Auch über drei Jahre nach den Protesten von 2020 und deren Niederschlagung durch die Staatsmacht vergeht in Belarus kaum ein Tag ohne neue Festnahmen. Wie aber ist die Stimmung im Land? Wie lebt man unter einem hochrepressiven System? Ist Opposition überhaupt noch in irgendeiner Form möglich? Artikel und Reportagen, die die Atmosphäre im Land selbst beschreiben, gibt es eigentlich nicht mehr, da die Medien ins Exil gedrängt und in vielen Fällen zu „extremistischen Organisationen“ erklärt wurden und die Menschen Angst haben, Interviews zu geben.
Der belarussische Ableger von Mediazona hat mit drei Belarussen gesprochen, die in Belarus geblieben sind, und die Auskunft geben – über ihre Ängste, über gesellschaftlichen Widerstand und über den Blick von außen auf das, was in Belarus passiert.
Die Namen der Personen im Text wurden geändert, ihre Geschichten anonymisiert. Alle drei waren vor den Repressionen Leiter von Veranstaltungsorten oder Kulturorganisationen.
„Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.“
Igor, Unternehmer im Kulturbereich:
Ich habe mich vor einiger Zeit dafür entschieden, in Belarus zu bleiben. Weil ich im Kulturbereich arbeite, weiß ich, dass ich im Ausland für die belarussische Kultur nichts bewirken könnte. Im Exil kann man kulturelle Errungenschaften nur bewahren. Wie Ausstellungsstücke im Museum, mehr nicht. Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.
Derzeit ist es schwer, in Belarus Geld zu verdienen: die Preise steigen, der Lebensstandard sinkt, manche Waren sind verschwunden oder sehr teuer geworden. Aber ein vollständiger Zusammenbruch droht nicht. Und wo hat man es schon leicht und schön?
Die Behauptung, Belarus sei ein Konzentrationslager, ist Unsinn. Sogar das gegenwärtige Belarus ist von so einer Klassifizierung noch sehr weit entfernt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Situation je vollkommen anders gewesen wäre. Schon immer konnten Initiativen von unten wegen unzähliger Widrigkeiten nur mit Ach und Krach umgesetzt werden. Deswegen liegt den Belarussen Einfallsreichtum aber auch im Blut.
Ich brauchte einige Zeit, um mich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen, bis ich für meine Arbeit eine neue Routine fand. Wir versuchen etwas, wir kämpfen, wo wir können, wir erringen kleine Erfolge, freuen uns und machen den nächsten Schritt. Man kann eine Wiese noch so dick asphaltieren, das Gras kommt trotzdem durch. Erfreulich aber ist, dass vielen mittlerweile klargeworden ist, dass asphaltierte Wiesen nicht normal sind.
Sicher, es gibt heute weniger Menschen, die aktiv sind und denen nicht alles egal ist; viele haben das Land verlassen. Aber vieles ändert sich gerade, es bilden sich neue Kontakte, neue Formen der Vernetzung und der gegenseitigen Unterstützung. Und das hat zugenommen, denn es betrifft fast alle. Diese neuen kleinen Welten sind weiterentwickelte, verbesserte Versionen der alten. Deswegen stehen die Dinge bei uns gar nicht so schlecht, wie es scheint.
Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene
Seit 2020 sind drei Jahre vergangen. Die Jugendlichen von damals haben mittlerweile die Schule abgeschlossen und studieren. Ich sehe neue Menschen, die sich für ihre belarussische Identität interessieren. Wegen der Umstände passiert das heutzutage im Untergrund, der Prozess ist von außen nicht sichtbar. Doch er findet statt, er ist nicht verschwunden, hat sogar Fahrt aufgenommen. Allerdings haben die Menschen Angst, ihre Überzeugungen und Interessen im öffentlichen Raum zu zeigen – zurecht. Deswegen entsteht der Eindruck, alles wäre erstickt, verstummt und alle wären gleichgültig geworden. Aber der Schein trügt.
Es sieht nicht so aus, als würde sich jemand außerhalb von Belarus groß für die realen Zustände im Land interessieren. Man könnte sogar meinen, den Belarussen im Exil gefalle die Vorstellung von einem Belarus als Konzentrationslager, wo alles Lebendige vernichtet, verbrannt und unter einer dicken Schicht Asphalt verborgen ist. Aber so brutal die Ereignisse von 2020 auch waren, finde ich trotzdem, dass sie gut waren für die Entstehung einer belarussischen Identität und für Belarus. Diese ganze Bewegung für ein neues Belarus im Exil hingegen erscheint mir ein Fischen im trüben Sumpfwasser zu sein.
Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene. Die beiden haben sehr wenig Berührungspunkte. Ich würde mir weniger Heuchelei, weniger Dramatisierung und mehr Zusammenarbeit wünschen.
„Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten.“
Alexander, Person des öffentlichen Lebens:
Die Stimmung in Belarus ist derzeit alles andere als beflügelnd: Sie ist gefährlich und depressiv. Man könnte die Situation auch mit einer Geiselhaft vergleichen. Man ist gezwungen, so zu tun, als gehorche man den Terroristen, zu versuchen, sie nicht zu verärgern und möglichst wenig aufzufallen, damit sie einen nicht erschießen. Andererseits weiß man, dass man das eigene Land ist, und dass man dort leben möchte. Deswegen beflügelt mich derzeit nur eins: Hier zu bleiben, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten, wenn sich ein kleines Fenster für solche Möglichkeiten öffnet.
Der Regierung geht es nicht darum, alle Menschen zu vernichten, sie sollen nur eingepfercht werden und brav Befehle ausführen. Menschen, die schon lange eingepfercht sind, können aufrichtig behaupten, in Belarus hätte sich nichts verändert.
Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind
Schwieriger ist es für die Menschen, deren Vorstellung von Freiheit über Essen und Schlafen hinausgeht. Sie spüren dieses Konzentrationslager, weil sie ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen können. Man zwingt sie zu schweigen, und das ist für sie am schlimmsten. Denn nicht einmal im Bekanntenkreis ist es üblich, auszusprechen, was man denkt.
Das ist übrigens erstaunlich, denn früher war es anders. Ich bin seit 2001 Aktivist; es war immer möglich, gegenüber Bekannten, in der Partei oder im Netz, seine Meinung zu sagen, niemand sah darin was Schlechtes. Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind. Einige meiner Verwandten sind im Exil, ich weiß, was das bedeutet. Es ist sehr schwer, seine Heimat zu verlassen und im Ausland anzukommen.
Was die Zukunft von Belarus betrifft, so muss ich immer an ein Sprichwort denken: Als erstes sind die gestorben, die dachten, es geht bald vorbei. Nach ihnen sind die gestorben, die dachten, es wäre für immer. Geblieben sind die, die gar nichts dachten und taten, was sie konnten.
„Das Wichtigste in Belarus sind die Menschen.“
Stanislaw, Kulturaktivist:
In Belarus inspirieren mich die Menschen. Wenn du zu Hause sitzt und Nachrichten liest, erscheint alles furchtbar. Aber sobald du auf die Straße gehst, die Menschen siehst, wie positiv sie beim Einkaufen auf die belarussische Sprache reagieren, wie sie dich anlächeln – das inspiriert mich und das gibt mir Kraft.
Ich habe eine Zeitlang im Ausland gelebt, aber dort schnell den Mut verloren. Hier sehe ich die Stories von Menschen, die etwas machen, die sich zeigen, und möchte dabei sein. Manchmal, wenn ich an einem Feld vorbeifahre, einen Wald sehe, denke ich daran, dass ich jetzt nur ein Prozent davon verwirkliche, was ich könnte. Aber dieses eine Prozent verwirkliche ich in Belarus – das ist der wichtigste Antrieb, um hier zu bleiben.
Vor einem Jahr war ich bei einem Konzert von Nejro Djubel. Es war großartig: ein voller Saal, Slam, eine Wahnsinnsatmosphäre. Danach lese ich in den Medien, das Konzert sei von Spezialkräften aufgelöst worden. Das stimmt überhaupt nicht. Spezialkräfte waren zwar da, aber wegen einer anderen Veranstaltung, die erst danach stattfand. Das ist natürlich auch schlimm. Aber wenn du im Ausland sitzt und liest, ein Konzert von Nejro Djubel sei aufgelöst worden, denkst du nur: wie furchtbar. Aber in Wirklichkeit war es ein super Konzert.
Deswegen scheint es, wenn man nur die Nachrichten liest, als wäre alles im Arsch, aber wenn man hier ist, sieht man die Möglichkeiten. Natürlich merkt man, dass das Leben stillsteht, vieles findet nicht mehr öffentlich statt. Aber das Wichtigste in Belarus sind die Menschen. Und ich meine gar nicht die Aktivisten und Aktivistinnen, das Wichtigste ist das Publikum.
Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist
Ich fahre ab und zu ins Ausland und kenne viele Leute, die immer mal wegfahren und wiederkommen. Für sie ist das wie ein Häppchen Freiheit: Sie fahren weg, wenn es hart ist, erholen sich und kommen wieder. Das kann man finden, wie man will, aber es ist eine Tatsache, dass es solche Leute gibt.
Das politische Geschehen im Exil verfolge ich nicht und kenne auch niemanden, der sich dafür interessiert. Die Menschen, die in Belarus geblieben sind, haben ihre eigenen Sorgen, sie müssen zusehen, wie sie überleben, und vielen ist es grundsätzlich schnurz, was im Ausland los ist.
Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist. Auch im Laufe dieses Jahres werden Menschen Belarus verlassen, auch welche, die es jetzt noch gar nicht vorhaben. Aber in fünf Jahren sehe ich eine positive Perspektive: Ich hoffe auf Veränderungen und darauf, dass viele Belarussen und Belarussinnen zurückkehren.