Dreieinhalb Jahre verschärfte Lagerhaft – auf den ersten Blick scheint das Urteil für Juri Dmitrijew vergleichsweise milde, schließlich hatte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre gefordert. Da er bereits über drei Jahre in der Untersuchungshaftanstalt verbracht hat, wird der Historiker voraussichtlich schon im November freigelassen. Dmitrijew wurde des sexuellen Missbrauchs an seiner Pflegetochter für schuldig befunden – nachdem er 2018 bereits von der Herstellung von Pornographie freigesprochen worden war.
Zahlreiche internationale Intellektuelle, Wissenschaftler und Menschenrechtler halten die Vorwürfe gegen Dmitrijew für politisch motiviert. In jahrzehntelanger Arbeit hatte er nach Opfern des Großen Terrors in Karelien gesucht, Gräber entdeckt, Namen recherchiert und darüber auch Bücher verfasst. Den Prozess verstehen viele als Versuch, ihn mundtot zu machen. Irina Galkowa etwa, Leiterin des Memorial-Museums in Moskau, wirft dem Gericht vor, entlastende Zeugenaussagen nicht zuzulassen und Experten zu beschäftigen, die „bestellte” Gutachten erstellten.
In seinem Schlusswort vor Gericht am vergangenen Montag, 20. Juli 2020, zeigte sich Juri Dmitrijew unerschrocken – dekoder bringt daraus einen Ausschnitt:
Quelle
Wertes Gericht!
Nun trete ich schon zum zweiten Mal in diesem endlosen Prozess mit einem Schlusswort auf. Und würde gern meine Position – wenn sie dem Gericht noch nicht klar ist – dazu deutlich machen, warum ich der bin, der ich bin, warum ich mich so verhalte und wie ich in diesen Käfig geraten bin.
[....] Derzeit gibt es bei uns den Trend … das ist doch im Trend, oder? … über Patriotismus zu sprechen. Doch ich bitte Sie – Patriotismus ist nicht das Sprechen darüber. Wer ist ein Patriot? Ein Patriot ist ein Mensch, der sein Heimatland liebt. Bei uns ist es merkwürdigerweise derzeit so, dass man nur auf die militärischen Erfolge stolz ist. Entschuldigung, die Heimat ist doch eine Mutter. Und es kommt vor, dass Mama krank ist, dass sie irgendetwas nicht schafft. Und hören wir in solchen Zeiten auf, sie zu lieben? Nein. Und ich weiß nicht, ob glücklicher- oder unglücklicherweise: Mein Weg hat mich dahin geführt, dass ich Menschen aus dem Vergessen zurückgeholt habe, die verschwunden waren. Menschen, die durch Schuld unseres eigenen Staates zu Unrecht bezichtigt, erschossen, in Wäldern verscharrt wurden, wie streunende Tiere. Kein Hügel, kein Hinweis, dass hier Menschen begraben sind.
Vielleicht hat Gott mir dieses Kreuz auferlegt, doch Gott gab mir auch das Wissen. Und so gelingt es mir – nicht oft, aber manchmal – Orte zu finden, an denen es menschliche Massentragödien gab. Ich verknüpfe sie mit Namen und versuche an diesem Ort einen Ort der Erinnerung zu schaffen, denn Erinnerung ist das, was den Menschen zum Menschen macht.
Zum „Kriegspatriotismus“ möchte ich folgendes sagen. Mein Vater war an der Front, wir begingen den 9. Mai lange, bevor er ein offizieller Feiertag wurde.
Meine Mutter hatte sechs Schwestern. All deren Männer waren an der Front gewesen. Am wenigsten wurde am Tisch aber über die Siege gesprochen. Denn für sie war der Krieg Tragödie und Schmerz. Und Flaggen gab es keine einzige. Der Sieg – das ist vor allem Trauer und Erinnerung an die Menschen, die umkamen.
Ich bin vollkommen einverstanden, wenn unser Staat sagt, wir müssen der im Krieg Gefallenen gedenken, denn das ist ein Teil unserer Erinnerung. Doch es muss auch der Menschen gedacht werden, die aus Bosheit unserer Staatsführer umgekommen sind. Das ist für mich Patriotismus. Das habe ich auch [meiner Adoptivtochter] beigebracht, das wissen auch meine [leiblichen] Kinder Jegor und Katja, das wissen auch meine Enkel, das wissen die Schüler und Studenten, mit denen ich gearbeitet habe, das wissen wahrscheinlich alle zivilisierten Menschen.
Deswegen, Euer Ehren, glaube ich, dass dieser Fall, der nun schon sehr sehr lange, dreieinhalb Jahre, untersucht und geprüft wird, dass dieses Verfahren einerseits speziell dafür eingeleitet wurde, um meinen ehrlichen Namen in Verruf zu bringen, und andererseits, um einen Schatten auf die Gräber und Friedhöfe der Opfer der Stalinschen Verfolgungen zu werfen, die ich aufgespürt habe, und zu denen die Menschen nun hinströmen. Mit welchem Ziel wurde dieses Verfahren eingeleitet? Ich jedenfalls weiß es nicht. Um das Erinnern zu beenden? Das wird so nicht gelingen. Mir unmöglich zu machen, daran mitzuwirken? Ich habe schon seit drei Jahren nicht mehr daran mitgewirkt – und trotzdem erlischt es nicht.
Deswegen bitte ich Sie, Euer Ehren, wenn Sie sich zur Beratung zurückziehen, sehen Sie sich alles nochmals genau an, prüfen Sie. Die schlimmen Dinge, die hier in Stapeln von Akten beschrieben wurden, habe ich nicht getan. Ich habe versucht, ein Kind zu einer ehrenwerten Bürgerin großzuziehen und, ich scheue mich nicht zu sagen, zu einer Patriotin unseres Landes. Ich habe alles dafür getan.
Das ist dann wohl alles, was ich sagen möchte. Danke.
Juri Dmitrijew hatte über Jahrzehnte die Zeit des Großen Terrors rekonstruiert, den Toten anonymer Massengräber Namen und ein würdiges Begräbnis gegeben. Nun wurde seine Lagerhaft von 13 auf 15 Jahre verlängert. Schura Burtin ist Dmitrijew in die dunkle Vergangenheit Russlands gefolgt und hat sich ein Bild ob der heftigen Anschuldigungen gemacht. Ein dekoder-Longread. (Archiv-Text)
Juri Dmitrijew wurde freigelassen, nach mehr als einem Jahr Untersuchungshaft. Dem Memorial-Mitarbeiter, der den Terror der Stalin-Zeit aufarbeitet, wird seit Juni vergangenen Jahres ein zweifelhafter Prozess gemacht. Anna Jarowaja traf ihn nun zuhause.
Mehr als 7000 Erschossene des Großen Terrors 1937/38 liegen in Sandarmoch verborgen. In dem einst namenlosen Waldgebiet in Karelien treffen sich alljährlich am 5. August Menschen, um den Opfern des Stalin-Regimes zu gedenken. Auf Takie Dela kommen sie zu Wort.
Die Erinnerung an den Großen Terror der Stalinzeit war lange ein Tabu. Nun sind es die Enkel der Opfer, aber auch der Täter, die Fragen stellen. „Der Verantwortung kann man sich nicht entziehen“, meint der junge Erfolgsautor Sergej Lebedew. Realnoe Vremya hat mit ihm zum Gedenktag an die Opfer des Stalinismus gesprochen.
Zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1937 wurden in einem verborgenen Waldgebiet in Karelien 1111 Menschen aus dem Solowezki-Gefängnis erschossen. Die Erschießung unterlag strengster Geheimhaltung. Bis zur Perestroika kursierten Gerüchte, der Lastkahn mit den Gefangenen sei im Weißen Meer versenkt worden. Für die Angehörigen verschwanden sie spurlos. Nicht einmal über die Tatsache ihres Todes herrschte Gewissheit. Auch wenn die Wahrheit über die Todesursachen seit Ende der 1980er Jahre kleckerweise an die Öffentlichkeit gelangte, blieb der Erschießungsort bis in die späten 1990er Jahre unbekannt.
Erst 1997 wurde auf einer Expedition, bei der der Lokalhistoriker Juri Dmitrijew eine entscheidende Rolle spielte, in einem karelischen Nadelwald eine Vielzahl von Massengräbern gefunden. In diesen waren außer den Solowezki-Gefangenen auch mehrere tausend weitere Hingerichtete verscharrt.1 Der namenlose Ort im Wald bekam damals auch einen Namen: Sandarmoch.
Die Erschießungsorte und Friedhöfe des NKWD unterlagen der strikten Geheimhaltung. Bis heute sind noch nicht alle Spezobjekty (dt. „Spezialobjekte“) – wie es in der NKWD-Sprache heißt – entdeckt. Erst die Öffnung der KGB-Archive ermöglichte es zivilgesellschaftlichen Akteuren, und vor allem der Menschenrechtsorganisation Memorial, einige zu finden: Butowo und Kommunarka bei Moskau sowie Lewaschowobei Sankt Petersburg. Die Suche nach Sandarmoch aber dauerte länger und war viel aufwändiger.
Tatort Sandarmoch
Sie begann mit der Recherche nach einem zunächst unbekannten Ort, an dem die Häftlinge aus dem Solowezki-Gefängnis begraben worden waren. Laut KGB-Dokumenten sind sie 1937 auf Anweisung der LeningraderTroikairgendwo in den karelischen Wäldern hingerichtet worden. Hinweise zum Tatort hat in den NKWD-Akten ein Täter hinterlassen, der später selbst zum Opfer wurde: Michail Matwejew, Leningrader Hauptmann der regionalen NKWD-Abteilung, führte die Erschießungen mit seinen Assistenten durch. Eineinhalb Jahre später wurde er festgenommen und wegen Amtsmissbrauchs zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihm wurden sadistische Prügel vorgeworfen, die den Hinrichtungen vorausgegangen waren.2 In einem Verhörprotokoll hatte er den Transport der Häftlinge in das Lagergefängnis am Weißmeer-Ostsee-Kanal in Medweshjegorsk vermerkt. Näher als „16 Kilometer von Medweshjegorsk“ dürfe der Exekutionsort nicht liegen, sonst könne jemand die Schüsse hören oder das Licht des Feuers sehen, so Matwejew.
60 Jahre später, in den 1990er Jahren, führte der Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew, dem die Entdeckung einiger Friedhöfe und Hinrichtungsorte zu verdanken ist, eine Expedition in einen der Kiefernwälder zwischen Medweshjegorsk und Powenez. Am 1. Juli 1997 stieß er mit seinen Mitstreitern von Memorial Sankt Petersburg auf 150 Erdmulden mit menschlichen Überresten.3 Alle Opfer in den vier mal vier Meter großen Mulden hatten identische Einschusslöcher im Nackenbereich des Schädels. Außer den Häftlingen aus Solowki sind in Sandarmoch insgesamt mehr als 7000 Menschen erschossen und verscharrt worden.
Opfer von Sandarmoch
Unter den 1111 Solowezki-Gefangenen befand sich die geistliche, kulturelle, wissenschaftliche und diplomatische Elite der Sowjetunion. Ihre Namen sind bekannt: Viele von ihnen waren adeliger Herkunft – unter ihnen der renommierte Anwalt Alexander Bobrischew-Puschkin, der herausragende Linguist Nikolaj Durnowo, der Historiker Matwej Jaworski, der Theaterregisseur Les Kurbas, die Erzbischöfe von Samara, Tambow, Kursk und Woronesh. Seit 1933/34 wurde ihnen wegen sogenannter „terroristischer Tätigkeit“, „Spionage“ oder im Zusammenhang mit der „Kirow-Affäre“ der Prozess gemacht. Nach dem Transport in die sogenannte Untersuchungshaft des BelBaltLags nahe Medweshjegorsk wurden sie mit LKW an die Vernichtungsstätte Sandarmoch gebracht.
Noch nicht alle Opfer des Großen Terrors in Karelien können benannt werden.4 Die Mehrheit von ihnen steht in direkter Verbindung mit dem BelBaltLag – dem ersten Zwangsarbeiterlager der Sowjetunion mit Zentrum in Medweshjegorsk: Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals versuchte sich die sowjetische Geheimpolizei als Wirtschaftsunternehmen, indem sie zur Durchführung dieses gewaltigen Infrastrukturprojektes Häftlinge zur Zwangsarbeit heranzog. Der 227 Kilometer lange Kanal ließ sich dadurch innerhalb kürzester Zeit und ohne Belastung für den Staatshaushalt errichten. Hier, in einem exemplarischen Bauprojekt der Industrialisierung, das zwischen 1931 und 1933 entstand, sollten „Klassenfeinde“ zu „neuen Menschen“ „umgeschmiedet“ werden.
Nach der Fertigstellung des Weißmeer-Ostsee-Kanals blieben viele aus der Haft entlassenen Kanalbauarbeiter als freiwillige Arbeitskräfte weiter hier wohnen und wurden von der OGPU-NKWD im BelBaltKombinat beschäftigt. Dieses 1934 entstandene Industrieunternehmen hatte das Ziel, sowohl „großtechnologische Kraftstationen zu entwickeln, als auch sozialistische Städte aufzubauen“5. Die fehlenden Arbeitsressourcen wollte man mit der Zwangsumsiedlung von Bauern aus der ganzen Sowjetunion ausgleichen. So waren es – außer ehemaligen Kanalbauarbeitern – enteignete und umgesiedelte Bauern und „rote Finnen“, die das Gebiet des BelBaltLags am Vorabend des Großen Terrors besiedelten. Letztere, der Spionage angeklagt, und die als Kulaken verfemten Bauern sollten „auf unbarmherzige Art und Weise zerschlagen werden“.6 Obwohl die meisten Erschießungen in Sandarmoch zwischen August 1937 und November 1938 stattfanden, war es bereits seit 1934 eine Hinrichtungsstätte der OGPU-NKWD: Hier fanden Exekutionen von Häftlingen des BelBaltLags statt.7
Geschichte der Erschießung
Die Säuberung von „antisowjetischen Elementen“ begann mit dem geheimen operativen Befehl Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, der das „Fließband des Todes“ in Gang setzte und als Auftakt des Großen Terrors gilt. In diesem Befehl wurde die Zahl der Menschen für jede Region festgelegt, die den Repressionen „unterlagen“: insgesamt eine viertelmillion Menschen, darunter 1000 Menschen in Karelien. Die Zahl der tatsächlich Repressierten ist deutlich höher: Allein in Karelien verurteilte die Troika des NKWD 4000 Angehörige „verdächtiger“ Nationalität und 7000 „Konterrevolutionäre“ zum Tode. Für die Angehörigen verschwanden die festgenommenen Menschen spurlos. Der Satz „zehn Jahre Freiheitsentzug ohne Recht auf Briefwechsel“ war eine Vorahnung des Schrecklichen und eine Hoffnung zugleich. Über das Leben und den Tod sollte Schweigen herrschen. Erst in den späten 1950er Jahren, im Tauwetter und mit der Rehabilitierungskampagne unter Nikita Chruschtschow, wurde auf Anfrage der Angehörigen der Tod bestätigt. Die Wahrheit über die Todesursache, Datum und Ort der Beisetzung durfte erst dreißig Jahre später veröffentlicht werden.
Friedhof Sandarmoch
Die Gewissheit um den Tod der Angehörigen entwickelte sich zur Forderung nach einem Ort der privaten Trauerarbeit. Zivilgesellschaftliche Initiativen machten den Wunsch tausender Familien öffentlich: Die Topografie des Terrors sollte zur Topografie der Friedhöfe werden. Die Entdeckung von Sandarmoch sorgte für Aufruhr in der Region. Viele hofften, damit endlich einen Ort zu finden, um eine Grabstätte einzurichten. Insgesamt wurden auf einer Fläche von etwa siebeneinhalb Hektar 236 Massengräber entdeckt.8 Juri Dmitrijew wünschte sich damals, dass dem Friedhof Sandarmoch im heutigen Russland die gleiche symbolische Bedeutung zukommen sollte wie der Gedenkstätte Buchenwald in Deutschland.9 Weniger als ein halbes Jahr haben die Aktivisten für die Ausgestaltung der Gedenkstätte gebraucht. Ihre Arbeit wurde aus dem Haushalt der Republik Karelien finanziert. Die heutige Gedenkstätte Sandarmoch besteht immer noch aus den Elementen, die im Oktober 1997 entstanden: 236 Holzpfähle, die die Gräber markieren, eine Kapelle und der Solowezki-Gedenkstein – in Erinnerung an die Hingerichteten aus Solowki10. Ein Jahr später entstand das Mahnmal Erschießung mit Engel. Dieses ist für den Kontext der gegenwärtigen Erinnerungskultur in Russland aufschlussreich: Ein Engel, der mit gebundenen Händen in ein Grab fällt, ist ein Symbol des passiven, unschuldigen Opfers par exellence. Die Inschrift auf dem Stein lautet: „Menschen, tötet einander nicht“. Nach den Tätern wird nicht gefragt: Das Böse wird verallgemeinert. Mit wenigen Ausnahmen bleiben die Strukturen und Mechanismen des stalinschen Terrors in der Erinnerungskultur generell abstrakt, anonym und verschleiert.
Ort der lebendigen Erinnerung
Für einen westlichen Betrachter ist Sandarmoch kein Ort der negativen Identitätsstiftung durch „Pflicht zum Gedenken“. Sandarmoch ist vor allem ein Friedhof, auf den Angehörige der Hingerichteten kommen, um zu trauern. Dabei wissen die meisten nicht einmal genau, ob ihre Verwandten tatsächlich hier verscharrt wurden.11 Das „imaginierte Grab“ ist mindestens genauso wichtig wie das genaue Wissen. Die „Kinder von 1937“, wie die Kinder von verschwundenen oder verurteilten Menschen genannt werden, personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten. An den hölzernen Kreuzen oder an den Bäumen werden Fotografien, Plastikblumen, Schilder mit Namen und Lebensdaten befestigt. Zuweilen hat man den Eindruck, man sei auf einem Friedhof, auf dem noch Beisetzungen stattfinden. Sandarmoch ist ein Ort der lebendigen Erinnerung und Trauer. Unter den vielen anderen Gedenkstätten zeichnet sich Sandarmoch durch die hohe Internationalität der Opfer heraus. Am symbolischen Feld des Gedenkens befinden sich Denkmale für Finnen, Polen, Litauer, Esten, Ukrainer, Tataren und andere. Hier findet auch die jährliche Gedenkzeremonie statt, der Internationale Tag des Gedenkens: Am 5. August wird Sandarmoch zum Ort einer transnationalen Erinnerung an die Opfer des Stalinismus.
Seit mehr als 20 Jahren ist das Bestehen der Gedenkstätte vom good will der örtlichen Verwaltung abhängig. Außer dem Mahnmal Erschießung mit Engel unterliegen weder andere Gestaltungselemente noch die Gedenkstätte selbst dem staatlichen Denkmalschutz. Für die Regierung Kareliens ist Sandarmoch – bislang – von großer Bedeutung: Die breite internationale Präsenz beim jährlichen Tag des Gedenkens am 5. August und die anhaltende mediale Aufmerksamkeit für diesen Ort erfordern von Seiten der lokalen Verwaltung administrative und finanzielle Investitionen. Doch weder der russische Präsident noch andere hochrangige Politiker Russlands oder anderer Länder haben Sandarmoch jemals offiziell besucht.
Die „zweite Wahrheit“ von Sandarmoch
Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch: Die Finnen haben Tausende unserer Soldaten zu Tode gequält. Mit diesem Titel wurde im August 2016 eine Sendung des TV Swesda ausgestrahlt. Seitdem ist die These im Raum, es handele sich nicht oder nicht nur um stalinsche Repressionen, sondern um Taten der finnischen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal wurde dies vom Petrosawodsker Historiker Juri Kilin als Annahme formuliert, sie wird seitdem immer wieder aufgegriffen.
Die Annahme beruht auf folgender Logik: Während der Okkupation des sowjetischen Karelien durch Finnland waren insgesamt circa 64.000 Rotarmisten in finnischer Gefangenschaft. Mehr als 20.000 Menschen sind dabei am Elend der Haft gestorben oder wurden exekutiert. Die Finnen haben nachweislich die Lagerinfrastruktur des Gulag genutzt. Über die Massengräber ist wenig bekannt. Vielleicht haben sie auch Sandarmoch – den Erschießungsort vom NKWD – benutzt? Die Hypothese von Juri Kilin lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Medialen Platz hat sie aber bereits gefunden: „Nach ungefähren Angaben ruhen in Sandarmoch circa 22.000 Soldaten der Roten Armee“, so die Sendung auf TV Swesda.
Die Relativierung dieses „schwarzen Herzens des Gulag“ ging der Verhaftung des Entdeckers von Sandarmoch voraus: Juri Dmitrijew wurde die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen. Dem Freispruch vom April 2018 folgte bald eine neue aber nicht weniger fragwürdige Ermittlung, diesmal wegen angeblichen Missbrauchs seiner Ziehtochter. Ob das zeitliche Zusammenfallen der Berichterstattung über „die zweite Wahrheit von Sandarmoch“ und die Verhaftung seines Entdeckers zusammenhängen, ist unklar. Beide tragen aber dazu bei, die Täterschaft zu verschleiern und den Stalinschen Terror zu relativieren.
1.Die Zahlen der Opfer ist in der Forschung umstritten: Während Dmitriev von circa 9000 Exekutierten spricht, nennt Ivan Čuchin die Zahl 6067, vgl.: Čuchin, Ivan/Dmitriev, Jurij (2002): Pominal’nye spiski Karelii: 1937-1938: Uničtožennaja Karelija: Čast’2: Bol’šoj Terror, Petrozavodsk. Die Inschrift auf dem Gedenkstein in Sandarmoch weist auf 7000 Exekutierte hin. ↑
3.zum Verlauf der Suchaktion siehe: polit.ru: Bol’šoj terror v Sandormoche, später wurden weitere Gräber gefunden, sodass sich die Gesamtzahl auf 236 beläuft. ↑
4.6067 Namen hat Jurij Dmitriev identifiziert: Dmitriev, Jurij (1999): Mesto rasstrela Sandarmoch, Petrozavodsk ↑
5.Baron, Nick (2002): Production and Terror: The operation of the Karelian Gulag, 1933 – 1939, in: Cahiers du monde russe, 43/1, S. 139-181 und S. 141 ↑
6.sh. Čuchin, Ivan (1999): Karelija-37: Ideologija i praktika terrore, Petrozavodsk, S. 17 ↑
7.sh. Eintrag „Sandormoch” im Verzeichnis des virtuellen Gulag-Museums↑
Juri Dmitrijew hatte über Jahrzehnte die Zeit des Großen Terrors rekonstruiert, den Toten anonymer Massengräber Namen und ein würdiges Begräbnis gegeben. Nun wurde seine Lagerhaft von 13 auf 15 Jahre verlängert. Schura Burtin ist Dmitrijew in die dunkle Vergangenheit Russlands gefolgt und hat sich ein Bild ob der heftigen Anschuldigungen gemacht. Ein dekoder-Longread. (Archiv-Text)
Der 22. Juni 1941 ist der Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Daniil Granin ist damals als Freiwilliger in den Krieg gezogen. Im Interview reflektiert der Schriftsteller nochmal das Vergangene – und hinterfragt dabei die offizielle Erinnerungskultur.
Die Erinnerung an den Großen Terror der Stalinzeit war lange ein Tabu. Nun sind es die Enkel der Opfer, aber auch der Täter, die Fragen stellen. „Der Verantwortung kann man sich nicht entziehen“, meint der junge Erfolgsautor Sergej Lebedew. Realnoe Vremya hat mit ihm zum Gedenktag an die Opfer des Stalinismus gesprochen.
Ein Enkel will genau wissen: Wer hat im Großen Terror unter Stalin 1938 meinen Urgroßvater erschossen? Nun ist eine erregte, öffentliche Debatte entbrannt, als Denis Karagodin nach langer Suche dem Töten konkrete Namen gab – und der Gewalt ein Gesicht. Sergej Medwedew fragt sich auf Republic: Was ist daran so brisant? (Archiv-Text)
Der Tod Stalins am 5. März 1953 löste im ganzen Land Bestürzung aus. Niemand wusste, was der Tod des Diktators bedeuten würde. Fabian Thunemann zeichnet die Ereignisse vom März 1953 nach.
Der Name Genrich Jagoda ist untrennbar mit den stalinistischen Repressionen, dem Aufbau des Straflagersystems Gulag, der Organisation der ersten sowjetischen Schauprozesse und dem sowjetischen Innenministerium NKWDverbunden, das er von 1934 bis 1936 leitete.
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