Siarhej Kalenda, geboren 1985, ist ein belarussischer Schriftsteller und Kulturwissenschaftler, er ist zudem Herausgeber der Zeitschrift Makulatura, deren Ziel nach eigener Aussage die Entwicklung der belarussischen Kultur unter Überwindung sprachlicher Grenzen ist. Kalenda gründete die Zeitschrift im Jahr 2012. Seit 2018 heißt sie Minkult.
Wie tausende Belarussen hat Kalenda seine Heimat im Zuge der Repressionen nach 2020 und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verlassen. Aktuell lebt er im litauischen Vilnius, wo er als Friseur sein Geld verdient. Für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung spürt Kalenda in seinem Essay den Ereignissen nach, die Belarus nach 2020 durchgeschüttelt und in eine tiefe Krise gestürzt haben: dem Aufschrei in den Protesten, der Gewalt durch Polizei und Staat, den Repressionen, schließlich dem Krieg im Nachbarland. Wie lässt sich aus all dem und aus der historischen Erfahrung, die die Belarussen geprägt hat, ein Gedankengang in die Zukunft entwickeln?
Belarussisches Original
Belarussische Realität, Politik und Weltanschauung, das heißt: angegriffen, angeklagt, bedroht, beschimpft werden als Terrorist, als Faschist, als Fünfte Kolonne und Nationalist. Die Begriffe sind in diesem Land so verzerrt, alles ist so auf den Kopf gestellt, dass aus Frauen mit Blumen in einer Solidaritätskette Terroristinnen werden, die sich dem Westen anbiedern und der blühenden Republik Belarus den Tod wünschen. Die Institution, die eigentlich Verbrecher fassen und Straftaten, Diebstähle und häusliche Gewalt aufklären soll, schlägt jetzt Fensterscheiben von Kaffeehäusern ein, in denen sich Jugendliche mit weißen und roten Ballons verstecken, und stürmt nachts die Wohnungen einfacher Bürger, um sie aus den Betten zu reißen. Es ist ein Land der Rache und des Bösen, und das nehmen auch meine Kinder wahr, die sich umschauen und mich fragen: Warum schlägt die Polizei die Menschen, sind sie etwa schlecht?
Bedarus – das ist kein Tippfehler, beda heißt Not – hat in diesem Zustand und bei der gegenwärtigen Entwicklung der Ereignisse keine Zukunft. Der Diktator hat sich innerhalb von dreißig Jahren in einen furchtbaren, blutrünstigen Clown verwandelt, einen boshaften alten Mann, der so verlogen, so korrupt und so zynisch ist, dass er der Ukraine nonchalant zum Unabhängigkeitstag gratuliert, während die Raschisten (so nennen wir sie jetzt) täglich von belarussischem Territorium aus Raketen auf die Ukraine abfeuern.
Vor längerer Zeit habe ich begonnen, Geschichten von gewöhnlichen Belarussen zu sammeln, von Beamten und Werksleitern, und ich habe begriffen, dass das Land in diese allumfassende Krise geraten ist durch Menschen, die nach folgenden Prinzipien leben: sich bloß nicht hinauslehnen, tun, was einem gesagt wird, mein Name ist Hase, besser Befehle ausführen als selbst denken, keine Initiative zeigen, was werden sonst die Nachbarn sagen? Mit all diesen Volksweisheiten wuchs auch ich auf, meine Großmütter lehrten mich das, aber schon meine Mutter stellte all diese Thesen in Frage, und durch solche wie sie entstand eine neue Generation, die mutig und frei ist. Diese neue Jugend entwickelte sich parallel zu einem anderen Teil der Gesellschaft, der den sowjetischen Lebensstil mitsamt seinen sklavischen Prinzipien fortführte.
„Bloß keinen Krieg“ – das war für alle das zentrale Mantra, es flößte Furcht ein, wollte Unterordnung und hielt einen davor zurück, sich zu weit hinauszulehnen.
Das Buch mit den Geschichten über gewöhnliche Belarussen habe ich nie geschrieben, nur einen Titel hätte ich schon: „Wie wir alles in die Sch*ße geritten haben“.
Eine neue, vernünftige Generation ist herangewachsen. Die Hälfte von ihnen hat das Land verlassen – Menschen, die dieses furchtbare und schwere Schicksal, in einem unterjochten Land zu leben, ändern wollten. Die andere Hälfte ist verstummt, doch hoffentlich nicht für immer. Man darf nicht vergessen, dass diese neue Generation parallel zu einer anderen neuen Generation entstanden ist, die alle diktatorischen Tendenzen und Sichtweisen unterstützt. Wir haben also zwei Belarus: eines von Zichanouskaja und eines von Lukaschenka, und eigentlich sollte unserem Land eine schöne Zukunft blühen, denn es gibt eine Entwicklung, die wieder einmal gezeigt hat, dass die belarussische Kultur genauso wenig auszulöschen ist wie unser „Ihr haltet uns nicht auf! Ihr unterdrückt uns nicht!“
Doch ich möchte ganz am Anfang beginnen, mit dem, was ich aus meiner Kindheit mitgenommen habe, als mein Vater dem Streikkomitee beitrat und sich am Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft im MAZ-Werk beteiligte, als er mit Massen von Arbeitern demonstrierte, bewaffnet mit Brechstangen und Schraubenschlüsseln, und sich unterwegs weitere Gruppen ihren Reihen anschlossen: vom MTS-Werk, aus der Kugellagerfabrik ... Die Arbeiter drängten ins Zentrum, zur Roten Kirche. Plötzlich war es möglich, sich frei zu äußern, die Sowjetunion war vorbei, es gab nur noch uns, lebendige Menschen, die glücklich sein wollten anstatt dahinzuvegetieren. Doch auf die Straßen zu gehen, war nicht genug, denn die Menschen, die die Entscheidungen trafen, waren nicht da, sondern saßen in ihren Amtsstuben ...
Ergebnis dieser ersten Kundgebungen der 1990er Jahre war: Clinton kam zu Besuch, schüttelte demonstrierenden Hauptstadtbewohnern die Hand und reiste wieder ab. Dann kam Lukaschenka, ließ schon damals die Luft erzittern mit seinen Ankündigungen, er werde allen zeigen, wer den Staat bestiehlt, wer Schuld ist, dass die Löhne so niedrig sind, und wedelte sogar mit irgendwelchen Akten, als hätte er Beweise. Alle hörten ihm zu, sahen im Hintergrund die weiß-rot-weiße Flagge und beruhigten sich. Dieser junge, schnurrbärtige Kerl im zu großen Anzug versprach den Belarussen damals noch das Blaue vom Himmel. Und die Belarussen schliefen getrost ein, um schließlich in der BSSR-2 zu erwachen, einer Version aus Kommunismus, verrührt mit Kolchosgewäsch und Schizophrenie.
Ich hatte in meiner Kindheit und auch in der Schule mit lauter freien jungen Menschen zu tun, die von den besten Lehrern unterrichtet wurden. Wir durften streiten und Gedanken äußern, die allgemein anerkannten Ansichten zuwider liefen. Meine Mutter sagte zuhause immer, dass man eine eigene Meinung und eine eigene Sicht auf alles in der Welt haben soll und besser allem mit Skepsis begegnet, besonders, wenn es von einer Bühne, einem Lehrerpult oder einer Tribüne herab verkündet wird, und dass man den eigenen Kopf zum Denken hat.
Die Generation meiner Eltern wuchs mit einem kaputten Ego auf, denn in der UdSSR gab es nicht nur keinen Sex, sondern auch kein Ich. Vielleicht erzogen sie uns deshalb zu freiheitsliebenden Menschen, die als Erwachsene nicht in einer Sklavenwelt leben wollen und das Böse bekämpfen. Belarus ist das Land der Partisanen, freier Menschen, die bereit sind, sich im Wald zu verstecken, bis ihre Zeit gekommen ist, in der sie sich rächen und die einfachsten Dinge für sich beanspruchen: ein besseres Schicksal, Brot und ihr eigenes Land. Daher übernahmen wir ab der Oberstufe den Protest unserer Eltern, schlossen uns den Menschenketten auf dem Bahuschewitsch-Platz an, als es schwierig wurde, den Bullen über die Anhöhen zu entkommen – so kriegten sie uns, Sechzehnjährige, dennoch nicht. Während des Studiums demonstrierten wir auf dem Platz, schlugen Zelte auf, um zu zeigen, dass das unser Hier und Jetzt ist, dass die Stadt und das ganze Land uns gehören – und wir wurden alle verhaftet, geschlagen, eingebuchtet. Wir wurden von der Uni exmatrikuliert, aber nicht so öffentlich und grausam, wie es seit 2020 geschieht. Man muss auch sagen, dass damals die Dozenten und Professoren die Studenten noch beschützten, indem sie uns Alibi-Bestätigungen ausstellten, laut denen wir zur Zeit der Proteste Prüfungen absolviert oder an Konferenzen teilgenommen haben ...
Ich durfte selbst eine Zeit erleben, in der Europa sich für Belarus zu interessieren begann, in der Touristen nach Minsk kamen, in der die Infrastruktur entwickelt und verbessert wurde. Im Stadion begrüßten wir die englische, die schottische und die deutsche Fußballmannschaft. Unsere Mannschaft BATE spielte in der Europa League. Britische Franchise Stores wurden aufgemacht: Mothercare, Fashion Bar, Toni&Guy. Deutsche Investoren und Bauunternehmen kamen zu uns. Belarus war nicht mehr nur für Russland und eine Handvoll arabischer Staaten interessant. Es gab einen unausgesprochenen Konsens mit den Machthabern, dass kulturelle Entwicklung sein darf, nicht nur populäre Unterhaltungsinfrastruktur, sondern auch Ausstellungen, Konzerte und Literatur.
Unglaublich schnell, innerhalb weniger Tage und Monate, entstand bei uns ein richtiges, vollwertiges Leben – im eigenen Land. Aber ... aber nur bis zu den nächsten Demonstrationen, bis zu neuerlichen Protesten, und schon wurden wir wieder in die Vergangenheit gedrängt und wunderten uns, wie kann das sein?! Wie kann man im 21. Jahrhundert Menschen so foltern und töten, wie kann man Sprache und Bücher verbieten? Ganz einfach: Gebt einem Menschen das Machtmonopol über die Industrie, über das ganze Land, gebt ihm Zeit, sein Umfeld aufzubauen mit kastrierten Beamten und dummen Militärs, und ihr werdet niemals frei sein, sondern immer nur abhängig vom furchtbaren, blutrünstigen russischen Nachbarn, in Geiselhaft eines einzelnen kranken alten Mannes.
Jedes einzelne Jahr trägt für die Belarussen eine Markierung. Sie durchleben scheinbar mehrere Jahre in einem, denn es gelingt ihnen sich aufzurappeln, Mut zu fassen, Leben und Arbeit aufzunehmen, nur um dann wieder aus der Bahn geworfen zu werden und alles von vorn zu beginnen – und hier liegt die zentrale Erkenntnis: Belarus hat eine Zukunft, eine starke, mutige und vor allem erfahrungsreiche Zukunft: Beim nächsten Präsidenten wird sich das Land nicht so leicht hinters Licht führen lassen. Das Wichtigste ist, dass das Volk selbst über sein Leben und seine Regierung bestimmen kann.
Die Belarussen schwingen auf ihrer eigenen geografischen und geopolitischen Schaukel, und bislang hat es noch niemand geschafft, uns herunterzustoßen. Ja, wir pendeln zwischen Terror und Wiedergeburt hin und her, doch irgendwann wird die Schaukel sanfter schwingen und nicht so weit ausschlagen, dann werden wir um die Wahlen ringen, ruhig und mit Bedacht, und Straßenmusiker werden singen und Schaulustige auf dem Pflaster versammeln, das endlich unter dem festgefahrenen Asphalt hervorgeholt wurde, den allzu oft Paradepanzer zerfurchten.
Während des Großfürstentums Litauen, der Polnischen Adelsrepublik, des Russischen Imperiums und der Sowjetunion blieben Belarus und die Belarussen stets mit ihrer Sprache und ihrer Tracht bestehen, sie überlebten inmitten von anderen Sprachen und Kulturen. Dank ihrer Einzigartigkeit überstanden die Belarussen das alles, ihr nationaler Code bahnte sich seinen Weg durch andere Wurzeln, und jedes Mal, wenn wieder ein Tyrann alles ringsum niedergebrannt hatte, keimten die Sprossen mit der Zeit wieder von Neuem.
Im Moment sieht alles wieder nach Terror aus, nach Unterdrückung alles Belarussischen, Nationalen, Kulturellen. Viele, die auf Lukaschenkas Seite stehen, betrachten Kultur als nachrangig – andere Dinge seien wichtiger – und verhängen munter weiter Gefängnisstrafen wegen „Präsidentenbeleidigung“ gegen Künstler, Musiker, Bergarbeiter, Journalisten und Schriftsteller. Ohne Kinos und Museen kann man leben, Galerien brauchen wir auch nicht, Hauptsache, alle haben ihre fünfhundert Dollar Mindesteinkommen und was zu essen.
Eine düstere, furchtbare und hoffnungslose Zeit ist angebrochen, doch alles, was war – Kundgebungen, Märsche, Hofinitiativen, unser Kampf mit Blumen und Umarmungen gegen das Böse –, zeugt von einer neuen Generation, die dieses Chaos und diese Banditen ablösen wird, die hier alles auf den Kopf gestellt und verbogen haben: Wir retten hier zusammen mit dem illegitim gewählten Präsidenten das Land vor euch Faschisten und Terroristen! „Sprich normal mit mir, Missgeburt!“
Um die aktuelle Situation einzuschätzen, reicht die Feststellung, dass im Land ein furchtbarer Genozid passiert – eine Verfolgung von Sprache und Kultur, Gedankenfreiheit und Lebensweisen ... Doch andererseits gibt es in allen Ländern der Welt eine belarussische Diaspora, es gibt finanzielle Unterstützung für Kulturprojekte im Ausland, Hilfe für alle Menschen. Für den Preis der Kundgebungen und des Staatsterrors haben wir unseren Zusammenhalt und unsere Würde, und die werden uns und unserer Kultur für immer erhalten bleiben.
Wir Belarussen tragen eine schwere Last, wir mussten oft in anderen Kulturen, Zivilisationen und Imperien überleben, doch wir haben uns selbst, unsere Sprache und unsere Wurzeln nie vergessen. Und wenn wir von Identität sprechen, so leben überall auf der Welt Menschen, die sich liebevoll an ihr Leben in Belarus erinnern, an den Himmel, die Wälder, Felder und Flüsse, und die jederzeit gern bereit sind zurückzukehren und ihr Land neu zu bauen, ohne Tränen und verkrampfte Finger.