Sergej Tichanowski sitzt vor zahlreichen Mikrofonen. Immer wieder redet er sich in Rage, zeigt sich kämpferisch, dann bricht er wieder in Tränen aus. Fünf Jahre Haft haben den bekannten Oppositionspolitiker, der Ende Mai 2020 im Vorfeld der damaligen Präsidentschaftswahlen verhaftet und später zu 18 Jahren Haft verurteilt worden war, deutlich gezeichnet. Der hochgewachsene Mann ist auf 79 Kilogramm abgemagert. Seine Tochter habe ihn nicht erkannt, schluchzt er. Seine Frau sitzt neben ihm und ergreift das Wort: „Das ist dein Papa, mussten wir ihr erklären.“
Seit vergangenem Samstag, dem 21. Juni 2025, ist Tichanowski frei. Nach einem Besuch des US-Sonderbeauftragten für die Ukraine und Russland, Keith Kellogg, bei Alexander Lukaschenko in Minsk werden er und 13 weitere politische Gefangene aus der Haft entlassen, darunter auch der Journalist Ihar Karnei und die bekannte Italianistin Natalja Dulina. Die Freude ist überwältigend. In Vilnius, wohin die Freigelassenen gebracht werden, versammeln sich spontan exilierte Belarussen, in den sozialen Medien schreiben viele Freudenbekundungen.
Am gestrigen Sonntag geben Tichanowski und seine Frau Swetlana Tichanowskaja, die Anführerin der Demokratiebewegung, eine gemeinsame Pressekonferenz. Auf die Frage eines Journalisten, ob er jetzt die Oppositionsbewegung übernehmen würde, sagt er: „Swetlana ist die Anführerin. Ich werde keinesfalls irgendwelche Ansprüche erheben.“
Warum setzte Lukaschenko einen der bekanntesten Oppositionspolitiker nun auf freien Fuß? Welche Interessen haben die USA an einer Normalisierung der Beziehungen zu dem Regime in Belarus, die bereits seit Monaten im Raum steht?
Seit Juli 2024 hat Lukaschenko rund 350 politische Gefangene entlassen, es befinden sich aktuell aber noch 1150 in Gefängnissen und Lagern.
dekoder hat zwei Auszüge aus aktuellen Analysen von Alexander Klaskowski und Artyom Shraibman aus Pozirk und Carnegie übersetzt, die auf diese Fragen eingehen.
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Sergej Tichanowski und seine Frau Swetlana bei der Pressekonferenz nach seiner Freilassung am 22. Juni 2025 in Vilnius. / YouTube-Screenshot
Pozirk: „Warum hat Lukaschenko ausgerechnet Tichanowski freigelassen?”
2020 schlug Tichanowski wie ein Meteorit in die belarussische Politik ein, rüttelte die Wählerschaft auf, die durch das Regime und die Covid-19-Pandemie am Boden lag. Mit selbstbewusstem Populismus und Durchsetzungsvermögen erinnerte der Blogger an den frühen Lukaschenko. Und wurde in dessen Augen schnell zu einer gefährlichen Figur. Zudem nutzte Tichanowski den bissig satirischen Slogan „Stoppt die Kakerlake!“ als Anspielung auf den schnurrbärtigen Regenten. Dazu das kaum weniger beleidigende Symbol eines Pantoffels zur Bekämpfung des bösartigen Insekts.
Also hatte das Regierungsoberhaupt mit der Inhaftierung des Bloggers nicht nur einen gefährlichen politischen Rivalen ausgeschaltet, sondern sich außerdem für diese Erniedrigung gerächt. Überhaupt gab es in dem Verhältnis des Regierenden zu Tichanowski viel Persönliches. Doch jetzt handelt Lukaschenko nach dem Motto „Persönlich ist da nichts, alles reines Geschäft“.
Warum hat Lukaschenko von den wichtigen Personen ausgerechnet Tichanowski freigelassen? Außer dem Wunsch, den Amerikanern zu gefallen, erkennen hier einige einen schlauen Plan:
Schließlich ist Tichanowskis Ehefrau Swetlana Tichanowskaja die derzeitige Anführerin der demokratischen Kräfte. Sie hat immer wieder bekräftigt, dass sie nur an Stelle ihres inhaftierten Mannes in die Politik gegangen sei. Doch nun ist der wieder in Freiheit – in Litauen, genau wie sie. Kommt es da nicht vielleicht zu Verstimmungen, lauten Streitigkeiten über „Wer ist denn nun der Herr im Haus“ und zu einem Machtkampf in der Opposition? Und wenn die Frau dem Mann gegenüber nachgibt, werden die Mitstreiter der Frau ihn, den Mann, dann einfach akzeptieren?
Zudem ist damit zu rechnen, dass ein Flügel der Opposition an Selbstvertrauen gewinnt und aktiver werden wird, und zwar der, der flexiblere Positionen gegenüber den Machthabern in Belarus vertritt. Das Argument dieses Flügels besteht darin, dass die Sanktionen kein Selbstzweck und kein Fetisch seien, sondern schlicht ein Instrument. Und wenn die Aussetzung oder Unterbrechung solcher Maßnahmen einen Effekt zeige, wie jetzt die Freilassung von politischen Häftlingen, dann müsse man dieses Instrument genau so nutzen.
Außerdem verficht dieser Flügel die moralische Maxime, dass das Leben und die Freiheit der Menschen höchste Priorität haben und nicht zugunsten von Parolen eines vollständigen Siegs über das Regime beiseitegeschoben werden sollten. Ein Sieg zeichne sich derzeit nicht ab, die Menschen aber werden gefoltert und sterben hinter den Gefängnismauern. Es reicht zu sehen, wie Tichanowski, der ehemalige Mitarbeiter von Radio Svaboda Ihar Karnei und andere Freigelassene heute aussehen, um zu erkennen, was die Gefangenschaft ihnen angetan hat.
Pressekonferenz von Sergej Tichanowski und Swetlana Tichanowskaja (belarussisch/russisch und englisch) am 22. Juni 2025
Carnegie: „Hat die EU Interesse an einem Dialog mit Lukaschenko?”
Der Besuch von Trumps Sondergesandtem Keith Kellogg in Belarus war nur möglich, weil er gleich zwei entgegengesetzte Interessen bediente: Einerseits will die Trump-Administration angesichts der festgefahrenen Friedensverhandlungen um die Ukraine die regionale Diplomatie wiederbeleben. Andererseits versteckt Lukaschenko schon lange nicht mehr, dass er sich aus der Isolation der vergangenen Jahre befreien und eine wichtigere Rolle in der Region spielen will. Dafür ist er zu Zugeständnissen bereit, erst recht, wenn nur die allerleichtesten von ihm gefordert werden – die Befreiung politischer Gefangener.
Trotz des offensichtlichen Erfolgs bleibt der Ausgang der Gespräche auch nach Kelloggs Abreise im Dunkeln. Klar, Minsk hat noch genügend Gefangene zum Verhandeln und die USA können weitere Delegationen schicken oder gar ihre Botschaft in Belarus wiedereröffnen. Aber letztlich kann der Prozess nicht nur auf diplomatischen Gesten beruhen. Früher oder später wird Minsk einen Abbau der Sanktionen erwarten. Doch da gibt es eine Hürde – die strengere Haltung der Europäischen Union. Ohne die Aufhebung der europäischen Sanktionen reicht das Abschwächen der amerikanischen nicht, um die wichtigsten Handelswege für Belarus freizugeben.
Bisher gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die EU oder ihre führenden Länder, den USA folgend, wieder einen Dialog mit Lukaschenko suchen wollen. Die dienstlichen Kontakte der Europäer mit Minsk sind nicht abgebrochen, beschränken sich aber auf die Ebene von Diplomaten- und Expertentreffen. Das ist eindeutig zu wenig für die EU-Führungsriege, um sich in der Sanktionsfrage plötzlich auf Washingtons Seite zu schlagen.
Die Position der EU ist hier, wie auch im Fall Russland, härter und unflexibler. Und die Beziehungen zu Belarus sind keine so bedeutende Frage, dass, falls beispielsweise Ungarn oder die Slowakei eine Lockerung vorschlügen, aber Polen und Litauen sich dem verweigerten, irgendwer ernsthaft versuchen würde, Letztere umzustimmen.
Sergej Tichanowski zeigt auf der Pressekonferenz in Vilnius (Litauen) am 22. Juni 2025 ein Foto von sich vor der fünfjährigen Gefangenschaft. / Foto: Stanislaw Schablowski/Zerkalo
Es sei auch daran erinnert, dass sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen gerade zu verbessern schienen, als der Sommer 2020 kam. Seitdem hat sich das Regime verhärtet, eine Rückkehr zu 2019 ist unmöglich. Und es ist unklar, ob und was Washington jetzt auf dem belarussischen Weg erreichen kann.
Aber etwas ist in Bewegung geraten. So Gott will, werden weitere Menschen aus dem Gefängnis kommen, die dafür leiden, dass sie jene Rechte einforderten, die das Regime allen Belarussen genommen hat.
Der Sieger der Scheinwahl stand bereits im Vorfeld fest: Alexander Lukaschenko. Wie lief diese Imitation einer Wahl ab? Gab es tatsächlich keinerlei Überraschungen? Ein Interview mit der Politologin Victoria Leukavets.
Vor fünf Jahren begann eine Geschichte, die Belarus veränderte. Im Zentrum: Swetlana Tichanowskaja. In einem Interview mit GazetaBY spricht sie über ihren Weg zur Anführerin einer historischen Protestbewegung.
„Serjoscha, ich liebe dich sehr. Ich mache das nur für dich und die Menschen, die an dich glauben.“ Das sagte Swetlana Tichanowskaja vor Reportern, als sie aus dem Minsker Büro der Zentralen Wahlkommission trat, in der sie wenige Minuten zuvor die Bestätigung ihrer Präsidentschaftskandidatur ausgehändigt bekam. Zu diesem Zeitpunkt saß ihr Mann Sergej Tichanowski bereits seit mehr als zwei Wochen in Haft – er ist bis heute nicht frei. Die belarussischen Behörden hatten dem bekannten Blogger und Gründer des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben die Kandidatur zu den Wahlen verweigert. Daraufhin hatte seine seine Frau Swetlana beschlossen, an seine Stelle zu treten.
Zurückhaltend, naiv, unerfahren: Das dachten dann wohl die meisten Belarussen, als sie Swetlana Tichanowskaja 2020 zum ersten Mal sahen, nur drei Monate vor den Wahlen vom 9. August. Seitdem ist Tichanowskaja zu einer erfahrenen Politikerin geworden, die schon jetzt mehr Staatsmänner von Weltrang getroffen hat als Machthaber Alexander Lukaschenko in seiner ganzen Laufbahn.
Alexander Lukaschenkos strategischer Fehler und der Beginn von Swetlana Tichanowskajas neuem Leben fielen auf den 14. Juli 2020: Tichanowskaja wurde als einzige von drei aussichtsreichen Oppositionskandidaten zum Wahlkampf zugelassen. Mit dieser Zulassung wollte das Regime den Eindruck fairer Wahlen erwecken. Damals behauptete Lukaschenko noch, dass die belarussische Gesellschaft sowieso nicht „reif“ genug sei, um eine Frau ins Präsidentenamt zu heben. Ein ehrlicher politischer Wettstreit gegen männliche Kandidaten wäre ihm höchstwahrscheinlich zu risikoreich gewesen. Daher hatten die Behörden Sergej Tichanowski und Viktor Babariko präventiv festgenommen, außerdem Waleri Zepkalo die Kandidatur verweigert. Wenig später sollte sich herausstellen, wie bereit die belarussische Gesellschaft war, einer Frau das Vertrauen zu schenken.
Drohungen, erzwungenes Video und Tausende Anhänger
Tichanowskaja verkündete zwei Tage nach ihrer Registrierung als Kandidatin, sich mit Babarikos Kampagnenleiterin und Zepkalos Ehefrau zusammenzuschließen. Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo wurden als die „drei Grazien“ bezeichnet, und große Teile der Gesellschaft begannen, sie als Leitfiguren für einen potentiellen Wandel anzusehen. Von Tichanowskaja erfuhren die Belarussen im Zuge des Wahlkampfs die Geschichte einer Hausfrau und Mutter, die eine Projektionsfläche für viele belarussische Frauen bot: Sie wurde in der Kleinstadt Mikaschewitschi geboren und hatte an der Pädagogischen Universität von Mosyr Fremdsprachen studiert. Später arbeitete sie in Gomel als Übersetzerin für Englisch und heiratete im Jahr 2005. Sie und ihr Mann bekamen zwei Kinder. Weil ihr Sohn mit einer Hörbehinderung geboren wurde, gab sie ihre Arbeit auf, um für ihn da zu sein.
Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen hunderttausende Menschen in ganz Belarus. Schon damals war zu erkennen, dass Tichanowskaja – einmal ihrem Mann zuliebe in die Welt der Politik eingetaucht und von seinen Wählern unterstützt – ihr Projekt nicht auf halbem Wege fallen lassen würde. Auch dann nicht, als sie im Zuge der erfolgreichen Wahlkampagne einen Anruf von einer unbekannten Nummer erhielt: Der Anrufer drohte ihr mit Verhaftung und damit, ihr die Kinder wegzunehmen. Also nahm die Großmutter die Kinder in Obhut und reiste mit ihnen nach Litauen aus. Sie selbst setzte ihren Wahlkampf fort. Das Wahlbündnis um Tichanowskaja trat dabei mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen.
Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse am 9. August 2020 kam es in Belarus noch am selben Abend zu Massenprotesten, Verhaftungen und Polizeigewalt: Der Unmut über das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis hatte landesweite Proteste ausgelöst. Berechnungen zu den Stimmabgaben, die Aktivisten vorgenommen haben, legten nahe, dass das Wahlbündnis um Tichanowskaja ziemlich wahrscheinlich mindestens den zweiten Wahlgang erreicht hatte, was den offiziell verkündeten Zahlen von 9,9 Prozent diametral entgegenstand1. Die Zentrale Wahlkommission erklärte, mehr als 80 Prozent der Stimmen seien an Lukaschenko gegangen.
Für Tichanowskaja brachte der nächste Tag endgültige Ernüchterung. Als sie das Wahlergebnis bei der Zentralen Wahlkommission in Minsk anfechten wollte, kehrte sie von dort nicht wieder zurück. Nachdem litauische Behörden tags darauf angaben, dass sie sich in Litauen aufhalte, tauchten zwei Videos auf: Darin rief eine verängstigte Tichanowskaja die Belarussen dazu auf, nicht mehr auf die Straße zu gehen, und erklärte, das Land verlassen zu haben. Sie begründete das mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder2. Später wurde bekannt, dass mindestens eines dieser Videos unter dem Druck des belarussischen Geheimdienstes KGB entstanden war3. Zehn Tage später gab Tichanowskaja in Litauen ihre erste Pressekonferenz aus dem Exil.
Ein Treffen mit Biden – „Mehr als ein Foto auf Twitter“
Ihr erster wichtiger politischer Schritt im Exil war es, dem Regime ein symbolisches Volksultimatum zu stellen: Sie forderte Lukaschenko auf zurückzutreten, zudem alle politischen Gefangenen freizulassen und die Gewalt gegen die Protestierenden zu beenden. Andernfalls drohe ein Generalstreik – zu dem es im Oktober 2020 tatsächlich kam: Studierende, Ärzte, Unternehmer, Angestellte und Arbeiter der mächtigen Staatsbetriebe schlossen sich dem an. Allerdings erreichte der Streik nicht die gewünschten Ausmaße. Auch weil es der Staatsmacht gelang, die Welle des Ungehorsams und den Protestwillen mit brutalen Festnahmen und Kündigungen zu brechen und einzuhegen. Daher war der Streik relativ schnell beendet, und weitere Versuche, solche Streiks zu organisieren, blieben auch später erfolglos.
Tichanowskaja und ihr Team begannen vom Exil aus, international politische Aufmerksamkeit für die belarussische Demokratiebewegung zu schaffen, indem sie zahlreiche Staatsoberhäupter westlicher Länder traf, darunter Emmanuel Macron, Angela Merkel, Boris Johnson und Joe Biden. Sie wurde zu einer ernst zunehmenden Stimme für ihr Land. Der Politologe Artyom Shraibman bemerkte damals zu Tichanowskajas Treffen mit Biden: „Ein solches Symbol auf [Präsidenten]Ebene ist mehr als ein Foto auf Twitter. Für die amerikanischen Bürokraten ist das ein starkes Signal.“ Zum Vergleich: Lukaschenko hat in den vergangenen zwei Jahren nur Putin, staatliche Amtsträger aus Venezuela und Staatsführer aus der Einflusssphäre der OVKS getroffen.
Diplomatische Erfolge im Exil
Nach den gefälschten Wahlen hatte die westliche Diplomatie Lukaschenko deutlich zu verstehen gegeben, dass Verhandlungen erst nach einem angemessenen Dialog mit der Opposition, Neuwahlen und der Freilassung politischer Gefangener möglich seien.
Unterdessen konnte Tichanowskaja nach nur wenigen Monaten in Litauen wichtige diplomatische Erfolge erzielen: Das EU-Parlament und der US-Kongress erkannten den auf ihre Initiative hin gegründeten Koordinationsrat als legitime Vertretung des belarussischen Volkes an. Im Sommer 2021 wurde ihrem Büro von der litauischen Regierung der Diplomatenstatus verliehen. Im Februar 2022 kündigte sie die Bildung einer Exilregierung an. Dass Tichanowskaja durch die westliche Gemeinschaft so vielseitige Unterstützung erhielt, hat ihre Anerkennung erheblich gesteigert, auch bei den Belarussen im Inland.
Zum ersten Mal seit Langem hat auch die belarussische Diaspora eine angesehene moderne Führungspersönlichkeit. Swetlana Tichanowskaja und ihr Team kommunizieren regelmäßig mit Vertretern der belarussischen Diaspora in aller Welt, etwa in den von ihr eingerichteten Volksbotschaften, die als informelle Auslandsvertretungen der Belarussen fungieren. Sie persönlich nimmt an Demonstrationen von Belarussen im Ausland teil und unterstützt Familien von politischen Gefangenen. Der letzte führende Politiker der Diaspora war Sjanon Pasnjak, ein ehemaliger Abgeordneter des belarussischen Obersten Sowjets, der seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in Belarus lebt und Vorsitzender der ultrakonservativen christlichen Partei BNF ist. Für viele Belarussen, die schon lange im Ausland sind, ist er bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Der Großteil der belarussischen Diaspora, die seit 2020 weltweit noch einmal um mindestens 100.000 Menschen gewachsen ist, dürfte jedoch inzwischen Tichanowskaja anhängen, auch, weil sie für eine neue Generation steht.
Gleichzeitig droht den Exilpolitikern angesichts der harten politischen Repressionen ein Bedeutungsverlust bei den Menschen in Belarus selbst: Laut einer unabhängigen Umfrage unter Belarussen, die den Protest unterstützen, vertrauen zwar 85 Prozent der Befragten Tichanowskaja, im Februar 2022 hätten jedoch nur 19 Prozent für sie gestimmt. Der beliebteste Oppositionspolitiker ist nach wie vor Viktor Babariko, den 45 Prozent der Befragten wählen würden.
Wobei die Unterstützung für Tichanowskaja seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder leicht angestiegen ist. Ihr Team leistet unter anderem humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und verfolgt die Bewegung von russischem Militärgerät auf dem Territorium von Belarus. Dabei verfügt sie nachweislich über Wirkmacht: Als Tichanowskaja am 27. Februar, dem Tag des umstrittenen Verfassungsreferendums, dazu aufrief, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, kam es in Belarus zu zahlreichen Protesten, bei denen mindestens 500 Menschen festgenommen wurden, die meisten in Minsk.
Kritiker in den oppositionellen Reihen
Innerhalb der belarussischen Opposition wurden immer wieder auch kritische Stimmen laut, die ihr mangelnde politische Kompetenz, eine unklare Position und umstrittene politische Entscheidungen vorwarfen, darunter übertriebenen Optimismus und eine viel zu konkrete Ankündigung eines Siegs über das Regime – was der bekannte Philosoph Wladimir Mazkewitsch mit den Worten quittierte: „Im Herbst haben Sie geschrien, das Regime würde bis Weihnachten oder Neujahr fallen. Es ist aber nicht gefallen, und die Menschen, die darauf gehofft haben, sind jetzt verzweifelt.“ Zu wenig strategisches Denken, um auch die Unentschlossenen anzusprechen, kritisierte Politologe Andrej Kasakewitsch und befand, es brauche mehr als mit politischen Statements in den sozialen Medien „viral“ zu gehen. Eine der ersten öffentlichen Äußerungen, die Tichanowskajas Glaubwürdigkeit vorübergehend ernsthaft untergrub, war ein Interview mit dem russischen Wirtschaftsmedium RBK im September 2020, kurz nach ihrer Emigration. Darin bezeichnete sie Putin als „weisen Regenten“. Später rechtfertigte sie ihre Aussage mit mangelnder Erfahrung – der Zweck des Interviews sei gewesen, Putin dazu anzuhalten, Lukaschenko nicht länger zu unterstützen.
Tichanowskaja drohen bis zu 59 Jahre Haft, wenn nicht die Todesstrafe
Entgegen Lukaschenkos Behauptung, die belarussische Gesellschaft sei für eine Frau an der Spitze nicht reif, haben die Belarussen mit Swetlana Tichanowskaja nicht nur eine wenig bekannte Frau groß gemacht, sondern sehen in ihr auch die Verkörperung einer Ära der Freiheit, die allerdings alles andere als nahe scheint. Tichanowskaja wurde zum Symbol dieses Kampfes, was trotz aller Kritik nur wenige bestreiten. Oder, wie es Ales Santozki in einer Analyse für Nascha Niwaausdrückte: „Dass wir jetzt das Büro von Tichanowskaja und andere organisierte Strukturen mit stabilen Kontakten zu den politischen Eliten westlicher Länder haben, ist tatsächlich ein großer Vorteil für uns. Denn das verleiht Belarus abseits von Lukaschenko politische Subjekthaftigkeit. Und wenn die Zeit der Entscheidung über die Zukunft der gesamten Region kommt, kann das einen großen Unterschied machen.“
Am 14. Dezember 2021 war Tichanowskajas Ehemann Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Sie habe keine Hoffnungen gehegt, dass er vor einem Machtwechsel in Belarus freikommen würde, kommentierte sie das Urteil am Rande einer Sitzung mit Parlamentsabgeordneten, zu der sie an diesem Tag in Schweden war4. Für sie selbst ist eine Rückkehr in ihr Heimatland unter diesen Bedingungen unwahrscheinlich. Aktuell laufen offiziell mindestens sechs Strafverfahren gegen sie (unter anderem wegen „Gründung einer extremistischen Vereinigung“, „Aufruf zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ und „Vorbereitung eines terroristischen Akts“). Am 6. März 2023 wurde sie in Abwesenheit von einem Minsker Gericht zu 15 Jahren Straflager verurteilt.
1.Die Aktivisten haben die Wahllokale zugrunde gelegt, in denen Swetlana Tichanowskaja offiziell gewonnen hatte. Demnach erreichte sie in knapp 200 der Wahllokale eine Stimmenmehrheit von rund 57 Prozent, während ihr laut dieser offiziellen Zahlen zugleich in fast 4500 Wahllokalen angeblich nur 3 Prozent der Stimmen zugekommen sein sollen. Diesereklatante Widerspruch deutet auf massive Wahlfälschung hin, vgl. Itogowy ottschet o wyborach Presidenta Respubliki Belarus (Po dannym platform «Golos», «Subr» i soobschtschestwa «Tschestnyje ljudi»). ↑
Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.
Im Sommer 2020 protestierten die Belarussen für Neuwahlen und für ihre Grundrechte – friedlich, kreativ und äußerst wandlungsfähig. Wir lassen die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in diesem visuellen Rückblick Revue passieren.
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