Medien

Der Zielaufklärer

Die russische Oblast Belgorod ist ein zentraler Umschlagplatz für Waffen und Truppen auf ihrem Weg in den Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine. Die Region ist gut an Rest-Russland angebunden und hat sich schon im Vorfeld des russischen Überfalls zu einem logistischen Knotenpunkt und einer wichtigen Nachschubbasis für die Invasion entwickelt.  

Die Zerstörung der russischen Nachschub- und Logistikinfrastruktur gehört zu den verteidigungsstrategischen Prioritäten der ukrainischen Streitkräfte: Der Gegner ist zahlen- und waffenmäßig überlegen und scheut keine Verluste, Angriffe auf Nachschubstrukturen helfen der Ukraine, sich dieser Übermacht zu erwehren. Hinzu kommt, dass die russischen Truppen in der Region systematisch ukrainische Städte beschießen, vorwiegend in der Oblast Charkiw. Vor allem aus diesen Gründen ist die Region Belgorod zu einer wichtigen Zielscheibe ukrainischer Gegenangriffe geworden. Satelliten und Drohnen können dabei die Koordinaten liefern, aber auch (pro-)ukrainische Partisanen vor Ort betreiben Zielaufklärung.

Einen solchen Zielaufklärer hat Viktoria Litwin zufällig kennengelernt. Für die Novaya Gazeta Europe hat sie mit ihm darüber gesprochen, wie er den Krieg dorthin zurückbringt, wo er herkommt – und wie er mit zivilen Opfern auf dem Gewissen umgeht. 

Quelle Novaya Gazeta Europe

Die Folgen des Beschusses eines Öldepots in Belgorod, 1. April 2022. Foto © Viktoria Litwin

Nahe der russischen Botschaft in Warschau ist ein Nawalny-Denkmal errichtet. Ich gehe mit einer Freundin hin, von dem Foto schaut uns ein lachender Alexej an. Das Wetter ist feucht, manchmal fällt Schnee und taut gleich wieder. Ich bin aus Belgorod, meine Freundin aus Moskau, sie ist Aktivistin. 

„Weißt du, bei uns in Belgorod hat der Bürgermeister nach Nawalnys Verhaftung mal zu einem Journalisten gesagt, es sei nichts gegen oppositionelle Demos einzuwenden. Das kann man sich jetzt kaum noch vorstellen.“ 

Etwas abseits bemerke ich einen großgewachsenen Typen in Springerstiefeln und khakifarbenen Hosen. Er scheint schon eine Weile hier zu stehen und als er mich hört, dreht er sich erstaunt um. 

„Du bist auch aus Belgorod?“, fragt er mich. Ich nicke. 

„Hier, schau mal“, sagt er und holt etwas aus seiner Hosentasche. Es entpuppt sich als eine Flagge der „Volksrepublik Belgorod“ – so wird die Oblast Belgorod scherzhaft von Aktivisten genannt, in Anlehnung an die „Volksrepublik Donezk“. Viele meiner Bekannten in Belgorod machen Witze über die BNR, obwohl natürlich niemand von ihnen von einer „Dekolonisierung“ träumt oder Flaggen druckt. 

Wir stellen uns vor. Finden schnell heraus, dass wir gemeinsame Bekannte haben. Auf einmal verkündet er: „Weißt du, fast alles, was jetzt in der Oblast Belgorod einschlägt, geht auf meine Kappe.“ Ich war bei vielen Einschlägen, von denen er erzählt, vor Ort und habe fast über alle geschrieben. Und jetzt steht ein Typ vor mir, der mir ohne Umschweife erklärt, dass das sein Verdienst ist – Brände, eingeschlagene Fenster, niedergebrannte Häuser und ihre toten Bewohner. 

Ich vereinbare einen Interviewtermin. 

Als wir uns treffen, bestellt er im nahegelegenen Café einen Cappuccino und ein süßes  Brötchen. 

„Wie bist du dazu gekommen?“ 

Er nippt an seinem Kaffee, beißt vom Brötchen ab und setzt zu seinem vierstündigen Bericht an. 

Aktivist 

„Als ich in die Politik gegangen bin – das war 2011 – war ich noch in der Schule. Ich habe einen Auftritt von Udalzow gesehen. Damals hat er auf der Bühne ein Porträt von Putin zerrissen. Ich wusste, dass Putin ein Arsch ist, weil er an der Militäroperation in Georgien beteiligt war. Ich kannte ein paar Georgier, und mir war schon damals klar, dass Russland der Besatzer ist. Und hier steht einer, der das Porträt von diesem allgegenwärtigen, allmächtigen Putin zerreißt. Das hat mich sehr beeindruckt. 

Dann begann der Maidan. Ich schrieb im Gruppenchat an meine Freunde, die politisch ähnlich tickten: ‚Seht euch mal den ukrainischen Maidan an, das ist auch für Russland eine Chance.‘ Und die schrieben zurück: ‚Das sind doch alles Banderowzy, Nazis, die hassen uns Russen.‘ 

Einer meiner Bekannten ist sogar in den Donbas kämpfen gegangen, noch 2014. Ich war schockiert, ich dachte bis dahin, er wäre vernünftig. 

Ich habe mich von diesen Leuten distanziert, bin fast ganz raus aus dem politischen Aktivismus in Russland. 

Ich habe die Ukraine immer geliebt, war oft in Charkiw. Das war wie eine zweite Heimat für mich. Aber die meisten meiner Bekannten erzählten, dass die Ukraine Gas stehlen würde, dass sie kein richtiger Staat sei, sondern ein erfundenes Konstrukt, und die ukrainische Sprache nur ein verunstaltetes Russisch. So was sagten sie …“ 

Allmählich nähert sich seine Erzählung dem Jahr 2022 – und da bekomme ich eine filmreife Geschichte darüber zu hören, wie er anfing, mit den ukrainischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. 

Mein Gesprächspartner hatte unmittelbar vor dem Krieg als Taxifahrer und Verkaufsvertreter gearbeitet. Als 2022 in den Grenzgebieten Truppen zusammengezogen wurden, beschloss er, Informationen darüber zu sammeln und sie den ukrainischen Geheimdiensten zuzuspielen. Dann brauchte ein russischer Hauptmann ein Taxi nach Belgorod, der fragte wiederum, ob er mal „ein paar Jungs anrufen könne“, und so ging es los. 

Mein Gesprächspartner erzählt detailliert, wie er betrunkene Militärs in die Sauna fuhr, wie er ihre Gespräche heimlich mitschrieb und einen Haufen Geheiminformationen bekam. 

„Es war vor allem dieser Hauptmann, der mir diese ganzen Jungs vermittelt hat: Wenn der bei mir im Auto saß, faselte er über Gott und die Welt! Ich schaltete manchmal sogar das Diktiergerät ein, und er merkte es gar nicht …“ 

Für die beschafften Informationen wurde mein Gesprächspartner nach eigener Aussage von den Ukrainern bezahlt. Sein „Honorar“ – tausend Dollar – hätten sie auf russischer Seite nahe der Grenze vergraben und ihm dann die Koordinaten mitgeteilt. 

„Dann habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin weg“, setzt er seinen Bericht fort. „Ich hatte eine Abmachung mit den ukrainischen Jungs, denen ich half. Am 18. Februar hörte ich, dass in der DNR und LNR eine Massenevakuierung und Mobilmachung ausgerufen wurde. Da beschloss ich zu fliehen.“ 

Die Redaktion konnte die Aussagen nicht überprüfen. Unser Gesprächspartner erklärte, er habe beim Grenzübertritt fast alle Daten von seinem Handy gelöscht und könne uns deshalb weder die Chats noch die Diktieraufnahmen zeigen. Das erscheint durchaus plausibel. 

Uns wurde allerdings bestätigt, dass er wirklich in Belgorod als Taxifahrer gearbeitet und in jenen Tagen mindestens ein Video aus einer Grenzsiedlung in den sozialen Netzwerken gepostet hat. Er konnte uns auch den Nachnamen eines der Militärs nennen, der damals nach Belgorod versetzt wurde – und wir haben dessen Account in den sozialen Netzwerken gefunden. Außerdem kannte er Koordinaten von Militärstützpunkten. 

Rauch nach dem Beschuss des Umspannwerks „Lutsch“ 14. Oktober 2022. Foto © Viktoria Litwin

Wahr ist sicher auch, dass er nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion die Koordinaten der russischen Objekte den Ukrainern zuspielte. 

Und da ist noch eine Tatsache, die ich nicht anzweifle: Mein Gesprächspartner hat ein enormes Bedürfnis, Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ich möchte meinerseits verstehen, wie und warum man bei Beschüssen von Zivilisten mitmachen will. 

Schuss und Treffer 

„Am 24. Februar erklärte Putin den Krieg, sie gingen auf Charkiw los“, setzt der Spitzel fort. „Eine Flut von Videos, Mitschnitten. Und da begann dann meine Arbeit mit OSINT. Ich ermittelte anhand von Karten, zufälligen Videos und aus dem Gedächtnis, wo die Technik steht. Diese Information übermittelte ich den ukrainischen Geheimdiensten.“ 

Er zählt eine lange Liste von Attacken auf, an denen er beteiligt gewesen sein will. Zum Beweis zeigt er mir Chats mit seinen ukrainischen Kontaktmännern, in denen er die Koordinaten teilt, die später beschossen werden würden. 

„Ich glaube, dass genau dadurch [durch den Beschuss eines Erdöllagers, der dazu führte, dass der Armee der Treibstoff ausging – NG] die Offensive auf Charkiw vereitelt wurde“, sagt er. „Dort befanden sich alle Vorräte. Ich habe ihnen [den Ukrainern – NG] alles praktisch bis auf den Meter genau beschrieben: was, wo, wie.“ 

Besonders ausführlich beschreibt er, wie genau er in der Oblast Belgorod Informationen sammelt, die er an die ukrainischen Sicherheitsdienste weitergibt. Er erinnert sich zum Beispiel an ein TikTok-Video, das Kolonnen von russischer Kriegstechnik an einem gut erkennbaren Ort zeigte. Dieses Video hatte ein Taxifahrer gedreht: „Er wusste nicht, dass es Leute gibt, die alle Punkte in der Region Belgorod zuordnen können.“ 

„… Auch eine Operation, die unmittelbar auf uns zurückgeht: Als russische Reporter in Schurawlewka-Nechotejewka filmten, konnte man sehen, wo die Russen stationiert waren. Viele russische Stellungen wurden also von russischen Journalisten und Reportern selbst verraten.“ 

Während er diese endlose Liste von Angriffen auf die Oblast Belgorod aufzählt, sagt er plötzlich: „Wir erstellten eine eigene ‚Schindlers Liste‘. Das war so ein Witz. Schindler hat ja alle gerettet, aber wir knallten alle ab. Das fanden wir lustig. Auf dieser Liste standen alle Erdöllager, sämtliche Umspannwerke, Fernsehmaste. Plus, wir wussten, dass der Gouverneur der Oblast Belgorod im Dorf Nishni Olschanez wohnt. Dieser Gladkow ist der letzte Vollidiot, er postet oft Videos, wie er morgens seine Joggingrunde dreht. Dann haben wir auch noch die Seiten von seiner Frau und seiner Tochter gefunden. Da beschlossen wir also, Gladkow ins Visier zu nehmen, der ist nämlich ein echter Gauleiter, ein Nazi. Und das haben wir gemacht.“ 

Ich bestätige: Im November 2022 wurde Nishni Olschanez tatsächlich beschossen. Zwei Menschen wurden verletzt. Gladkow war nicht dabei. 

Oskol 

„… Ich habe eine Operation entwickelt, um das Stahlwerk in Oskol lahmzulegen. Es ist eines der größten Werke in Russland zur Herstellung von legiertem Stahl – hochwertigem Stahl, der vom Militär verwendet wird. 

Die Informationen zu diesem Werk stammen aus dem Open Source: Ein Student hat dort ein Praktikum absolviert und eine umfangreiche Hausarbeit über den Aufbau der Anlage geschrieben, das war noch vor dem Krieg. Wie das Werk funktioniert, über alle Systeme, wo sich was befindet. Es gab eine Menge solcher Fakten, die sehr hilfreich waren. 

Unsere Idee war, den Strom zu kappen, damit der Stahl in den Öfen aushärtet und diese dadurch unbrauchbar werden. Die Wiederherstellung kostet sehr viel Zeit.” 

Der Zielaufklärer entsperrt wieder sein Handy, das auf dem Tisch liegt, und sucht in seinen „Rapports“ – so nennt er seine Meldungen – nach diesem Plan. Er findet den richtigen Chat und zeigt ihn mir. Der Text ist auf Ukrainisch, ich überfliege ihn und verstehe, dass es wirklich um diesen Angriff geht. Flächenangaben, lauter Koordinaten, ein paar Karten mit bunten Markierungen und das Datum, an dem die Nachricht gesendet wurde: 26. Januar 2024. Der Angriff selbst wird am 23. März 2024 stattfinden. „… Außerdem fand der Militärnachrichtendienst Saboteure, die auf dem Gelände der Nebenstellen Sprengsätze auslegten. Es war ein kombinierter Angriff, sozusagen. Wir haben die Fabrik neutralisiert, aber leider keine Ahnung, für wie lange.“ 

„Augen“ 

„Sogenannte Augen werden an Ort und Stelle bezahlt, ja. Obwohl es auch Freiwillige gibt, die sich unentgeltlich engagieren. Die sagen, sie wollen nichts verdienen, sie nehmen nur die Fahrtkosten, also Benzingeld, mehr nicht. Ich bekomme momentan auch nichts bezahlt. 

Alle unsere Freiwilligen wissen, für wen sie arbeiten. Alle wissen das, es ist kein Geheimnis …“ 

Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

Im Laufe unseres Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass die ukrainischen Geheimdienste auf dem Gebiet der Oblast Belgorod sehr breit aufgestellt sind. Das wundert mich, denn seit den ersten Kriegstagen spüren die Bewohner der Grenzregion unter ihren Bekannten und Nachbarn „Verräter“ auf. So war es sogar für Journalisten schwierig, in die grenznahen Dörfer zu gelangen: Die Einheimischen, die „schon immer hier leben und alle persönlich kennen“, melden jeden mit einer Kamera sofort den Behörden oder gleich dem FSB. Auch Flüchtlinge aus der Ukraine haben kein leichtes Spiel. Insofern ist es eigentlich sehr gefährlich, in der Oblast Belgorod als Partisan zu agieren. 

Doch mein Gegenüber breitet ein ganzes Panorama einer riesigen Partisanenbewegung vor mir aus.  

„Wir haben auch für Anschläge auf den FSB unterstützt, dabei wurden sogar dessen Mitarbeiter verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten sie gerade eine Lagebesprechung zur Oblast Belgorod: Es war Ende Mai 2023, das Russische Freiwilligenkorps und die Legion stießen in [die russische Grenzstadt – dek] Grajworon vor. Und die FSB-ler, diese Deppen, luden zu einer Besprechung direkt in ihr Büro. Wo sie dann auch ein schöner Gruß aus der Luft erreichte. Unsere Männer behielten damals das Gebäude im Visier und sahen, wie mehrere Krankenwagen von da losfuhren. Ja, und auch wenn das den FSB-lern überhaupt nicht schmeckt, es gibt unter ihnen einfach welche, die uns zuarbeiten. Manche haben eben echt Mitleid mit der Ukraine und wollen helfen.  

Das mit dem 30. Dezember und dem Beschuss von Belgorod ist sowieso interessant“, setzt er fort. Er meint einen tragischen Vorfall im Jahr 2023 mit 25 Toten und über hundert Verletzten. „Unsere Partisanen hatten herausgefunden, dass über einen lokalen Flughafen S-300-Raketen in die Oblast Belgorod gebracht werden, nämlich mit regulären Flügen aus anderen Regionen. Wir wussten außerdem, dass sich die Abschussrampen direkt neben dem Flugplatz befinden, außerhalb von Belgorod nahe Schopino und Nowosadowo. Dementsprechend wollten wir auf diese Ziele feuern: Die Ukraine versuchte, mit Raketenwerfern den Flughafen und die Abschussrampen zu zerstören. Südlich von Belgorod flogen dann Panzir-Abwehrraketen (der russischen Armee) hoch, um diese Raketen abzufangen. Der Panzir ist so ein System, das nicht die Rakete selbst zerstört, sondern auf ihren Antrieb zielt. Das heißt, die Raketen fliegen über Belgorod, der Panzir zerschießt ihnen den Antrieb, und sie fallen den Belgorodern auf die Köpfe.“  

Während ich mit ihm spreche, erinnere ich mich, wie ich an jenem schrecklichen 30. Dezember langgezogenes Tuten im Telefon hörte. Auf meinem Display stand „Mama“, außerdem war da ein Foto mit einem Geschoss vor dem Gebäude, in dem sie arbeitete.  

Meine Mama hob ab, sie hatte an dem Tag frei. Ich kenne aber auch Leute, deren Angehörige nicht mehr abhoben. 

Der Zielaufklärer spricht weiter: 

„So hat sich Putins Armee hinter der eigenen Bevölkerung verschanzt. Wenn du mich fragst, ist das ein Verbrechen. Wenn die Ukrainer es auf die Zivilisten abgesehen hätten, dann hätten sie doch flächendeckend Dubowoje beschossen, da wohnen die reichsten Leute der Oblast Belgorod, und die Bevölkerungsdichte ist ziemlich hoch.“  

Oblast verlassen 

Am 1. Juni 2023 war ich in Schebekino und schrieb an einer Reportage. Später meldeten die Behörden der Oblast Belgorod, dass an jenem Tag 850 Geschosse auf das Stadtgebiet gefallen seien: Ich erinnere mich, wie mich ein Einheimischer ins Stadtzentrum mitnahm, wo ich zerstörte Häuser fotografierte. Es kamen drei Raketen angeflogen, dann war da ein Sausen und Pfeifen, und ein paar Sekunden später lagen Grad-Geschosse zwanzig Meter von uns entfernt verstreut. Weiter erinnere ich mich nur bruchstückhaft: Ich laufe die Straße entlang, überall Glasscherben und Mauerschutt. Am Horizont steigen Rauchsäulen in die Höhe.  

Als ich den Zielaufklärer nach Schebekino frage, setzt er genauso sachlich fort: „An Schebekino haben wir lange herumgedacht, weil wir wussten, dass die russische Armee im Maschinenbauwerk ihr Kriegsgerät reparierte. Das Krasseste war aber, wie Schebekino Ende 2022 mit Granaten beschossen wurde und die Schäden eindeutig darauf hinwiesen, dass sich da die russischen Truppen selber beschossen hatten.“ 

Ich glaube ihm das nicht. Er überschüttet mich mit den technischen Spezifikationen der Geschütze, weiß noch auswendig, wie weit sie flogen und wie viel Zerstörungskraft jede einzelne hatte. Wir scrollen durch Fotos der Ortschaft, ich öffne ein Onlinemedium von Schebekino und folge der Timeline zurück bis zum Juni 2023. 

Das erste Bild, das uns unterkommt, ist eine Rakete, die vor dem Gerichtsgebäude im Asphalt steckt. Er öffnet eine Karten-App und findet die Stelle sofort. Der Schwanz der Rakete zeigt eindeutig in Richtung Ukraine. Doch der Informant besteht darauf, dass alles auf einen Angriff vonseiten Russlands hinweise – etwa, wie die Erde rund um die Einschlagstelle weggeflogen sei. Er versucht, mich mithilfe eines Zuckerpäckchens zu überzeugen. Er nimmt es und beschreibt damit eine Flugbahn durch die Luft. Als die improvisierte Rakete auf dem Tablett aufschlägt, schleudert es den Zucker über die Tischplatte und das Tablett. Enthusiastisch demonstriert mein Gesprächspartner, wie der Zucker verstreut liegt – genau wie die Erde rund um die Rakete in Schebekino. Seiner Meinung nach ist das ein stichhaltiger Beweis dafür, dass Russland im Sommer 2023 Schebekino selbst beschossen hat: 

„Wir waren natürlich geschockt, das war regelrechter Terror vonseiten Russlands gegen die Bewohner von Schebekino!“, sagt er. „Soweit ich weiß, ist die ukrainische Armee ganz streng, wenn es um zivile Opfer geht, es gibt einen Befehl, die Bevölkerung in Ruhe zu lassen. 

Ansonsten glaube ich, Belgorod hat noch so einiges vor sich. Schindlers Liste wird weiter abgearbeitet. Belgorod ist beinahe mehr Ukraine als Russland. Vom Verhalten her, der Mentalität, ich habe ja den direkten Vergleich. Ich kenne die Belgoroder Mentalität und die Mentalität im Norden, in Twer, Orjol, Kaluga – die sind ganz anders als wir. Faule Säcke, rühren freiwillig keinen Finger.“  

Am Ende unseres Gesprächs scrollt er einfach nur noch durch die Fotos auf seinem Handy und kommentiert immer mal wieder, manchmal lachend. Ich stelle ihm kaum mehr Fragen.  

„Praktisch bei allem, was auf dem Gebiet der Oblast Belgorod zerstört wird, haben wir irgendwo die Finger drin. Ich würde sowieso allen anständigen Belgorodern empfehlen wegzugehen, auch die Oblast zu verlassen. Sie sollten lieber wegziehen, wenn sie eine Möglichkeit haben. Weil es weiterhin Angriffe geben wird und solange sich die russischen Soldaten hinter den Belgorodern verstecken, kann man nichts machen. Auch wenn wir zu den Beschüssen beitragen, auch wenn es die Gegend trifft, in der wir zu Hause sind, wir behalten trotzdem einen kühlen, klaren Kopf – wir wissen, dass Putin schuld ist. Die russische Gesellschaft, die Putin unterstützt, die russische Armee. Die Ukraine kann nichts dafür. 

Klar haben viele ihre Häuser und Wohnungen verloren, ihre vertraute Umgebung, und es gibt Todesopfer, Kinder und Erwachsene. Das versteht sich von selbst. Das ist schlimm.“ 

Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

Wieder habe ich ein Bild aus einer meiner Reportagen vor Augen. Schebekino, auch wieder 2023. Der kleine Sohn meiner Hauptfigur, der Splitter von Geschossen sammelt, die rund um sein Haus explodiert sind, steigt mit seiner Oma und einer Plastiktasche voller Sachen – alles, was er in der Eile zusammenpacken konnte – in ein Auto. Der Junge reist mit mir ab, während seine Eltern im Bombenhagel in Schebekino bleiben – sie haben einfach kein Geld, um ihr Kind zu begleiten. Zum Abschied sagt die Mutter leise zu mir: „Stell dir vor, du kommst an, und da ist kein Krieg.“ 

Wieder reißt mich der Zielaufklärer aus meinen Gedanken:  

„… Mein Haus wurde 2022 zerstört. Ich weiß, wie es passiert ist, aber es bringt nichts, darüber zu reden. Nur eines will ich sagen: Für die Zerstörung der grenznahen Dörfer in der Oblast Belgorod ist vor allem die russische Armee verantwortlich. Sie hat sich immer hinter einem Dorf positioniert und von da aus ukrainisches Territorium beschossen. Die Ukrainer haben zurückgefeuert. Manchmal mit Grad-Raketen. Und so wurden unsere Dörfer zerstört. Na ja, damals hatten die Behörden der RF diese Gegend bereits für unbewohnbar erklärt. Aber die Einheimischen …  

Widerstand leisten 

Wie viele von den zivilen Todesopfern in Belgorod ich persönlich gekannt habe? Ungefähr zehn mindestens. Alle waren für diesen Krieg, leider. Nur eine der Getöteten war dagegen. Kürzlich kam bei einem Beschuss das Kind eines Bekannten ums Leben. Dieser Bekannte war für den Krieg. War wohl Karma. 

Ich weiß, auch wenn ich dieses Interview anonym gebe, können sie mich nach solchen Äußerungen ausfindig machen und umbringen. Aber die Menschen sollen wissen, dass der Kampf lebt, dass das ein heiliger Krieg ist. Natürlich geht es mir nicht darum, berühmt zu sein und angehimmelt zu werden, sondern darum, dass die Menschen begreifen, dass man immer, in jeder Situation Widerstand leisten kann. Und auch muss, weil diese Welt auf unseren Schultern lastet, auf den Schultern jener, die sich wehren und kämpfen.“ 

Mein Gesprächspartner begleitet mich zum Bahnhof. Auf dem Weg frage ich ihn, ob er keine Angst hat. Russen, die der ukrainischen Armee helfen, werden manchmal sogar in Europa ermordet.  

„Ich glaub nicht, dass sie mich umlegen, guck mal meine Lebenslinie.“ Er fährt mit einer Fingerspitze quer über seine Handfläche. 

„Willst du nach dem Krieg zurück nach Russland?“ 

„Nein.“ 

„Auch nicht zu Besuch?“ 

„Nein.“  

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnose

Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

Gnosen
en

Russland und der Kolonialismus

Russland – ein imperialer Staat mit kolonialem Erbe? Was vor der Krim-Annexion 2014 und dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 lediglich ein Thema für Historiker war, ist mittlerweile ein zentrales Motiv unserer Gegenwart. Nun wollen nicht mehr nur Wissenschaftler, sondern auch Aktivisten und Kunstschaffende Russlands Kolonialgeschichte aufdecken. Das Bedürfnis, ein für alle Mal zu klären, dass Russland eine koloniale Geschichte hat, ist von großer politischer Bedeutung, denn es würde die offensichtliche Handlungsoption aufzeigen: die Dekolonisierung und somit eine Rückgabe der ehemals eroberten Gebiete.  

Eine solche „Dekolonisierung“ ist zu einem zentralen Motiv des Widerstands gegen das russische Regime geworden. Für die russländische Opposition wird das Thema jedoch zunehmend zur Zerreißprobe: Ist dieser „koloniale“ Krieg – schließlich geht es darum, fremdes Territorium zu erobern und zu besiedeln – den heutigen Machthabern im Kreml anzulasten oder muss man tiefer graben?  

Solche Fragen sind keine bloße Gedankenspielerei. Sie sind auch politisch relevant: Am 25. Juli 2024 erklärte der Oberste Gerichtshof der Russischen Föderation die renommierte Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde zum Teil einer angeblichen „antirussischen separatistischen Bewegung“. Als erste deutsche Organisation wurde sie zur „extremistischen Organisation“ deklariert, nachdem das Heft „Bodenprobe“ der DGO-Zeitschrift Osteuropa erschienen ist. In dieser Ausgabe kommen nicht nur Historiker zu Wort, sondern auch Aktivisten, die aufzeigen, dass im Inneren Russlands ein anti-kolonialer Widerstand wächst – gegen den Krieg und gegen die Regierung. 

Angehörige ethnischer Minderheiten aus Russland demonstrieren in London gegen den Krieg und die Mobilisierung © Thomas Krych / Zuma Press Wire/ Imago

Die Geschichte des russischen Kolonialismus ist lang und umstritten. Manche Experten sehen dessen Beginn in der Eroberung der Gebiete hinter dem Uralgebirge. Dort lebten entlang des Flusses Ob’ indigene Völker wie die Nenzen, Chanten und Mansen, die als anerkannte Minderheiten bis heute den (Nord-)Westen Sibiriens besiedeln. Das damalige Khanat Sibir' – eine Art Fürstentum, über das die muslimisch geprägten Tataren walteten – verleibte sich das russische Reich unter Führung des Kosakenanführers Jermak im 16. Jahrhundert ein. Jermak sind in Russland nach wie vor einige Denkmäler gewidmet. 

Andere wiederum setzen den Anfang russischer Kolonisierung schon 500 Jahre früher an. Bereits im 11. Jahrhundert betrieb Nowgorod Pelzhandel mit der indigenen Bevölkerung entlang des Flusses Ob’. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte erwarben auch Kyjiw und die Hanse Pelze aus Sibirien. „Handel“ ist dabei beschönigend: Die Pelze waren Tributzahlungen an den russischen Großfürsten. Um sie durchzusetzen, töteten seine Söldner bei Widerstand auch Frauen und Kinder.1 

Den Höhepunkt des Kolonisationsprozesses erreichte Russland im 18. und 19. Jahrhundert, als es den Kaukasus, das Baltikum, Alaska, große Gebiete Finnlands, Polens, Bessarabiens, Zentralasiens und Gebiete im östlichen Teil Asiens unterwarf. Durch diese gewaltsamen Eroberungen wurde Sankt Petersburg zum Machtzentrum des – nach dem Mongolischen Reich – zweitgrößten zusammenhängenden Reiches der Weltgeschichte.  

Je nach Territorium und Epoche wandte Russland unterschiedliche koloniale Strategien an. Neben militärischer Unterwerfung und dem Installieren wirtschaftlicher Kontrolle und eigener Verwaltungsapparate bediente sich der Zar kultureller und geopolitischer Strategien. Russisch wurde langfristig in den kontrollierten Gebieten als Verwaltungs- und Bildungssprache eingeführt. Eine weitere Strategie bildete der Siedlerkolonialismus, wie ihn beispielsweise die Zarin Katharina die Große im 18. Jahrhundert praktizierte, indem sie Einwanderer aus Europa anwarb. Dem Ruf folgten insbesondere Siedler aus ihrer deutschen Heimat, die sich – angelockt von Begünstigungen wie der Befreiung vom Militärdienst oder Steuererleichterungen – am Schwarzen Meer oder an der Wolga niederließen. 

Eine „gute“, sowjetische Kolonisierung? 

Die von Russland eroberten Gebiete und die Menschen, die wirtschaftlich ausgebeutet wurden, lagen nicht in Übersee, sondern auf zwei zusammenhängenden Kontinenten: Europa und Asien. Zudem erstreckte sich die Kolonisierung über mehrere Jahrhunderte. Deshalb verstehen Historiker den russischen Kolonialismus heute noch eher in Analogie zum preußisch-deutschen Ost- und Grenzkolonialismus oder zum US-amerikanischen Frontier Colonialism. Im spät-imperialistischen Russland etablierte sich vom Konzept des Binnenkolonialismus ausgehend die „Selbstkolonisierung“ als Begriff – ein Euphemismus, der darauf abzielt, den für die Geschichtsschreibung wichtigen Unterschied zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten zu verwischen.2 Er ist eine Chiffre für die erklärte Andersartigkeit des russischen Kolonialismus im Versuch, die russische Kolonisierung von der westlichen abzugrenzen. 

Die Bolschewiken unter Lenin wie auch spätere Vertreter des Sowjetsozialismus verstanden die vom russischen Zarenreich erworbenen Gebiete als „normale“ Kolonien. Das galt auch für ukrainische Gebiete.3 Diese Haltung hatte politisches Kalkül: Sie sollte den von der Februarrevolution 1917 erzwungenen Regimewechsel legitimieren. 

Lenin wollte die Länder und Gebiete des zerfallenen russländischen Imperiums in seinem Sinne dekolonisieren. Die einst vom Zarenreich unterworfenen Völker sollten ihre Staatsgebiete selbständig verwalten können. Die Unabhängigkeit verlief jedoch nicht so, wie es sich die Vertreter der ehemaligen Kolonien vorgestellt hatten. Denn Lenin setzte voraus, dass die Länder sowjetisch werden. Vor allem unter Stalin traten dann Sowjetisierung, Industrialisierung, Deportationen, Zwangsarbeit und Zwangskollektivierung an die Stelle der kolonialen Strategien des Russischen Reiches. Um die Kolonisierung voranzutreiben, arbeiteten Wissenschaftler ab 1922 in einem eigens dafür gegründeten Institut: dem Staatlichen Kolonisierungs-Institut (Goskolonit), wo sie an Konzepten für Umsiedlungen und wirtschaftlicher Nutzbarmachung forschten.4  

Obwohl sie selbst koloniale Strategien anwendete, hatte sich die Sowjetunion antikolonialen Widerstand auf die Fahne geschrieben. Wie schon bei Lenin, wurde die westliche Kolonisierung als ausbeuterischer Kapitalismus (Kolonisatorstwo) einem gemeinsinn- und kulturschaffenden Sowjetsozialismus entgegengestellt. Global relevant wurde diese Haltung spätestens 1960, als die Sowjetunion den ersten Entwurf für die UN-Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker (Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples) vorlegte.  

Das Papier schuf die formalen Rahmenbedingungen für Dekolonisierung weltweit – nur nicht in der Sowjetunion. Dabei konnte sie von der sogenannten „Wasser-Regel“ der UN profitieren, da sie zu diesem Zeitpunkt keine Kolonien in Übersee besaß. Ohnehin hatte ihre Dekolonisierung aus sowjetisch-russischer Perspektive bereits in den Jahren nach 1917 stattgefunden, als die Kolonien und Protektorate des Russischen Zarenreiches zu autonomen Republiken, Oblasten und Kreisen umgewandelt worden seien – unabhängig davon, was das für die tatsächliche Souveränität der betroffenen Gebiete bedeutete.  

Die Besonderheiten des sowjetischen Kolonialismus bekamen Nordost-, Ostmittel- und Südosteuropa während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu spüren. Als Konsequenz aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und der Niederlage der Nationalsozialisten 1945 beanspruchte die Sowjetunion Regionen und ganze Länder für sich, die vormals zum Russischen Reich gehörten. Die sowjetische Rückeroberung dieser Länder bedeutete für die betroffenen Regionen zwar eine Befreiung vom Nationalsozialismus. Doch der Preis dafür war die Angliederung an die stalinistische Sowjetunion. So entstanden nicht nur neue Sowjetrepubliken, sondern auch Satellitenstaaten – sozialistische Regierungen in Osteuropa, die politisch um Moskau kreisten. Ideologisch wurden sie als „Brüdervölker“ in die Propaganda der Sowjetunion integriert – immer unter der impliziten Annahme, dass Russland in der Hierarchie der „größere Bruder“ blieb. 

Russische Dekolonialisierung – zweiter Versuch 

Der Zerfall der Sowjetunion 1989–1991 kündigte die über Jahrzehnte von Moskau diktierte „Völkerfreundschaft“ auf. Es folgte eine Umstrukturierung der Sprachpolitik – Russisch war nicht mehr überall Amtssprache und die Erinnerungspolitik der nun unabhängigen Staaten berief sich nicht mehr ausschließlich auf sowjetische Errungenschaften. 

Dass die ehemaligen Republiken die sowjetische Vergangenheit als eine historische Ungerechtigkeit wahrnahmen, zeigt sich nicht zuletzt am massenhaften Abriss sowjetischer Denkmale. So wurden 2009 im georgischen Kutaissi, 2022 im lettischen Riga und 2023 im bulgarischen Sofia sowjetische Kriegsdenkmale abgebaut oder gesprengt. Internationale Aufmerksamkeit erregte 2022 die Verlegung eines sowjetischen Panzers nahe der estnisch-russischen Grenzstadt Narwa. Die damalige Präsidentin Kaja Kallas schrieb dazu auf Twitter: „Als Symbole von Repressionen und sowjetischer Besatzung sind sie [die Denkmale – dek] zu einer Quelle zunehmender sozialer Spannungen geworden – in diesen Zeiten müssen wir die Gefahr für die öffentliche Ordnung so gering wie möglich halten.“ Ein Panzer sei „eine Mordwaffe, kein Erinnerungsobjekt. Und mit denselben Panzern werden gegenwärtig auf den Straßen der Ukraine Menschen getötet“, so Kallas.5  

Diese symbolischen Aktionen der Dekolonisierung und der Abgrenzung rufen in Russland das Trauma der 1990er Jahre auf. Der Zerfall der Sowjetunion ist gleichsam wunder Punkt und zentrales identitätsstiftendes Moment des heutigen Regimes. Putin beschwört das wirtschaftliche, politische und soziale Chaos der 1990er Jahre als Schreckensbild eines Russlands ohne seine Führung. Der Kreml geht deshalb entschieden gegen Bewegungen vor, die sich weitere Abspaltungen von der Russländischen Föderation auch nur vorstellen.  

Der Film, den alle sehen wollen: Dekolonisierung Russlands 

Dennoch sind diese Vorstellungen heute von zentraler Bedeutung. Das gilt vor allem für Mittel- und Osteuropa und alle, die sich zur Opposition gegen das russländische Regime zählen. Fast drei Jahre nach dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine schwindet die Hoffnung, dass die russische Bevölkerung Widerstand leisten wird. Als einzige Rettung erscheinen die im Zuge der jahrhundertelangen Geschichte der Kolonisierung und Sowjetisierung unterdrückten Völker der Russländischen Föderation. Der ukrainische Filmemacher Oleksiy Radynski machte als einer der ersten auf dieses Potential aufmerksam: Die indigene Bevölkerung und die circa 180 Ethnien haben Radynski zufolge das Potential, wenn nicht sogar die moralische Verantwortung, sich an ihre Geschichten der Unterdrückung zu erinnern, sich mit den Ukrainern zu solidarisieren und sich zu wehren.6 

Radynski präsentiert die Ukraine als ein Modell für die Dekolonisierung der Russländischen Föderation. Er sagt, die Ukrainer trügen eine historische Verantwortung, denn einst seien sie selbst Kolonisatoren gewesen. Damit meint er die Ausweitung des russischen Reiches von Kyjiw aus und wahrscheinlich auch den Einsatz der Kosaken bei der Kolonisierung Sibiriens. Deshalb sei die Ukraine nun in der Pflicht, sich an der Dekolonisierung Russlands zu beteiligen. So verstanden wäre der ersehnte Sieg der Ukraine im aktuellen Angriffskrieg ein erster Schritt auf diesem Weg.  

In Analogie dazu ruft er Baschkiren und Burjaten auf, sich gegen die kolonialen Ansprüche der russländischen Herrschaft zu wehren. Burjatien ist eine der ärmsten Republiken Russlands. In ihrer Armut ausgenutzt, werden viele Männer aus der Republik im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt.  

Konsequent zu Ende gedacht, würde der Zusammenschluss all jener russländischen „Anderen“ womöglich zum Zerfall Russlands führen. Ein solcher wäre radikal genug, um der langen Geschichte der russischen Kolonisierung ein Ende zu setzen. Das wäre ein Film, den mittlerweile viele sehen wollen. Aber selbst wenn dieser Film heute produziert würde, wäre er noch weit von der Realität entfernt. 


Yuri Slezkine, Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North, Cornell University Press, Ithaca/London, 1994, S. 16. 
Alexander Etkind, How Russia ‘colonized itself’. Internal Colonization in Russian Classical Historiography, in: International Journal for History, Culture and Modernity, 3 (2), 2015, S. 162. 
3  “(…)Украина окончательно превращается в 19 в. в русскую колонию, в которой русское правительство усиленно начинает искоренять всякие следы национальных особенностей, а украинский народ окончательно становится угнетенным, задавленным национальным гнетом и крепостным правом.“ Malaja Soveckaja Enciklopedia 9, hg. von N.L. Meščeryakov, Moskau 1931, S. 116. “Die Ukraine wird schließlich im 19. Jahrhundert zu einer russischen Kolonie, in der die russische Regierung beginnt, alle Spuren nationaler Eigenheiten auszumerzen, und das ukrainische Volk wird schließlich unterdrückt, von nationaler Unterdrückung und Leibeigenschaft erdrückt.” (trans. M.G.). 
4 Dies betraf u.a. folgende Länder mit der Präzisierung, welche Rohstoffe für die Kolonisierung relevant sind: Der Norden der RFSR (Wald, Fisch, Erdöl), Kaukasus (Textil, Erdöl, Bergbau), Turkestan (Erdöl, Bergbau), Kirgisien (Untergrund), Sibirien (Wald, Fisch, Pelz, Untergrund), Fernost (Pelz, Gold, Fisch, Erdöl), Ural (Bergbau), Wolgaregion (Ansiedlung der Industrie), Süd-Ost (Salz, Erdöl), Ukraine (Donbass), Zentralland (Kursk: Eisen). 
5 tagesspiegel.de: „Quelle zunehmender sozialer Spannungen“: Estlands Regierung will bis zu 400 sowjetische Denkmäler demontieren. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/estlands-regierung-will-bis-zu-400-sowjetische-denkmaler-demontieren-859255...
6 Oleksiy Radynski: The Case Against the Russian Federation, in: e-flux 125 (2022), URL: https://www.e-flux.com/journal/125/453868/the-case-against-the-russian-federation/ 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)