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Flucht de force mit Tscheburaschka

Fünf Jahre nach Beginn der Massenproteste sind immer noch fast 1200 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen und Lagern interniert. Die Haftbedingungen werden von ehemaligen Häftlingen und NGOs als unmenschlich bezeichnet. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2020 verstorben. 

Um diesem Schicksal zu entgehen, hat sich der Regimekritiker Alexander (Sascha) mit Ehefrau und Tochter zur Flucht entschieden. Diese geriet zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das die Familie durch mehrere Länder führte. Jewgeni Kornejewez hat ihre Geschichte für das Online-Portal Mediazona Belarus aufgeschrieben. 

Quelle Mediazona Belarus

Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat

„Sie können unsere echten Namen benutzen. Von unserer Familie lebt nur noch Saschas Mutter. Meine Mutter haben sie bis zum Infarkt getrieben. Als wir weg sind, kamen ständig die Silowiki: ‚Wir schnappen sie uns [deine Kinder] und sperren sie ein, sie werden eh zurück nach Belarus abgeschoben, sie sind erledigt.‘ Die haben lauter schlimme Sachen über uns gesagt, ihr Angst gemacht, und nochmal Angst. Das hat ihr Herz nicht mitgemacht. Drei Tage Koma und … ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren. Zwei Jahre ist sie jetzt schon tot. Und wir haben nur noch eine Mutter für uns beide. Und zu ihr kommen sie auch“, erzählt Natalja. 

Als einziges Erinnerungsstück an ihre Mutter ist Natalja eine Tscheburaschka-Puppe geblieben. Die Belarussin hatte gerne gestrickt, und Nataljas Mann Alexander hatte seit seiner Kindheit von einem Tscheburaschka-Kuscheltier geträumt. „Er hatte diese fixe Idee: Ich will Tscheburaschka“, erinnert sich Natalja. Da strickte ihre Mutter ihm ein Kuscheltier zum Geburtstag. „Er kommt zu ihr, und sie sagt zu ihm: ‚Hier, Sascha, für dich.‘ Er hatte sogar Tränen in den Augen. ‚Meine Schwiegermutter hat mir Tscheburaschka geschenkt, die immer bei mir bleiben wird.‘“ 

Im November 2022 musste Sascha mitten in der Nacht aus Belarus fliehen, indem er den Njoman überquerte. Er packte seine Sachen in einen Rucksack, Tscheburaschka steckte er in einen Plastikbeutel und befestigte ihn an einer Schnur. Als Alexander am litauischen Ufer ankam, bemerkte er, dass das Stofftier weg war. „Ich zog an der Schnur, und die Plastiktüte schwamm in Richtung Belarus davon. Ich dachte nur: ‚Tscheburaschka. Den hat meine Schwiegermutter doch für mich gestrickt.‘ Ich schwamm zurück. November. Ohne Tscheburaschka geh ich nicht ins Exil!“ 

Sascha kehrte um, fand das Kuscheltier und schwamm wieder nach Litauen. Danach irrte er zwei Stunden lang nass durch den Wald und suchte die Grenzbeamten. Jetzt begleitet Tscheburaschka das Ehepaar quer durch Europa. 

Festnahme in Belarus 

Früher lebte Natalja mit ihrem Mann Sascha in Hrodna. Sie hatten ein großes Grundstück inmitten von Seen gepachtet, bauten eine Ferienanlage auf, züchteten Fische und veranstalteten regelmäßig Angelwettbewerbe. Vor seiner Verhaftung, erinnert sich Sascha, hatten oft Beamte aus Hrodna bei ihnen Urlaub gemacht. „Ich konnte den Verwaltungsleiter der Oblast persönlich anrufen, wenn es ein Problem gab. Wir hatten fangfrischen Fisch, Grillplätze, auf denen die Abgeordneten sich ganz umsonst besaufen konnten. Deshalb war ich praktisch ‚unantastbar‘. So läuft das in diesem Business.“ 

Im Pandemiejahr 2020 organisierte das Ehepaar eine Spendenaktion und stattete das Stadtkrankenhaus Nr. 2 in Hrodna mit Schutzausrüstungen aus. Als im selben Jahr die Wahlkampagne begann, trat Alexander dem Stab von Viktor Babariko bei und sammelte Unterschriften. Dann unterstützten sie Swetlana Tichanowskaja. Bei Videoaufnahmen von ihren Auftritten in Hrodna kann man Alexandra und Natalja in der ersten Reihe sehen.  

Zwei Jahre später, 2022, holten Alexander die Silowiki.  

„Er fuhr auf den Markt, um Fisch zu verkaufen. Da holten sie ihn. Ich habe ihn mehrmals angerufen, er drückte mich immer weg – geht nicht dran, ruft nicht zurück. Das kannte ich nicht von ihm. Ich habe einen Freund angerufen: ‚Juri, kannst du mal auf dem Markt vorbeischauen, mit Sascha stimmt was nicht.‘ Und er: ‚Vielleicht ist sein Telefon nass geworden oder so.‘ Aber ich war mir sicher, dass etwas passiert sein musste.“ 

Alexanders Auto mit dem Fisch blieb auf dem Markt stehen, später holten es Bekannte ab. Alexander war von sechs bewaffneten Silowiki festgenommen worden, die aus einem Polizeibus gesprungen und über ihn hergefallen waren. Sie brachten ihn ins Revier, wo er die Nacht verbringen musste, und nach drei Tagen Gewahrsam kam er in U-Haft. 

„Sie bedrohten mich nicht, aber die Demütigungen nahmen kein Ende. In U-Haft saß ich mit einem Straftäter, für den es sein viertes Mal war. Ein ganz normaler, ruhiger Typ um die 40. Er sagt zu mir: ‚Ich war sechs Jahre draußen, jetzt habe ich was geklaut, und es fühlt sich an wie nach Hause kommen.‘ Er schlief, rauchte, aß. Und ich durfte nur am Tisch sitzen und die Pritsche nicht mal angucken. Aufs Klo mit Handschellen. Die Hände auf dem Rücken. Wie soll man das machen? Und die sitzen da, glotzen und lachen: ‚Dir fällt schon was ein! Auf die Demos hast du‘s ja auch irgendwie geschafft!‘“

Die Flucht nach Georgien über Russland 

Währenddessen wurde ihre Wohnung durchsucht: Alles auf den Kopf gestellt, die elektronischen Geräte konfisziert. In der U-Haft überreichte die Ermittlerin Alexander eine Anklageschrift wegen Beleidigung Lukaschenkos. „‚Hier‘“, sagte sie. ‚Gegen dich liegen ein Haufen Beweise vor. Entweder du spuckst ein Scheißgeständnis aus, oder ich brumm dir das alles auf und hol deine Alte ab.‘ So reden die mit einem. Eigentlich eine attraktive Frau. Aber die Art zu reden – einfach nur abstoßend.“ 

Natalja musste mit ihrer Tochter, einer Studentin, mehrfach zu Verhören. Die Ermittler gaben ihnen zu verstehen, dass sie das Land nicht verlassen durften und erreichbar bleiben mussten. Auch die Ferienanlage bekam Besuch von der Staatsanwaltschaft, vom Umweltministerium und der staatlichen Fischereiaufsicht Rybnadsor. „Während ich einsaß, haben sie sich mein Business unter den Nagel gerissen. Jedes Mal wieder: Anzeige – Bußgeld, Anzeige – Bußgeld, Anzeige – mit denen zu reden war sinnlos.“ 

Zwei Monate nach seiner Verhaftung kam Alexander vors Gericht. Am 19. Mai 2022 wurde er zu zwei Jahren chimija (dt. Chemie) verurteilt – einer Haftstrafe im offenen Vollzug. Er durfte das Gericht auf freiem Fuß verlassen. Am nächsten Tag bekam das Ehepaar einen Anruf von jemandem, der sich als Anwalt vorstellte. Er wollte kein Geld und schlug ein Treffen vor, bei dem er sagte, er würde ihnen dabei helfen, Berufung einzulegen. Während der Bearbeitungszeit hätten sie die Möglichkeit, das Land zu verlassen. 

Am 1. Juli machte sich die ganze Familie über Russland nach Georgien auf. 

Der nächste Plan: Richtung Ukraine 

Ihre Tochter Diana fuhr mit dem Bus, die Eltern mit dem Auto. Diana kam über die Grenze, aber Alexander und Natalja wurden nicht rausgelassen – sie fanden sich in einem russischen Lager für Personen mit Ausreiseverbot wieder. 

„Zum Glück hatten wir das Geld für den Weg aufgeteilt. Insgesamt hatten wir 2000 US-Dollar. Unsere Tochter hatte 1000 dabei, die andere Hälfte hatten wir. Das Auto war auch noch ein bisschen was wert. „Wir beschlossen spontan, über Abchasien zu fahren. Panik. Wir fuhren über die Berge nach Tuapse am Schwarzen Meer. Dort redete ich mit den Taxi-Fahrern, die sagten: ‚Vergiss es. Wenn die Georgier ein Auto aus Abchasien sehen, schießen die sofort, und fragen erst dann nach dem Namen.“ Also beschloss das Paar, von Russland über die Ukraine nach Europa zu fahren, wo sie ihre Tochter treffen wollten. Sie entschieden sich für den Grenzübergang bei Belgorod. 

„Ich bin quasi selbst Grenzer. War 16 Jahre in der Armee. An der Frontlinie kommt man nicht durch, da wird geschossen, alles ist vermint und so. In der Oblast Sumy ist es ruhig, kein Krieg – also wird die Grenze bewacht. Aber dazwischen, in der Grauzone, kann man durchschlüpfen. Also versuchten wir es bei Belgorod, 30 Kilometer von Charkiw entfernt. 200 Meter fehlten uns noch bis zur Grenze“, erzählt Alexander. „Und ich hab geweint: ‚Lass uns einfach hierbleiben! Nicht nach Hause fahren und auch nicht dahin‘“, ergänzt Natalja. 

Diana schaffte es nach Tbilissi. Sie wollte sich ein Zimmer mieten, doch der Vermieter fing an, sie zu belästigen. Also zog sie weiter. Ziellos schlenderte sie durch die Straßen, bis sie mit einer Frau ins Gespräch kam, die ihr eine Unterkunft anbot. Nach dem ersten Monat durfte sie sogar gratis bei ihr wohnen, seitdem nennt Diana sie ihre „georgische Mama“.     

In „Kriegsgefangenschaft“ 

Bevor sie die russische Grenze überquerten, inspizierte Alexander drei Tage lang die Umgebung, suchte auf Google Maps, sah sich alles ganz genau an. Der erste Versuch misslang – Natalja blieb im Sumpf stecken, und sie mussten umkehren. In der nächsten Nacht versuchten sie es noch mal, wurden aber von russischen Soldaten aufgegriffen.  

„Sie blendeten uns, brüllten: ‚Fresse auf den Boden!‘, schossen mit MGs. Natalja wollte wegrennen, ich konnte sie gerade noch aufhalten. Wären wir geflohen, wäre das hundertpro das Ende gewesen.“ Mit einem Sack über dem Kopf wurden die Belarussen zu einem Stützpunkt geführt, jeder in einen anderen Raum. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und wurden befragt, wie sie an die Grenze gelangt waren. Natalja erzählt, sie sind von den Soldaten schikaniert worden.   

„Sie wickelten sich meine Haare um die Faust und zerrten mich daran durchs ganze Zimmer. Dann fixierten sie mich mit Handschellen an ein Bett, brachten eine Flasche, stellten sie auf den Boden und sagten: ‚Weißt du, was wir gleich mit dir machen? Wir binden dir die Beine ans Bett, holen alle unsere Kameraden und lassen sie der Reihe nach ran.‘“ 

„Als ich sie schreien hörte, sagte ich: ‚Ihr Schweine, ich werde euch alle finden und euch den Hals umdrehen!‘ Zwei Minuten später spuckte ich meine Zähne aus. Die haben richtig zugeschlagen. Natascha haben sie nicht verprügelt, nur an den Haaren durchs Zimmer gezerrt. Mir fehlen seitdem die unteren Zähne.“ Die Soldaten hielten das Paar bis zum nächsten Morgen fest. „Einer kommt rein und sagt: ‚Wieso liebt so ein junges Mädel einen alten Sack wie dich? Willst du zugucken, wie wir sie alle der Reihe nach rannehmen?‘“  

Ausgeraubt wurden Alexander und Natalja auch. Alles Geld, das Gold – die Russen hatten ihr Auto gefunden und alles mitgenommen, was irgendwie Wert hatte. Am Morgen wurden sie gezwungen zu unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden gegen die Grenzbeamten hätten. Sie bekamen von ihrem eigenen Geld 2000 Rubel [damals etwa 35 US-Dollar - dek], damit sie gleich ihre Strafe zahlen konnten, und wurden, wieder mit einem Sack über dem Kopf, zu ihrem Auto gebracht und sich selbst überlassen.    

Zurück nach Moskau und nach Tscheljabinsk  

Nach der „Kriegsgefangenschaft“ fuhren die beiden zu Nataljas Onkel in die Oblast Moskau. Sie erzählten ihm ihre Geschichte und begriffen, dass er sich über solche Gäste gar nicht freute. „Er war beruflich beim Militär gewesen. Den beiden Rentnern sah man an, dass sie Angst hatten. Wir blieben noch über Nacht, dann sagten wir, wir hätten Arbeit in Moskau gefunden, und reisten wieder ab.“ 

Alexander fielen seine Verwandten im Ural ein, zu denen er seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er bat Diana, auf Odnoklassniki ihre Telefonnummer herauszufinden, rief an, stellte sich vor, erklärte seine Situation, dass er momentan keine Bleibe habe, und war sehr erstaunt, als sie ihn freudig einluden. Bis Tscheljabinsk waren es zwei Tage Fahrt. Tante Alexandra überließ den Belarussen ihre Wohnung und fuhr selbst auf ihre Datscha. Alexander und Natalja wandten sich an Bysol, wo ihnen empfohlen wurde, nach Wladikawkas zu fahren und von dort aus die Einreise nach Georgien zu versuchen.  

„Im September rief Russland die Mobilmachung aus. Was da in Werchni Lars los war! Die von Bysol riefen uns an und sagten: ‚Das wird nichts, Leute, vergesst es.‘ Uns ging die Kraft aus, wir hatten kein Geld mehr, nichts.“ Sie verkauften ihr Auto, um in einem Hostel zu wohnen. Mit Flyer-Verteilen verdienten sie sich das Geld für Essen: Jeden Tag 20 Kilometer zu Fuß. 

„Wir ernährten uns von drei Backkartoffeln aus der Mikrowelle. Geschirr hatten wir keines, nur die Mikrowelle. Brot nur scheibchenweise. Und ein Kilo 100-Rubel-Wurst. Das ist eine Wurst, die kannst du auf den Löffel nehmen, und sie bleibt dran kleben und fällt nicht runter. Zweimal die Woche kauften wir eine Tomate, so als Leckerbissen. Und Äpfel. Wenn ich irgendwo einen Apfel pflücken konnte und wir Zucker zu Hause hatten, schnitten wir das Kerngehäuse aus, füllten Zucker ein und ab in die Mikrowelle. Das war unser Nachtisch.“    

Trennung und zurück nach Belarus 

So lebte das Paar bis Oktober. Im Oktober bot ihnen Bysol eine Evakuierung an, für die sie sich allerdings trennen mussten. Sie fuhren nach Moskau. Natalja bekam schnell ein Visum. Dann kam die Anweisung, nach Kaliningrad zu fliegen und dort in den Zug Richtung Minsk zu steigen. Zwei Tage später war Natalja in Kaunas, Litauen. 

„Ich hatte überhaupt kein Geld mehr. Keine Kopeke, keinen Cent. Ich kam in Kaunas am Bahnhof an und konnte nicht mal auf die Toilette, weil das was kostet. Ich stand da und heulte. Ein junger Ukrainer und seine Mutter wurden auf mich aufmerksam: ‚Wieso weinen Sie denn?‘ Sie halfen mir mit dem Internet, gaben mir ein bisschen Geld und kauften mir eine Fahrkarte nach Danzig, wo meine Tochter auf mich wartete.“ 

Alexander bekam Instruktionen: „Bestell dir ein BlaBlaCar und fahr nach Orscha“. Die Fahrt bezahlte ihm Bysol. Eine Weile später kam eine Nachricht, er solle nach 15 Kilometern an einer Kreuzung aussteigen und sich im Wald verstecken. Das machte er. Später kam noch ein weiteres Auto. Der Fahrer fragte Alexander nach seinem Namen, ließ ihn einsteigen und fuhr mit ihm durch die Dörfer. Irgendwann erreichten sie den Stadtrand von Wizebsk, und Alexander wurde gebeten auszusteigen.  

„Ich sagte: ‚Wie geht’s jetzt weiter, Alter?‘ Und er: ‚Keine Ahnung. Tschüss.‘ Und fuhr weg. Russische SIM-Karte, kein Empfang, kein Geld, dafür umso mehr Hunger. Ich traf ein paar Teenager, fragte sie nach einem Hotspot, sagte, ich sei Russe und hätte vergessen, meine SIM-Karte zu aktivieren.“ Gegen Abend meldeten sich die Fluchthelfer: Sie schickten ihm ein Taxi, das ihn zu einer Mietwohnung brachte, ließen ihm ein wenig Geld zukommen. „Ich stellte mein Zeug ab, kaufte zwei Packungen Pelmeni und Schmand und dachte: Scheiße nochmal, endlich mal sattessen!“ 

Nach Wizebsk erwarteten Alexander noch ein paar Stationen, etliche Wohnungen, Häuser, Datschen, bis er Mitte November eines Nachts an den Njoman gebracht wurde und hörte: „Schwimm“. 

Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat

Hiobsbotschaft in der Freiheit 

In Litauen wurde Alexander in einem Flüchtlingslager untergebracht, bekam jedoch bald die Genehmigung, in die Stadt zu fahren. Dann wurde er nach Polen überstellt, weil er ein polnisches Visum hatte, und traf dort seine Frau wieder. Während das Ehepaar auf seinen Aufenthaltstitel wartete, machten die beiden hohe Schulden, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt war. Als er seine Dokumente hatte, fing Alexander an, als Fernfahrer zu arbeiten. Er nahm seine Frau mit und seinen Tscheburaschka. „Mein Tscheburaschka hat ganz Europa gesehen“, scherzt er. Jetzt sind alle Schulden abbezahlt.  

2024 wurde bei Alexander Krebs diagnostiziert.  

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Große runde Ohren, traurige Kulleraugen und eine entwaffnend niedlich quietschende Stimme: Heute wie vor 50 Jahren zieht Tscheburaschka alle Blicke auf sich. Was ist das für ein seltsames Tier? Das fragt sich der Obsthändler, aus dessen Orangenkiste Tscheburaschka im ersten Teil der Trickfilmreihe purzelt – und das fragen sich bis heute die Zuschauer. Tscheburaschka, das kleine, unverwechselbare Fabelwesen, ist seit seiner Erschaffung im Jahr 1966 ein fester Bestandteil der russischen Populärkultur. Heute taucht Tscheburaschka in unterschiedlichsten Zusammenhängen auf: in Werbespots, als Maskottchen für die russische Mannschaft der Olympischen Spiele seit 2004, aber auch als Kiffer oder als Guerillakämpfer.

Den Urtext für die Figur dieses kleinen und doch so populären Wesens bildet das erstmals 1966 in der Sowjetunion erschienene Kinderbuch von Eduard Uspenski Krokodil Gena und seine Freunde. Gemeinsam mit Roman Katschanow hat Uspenski auch die Drehbücher für die vier erfolgreichen Puppentrickfilme geschrieben. Der renommierte Animationskünstler Leonid Schwartsman besorgte die Zeichnungen, in Vielem ist die Ästhetik der Filme sowie ihrer Hauptfigur sein Verdienst. Im Gegensatz zu den meisten anderen während der sowjetischen Ära der Stagnation produzierten Trickfilmen (etwa Nu pogodi! von 1969, das sich am westlichen Vorbild Tom und Jerry orientierte), handelt es sich bei Tscheburaschka um eine genuin sowjetische Erfindung.

Uspenski, Katschanow und Schwartsman schufen mit Tscheburaschka eine Figur jenseits der bestehenden Kategorien. In seiner Einzigartigkeit liegt aber zugleich auch seine Tragik: Niemand weiß etwas mit ihm anzufangen. Er möchte so gern in einem Zoo leben, aber man lässt ihn nicht – welcher Tierart sollte man ihn denn auch zuordnen? Der einsame und gesellschaftlich entfremdete Außenseiter, der sich nicht in das sowjetische Ideal des Kollektivs einordnen lässt – dieses Motiv war in der desillusionierten Stagnationszeit der 1970er Jahre in Kinderfilmen häufiger anzutreffen.1 In den Tscheburaschka-Filmen werden darüber hinaus aber auch ökonomische Missstände in ironisch gebrochener Weise angesprochen, etwa wenn die Schule, die Tscheburaschka besuchen möchte, wegen Nachlässigkeit der Bauarbeiter nicht mehr rechtzeitig zum Schulbeginn fertiggestellt wird.

Tscheburaschka ist heute nicht nur in Russland populär, sondern unter anderem auch in Japan, wo 2014 das renommierte Studio Ghibli einen eigenen Film schuf. Auch die Werbung nutzt die Tscheburaschka-Figur, sie ist Protagonist mehrerer Computerspiele und inzwischen sogar Internet-Mem: Tscheburaschkas Harmlosigkeit wird dabei häufig mit Gewalt oder Sexualität kontrastiert, so posiert er auf manchen Bildern mit Kalaschnikow oder als guerrillakämpfender „Tsche“-Guevara. Die Loslösung vom Originalkontext ist komplett, die Figur findet sich heute schlicht überall.

https://www.youtube.com/watch?v=aMHFMdAaBTQ

 

Viele Dialogpassagen der Filme sind längst zu geflügelten Worten geworden, so etwa Tscheburaschkas Vorschlag, er könne Gena beim Tragen seiner Koffer helfen, wenn dieser wiederum ihn selbst tragen würde.2 Auch das melancholische Geburtstagsständchen, das Gena im Regen sich selbst singt, hat in Russland jeder im Ohr. Dass Tscheburaschka zum Symbol der russischen Nationalmannschaft für die Olympischen Sommerspiele 2004 wurde, verwunderte zunächst viele. Das Auswahlkomitee begründete seine Wahl damit, dass Tscheburaschka stets die Verkörperung des Guten und Aufrichtigen darstelle und gleichermaßen von Kindern wie von Erwachsenen geliebt werde.3

Universelle Werte wie die unerschütterliche Freundschaft zu Gena, Güte, Aufrichtigkeit, vor allem aber: Melancholie. Stets will dieses kleine Wesen dazugehören. Als Tscheburaschka sich – ganz ideologisch korrekt – einer fleißigen Kinder-Pioniergruppe anschließen will, nach allerlei Schwierigkeiten schließlich sein Ziel erreicht und zusammen mit Gena mit den Kindern im Stechschritt marschieren darf, stolpert er über den Schwanz seines Krokodil-Freunds und schleppt sich unglücklich und gequält weiter vorwärts.4 Die Stimmung eines Happy Ends will in dieser Szene nicht recht aufkommen ... Überhaupt hinterfragen die Filme immer wieder subtil sowjetische Ideale. Nicht immer scheint es zu funktionieren, die Suche nach Glück auf gesellschaftliche Zugehörigkeit auszurichten. Das kleine, liebenswerte Tscheburaschka ist mehr als eine Trickfilmfigur: Es thematisiert mit trauriger Ironie mitunter geradezu universelle Lebensfragen.5


1.Kuznecov, S. (2008): Zoo, ili filmy ne o ljubvi, in: Lipovedskij, M. (Hrsg.): Vesjelyje čelovečki: kulturnyje geroi sovetskogo detstva, Moskau. S. 355
2.Beumers, B. (2010): Comforting creatures in children’s cartoons. In: Marina Balina, Larissa Rudova (Hrsg.). Russian Children's Literature and Culture, S. 166
3.Kuznecov, S. (2008), S. 360
4.Der Ausdruck Tscheburaschka kommt nicht umsonst vom russischen Verb tscheburachnutsja (hinfallen), weswegen er auch oft mit „Kullerchen“ übersetzt wird.
5.Ključkin, K. (2008): Zavetnyj multfilm: pričiny poluljarnosti „Čeburaški“, in: Lipovedskij, M. (Hrsg.): Vesjelyje čelovečki: kulturnyje geroi sovetskogo detstva, Moskau. S. 369
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)