen, sondern um die Stärkung der Kommunikation von privaten, familienbezogenen Erinnerungen an den Krieg.

Diese neue Form des Gedenkens wird von der staatlichen Seite in letzter Zeit verstärkt auch als Mobilisierungressource genutzt.10 Sie existiert gleichzeitig mit den großen Inszenierungen, die auf Stabilitätssicherung und Patriotismus-Stiftung ausgerichtet sind. Während der Feierlichkeiten rund um den Tag des Sieges am 9. Mai selbst agiert die Gesellschaft manchmal mit, oft aber auch neben oder gegen die staatlichen Deutungsvorschriften. Nicht immer sind Interessen des Staates und der Gesellschaft hinsichtlich der Form des Gedenkens deckungsgleich – und der Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat geht weiter.


1.Grossman, V. (1984): Leben und Schicksal, München, S. 686
2.Novaya Gazeta: Pobeda pred“avljaet sčet
3.vgl. die Erzählung Bud’ zdorov, školjar (1961) von Bulat Okudžava, in der es um Erfahrung eines jungen Soldaten geht.
4vvgl. die Erzählung Sotnikov (1971) von Vassil Bykov.
5.vgl. die Erzählungen Chatynskaja povest’ (1971) und Ja iz ognennoj derevni (1977) von Ales Adamowitsch
6.Ales Adamowitsch arbeitete zusammen mit Daniil Granin am Blockadebuch in den späten 1970er Jahren. Das Buch, das Interviews mit Blockadeüberlebenden beinhaltet, wurde 1984 veröffentlicht.
7.So im Projekt Cena pobedy (dt. Der Preis des Sieges) auf dem Radiosender Echo Moskvy und in der Zeitschrift Diletant. Siehe z. B. den Beitrag Soldatskaja pamjat’ o vojne vom 14.5.2017.
8.Die Formen der sozialen Gedenkpraxis „von unten“ wurden im Projekt „Sieg—Befreiung—Besatzung: Kriegsdenkmäler und Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im postsozialistischen Europa“ untersucht, das von der Autorin zusammen mit Mischa Gabowitsch und Cordula Gdaniec geleitet wurde. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in einem vor kurzem erschienenen Sammelband dokumentiert: Gabowitsch, M., Gdaniec, C., Makhotina, E. (Hrsg.) (2017): Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai im postsozialistischen Europa, Paderborn
9.Eine lokale, gesellschaftliche Initiative, ins Leben gerufen von Journalisten der nichtstaatlichen Tomsker Mediengruppe. Webseite des Archivs mit Familiengeschichten
10.Wie schon so oft in der Geschichte, erkannte die politische Führung schnell die symbolische Wirkungsmacht dieser neuen Erinnerungsform. Zugleich brachte die Popularität des individualisierten Gedenkens auch in die staatliche Erinnerung einen neuen Inhalt ein. Aufschlussreich ist die Teilnahme Putins an der Aktion Das Unsterbliche Regiment, und noch mehr – die Veröffentlichung seiner „Erinnerungen“ an die Kriegserzählungen der Eltern in der Zeitschrift Russki Pionier. Ein Effekt davon ist die „emotionale Aktualisierung“ der Geschichte. Dadurch versucht der Staat, das Gedenken anschlussfähig zu halten.
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