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Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

Am Abend der Präsidentschaftswahl, dem 9. August 2020, brach in ganz Belarus eine historische Protestwelle los, getragen von Personen ganz unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Berufsgruppen. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko versuchten die Proteste, die im ganzen Land stattfanden, mit Gewalt und Folter einzudämmen, was allerdings zunächst immer mehr Menschen auf die Straßen trieb. Im Lauf der Zeit gelang es den belarussischen Silowiki, mit scharfen Repressionen den Widerstand zu brechen. Journalisten, Medien, Aktivisten und einfache Bürger wurden außer Landes getrieben, rund 500 NGOs verboten. Die Festnahmen und Aburteilungen dauern bis heute an. Die Men­schen­rechts­orga­nisation Wjasna geht von rund 1300 politischen Gefangenen im Land aus.

Lebt der belarussische Protest überhaupt noch? Was passiert in der Opposition, die ebenfalls ins Exil musste? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Glaubt Lukaschenko, dass er den Widerstand seiner Gegner gebrochen hat oder fürchtet er eine neue Protestwelle? In einem Bystro mit acht Fragen und Antworten erklärt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch die aktuelle Lage.

Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

Quelle dekoder

1. Kann man sagen, dass die Protestbewegung in Belarus tot ist?

Ich würde sagen, die Protestbewegung ist eher eingeschlafen als „tot“. Die Mehrheit der Bevölkerung steht der Regierung nach wie vor kritisch gegenüber. Aber das mündet nicht in aktives Handeln und Aktionen. In Belarus existieren keine legalen Mechanismen, mit deren Hilfe die Bevölkerung ihre Meinung äußern könnte. Heute herrscht in Belarus wieder ein totalitäres System. Und im Totalitarismus sind öffentliche Proteste ein seltenes Phänomen.

Zudem beobachten wir seit zwei Jahren eine politische Massenemigration aus Belarus. Mehr als 100.000 Menschen haben das Land verlassen. Das heißt, der Großteil der Leute, die 2020 auf die Straße gegangen sind, ist bereits emigriert. Im Übrigen werden Proteste dann massenhaft, wenn die Hoffnung besteht, das politische System ändern zu können. 2020 gab es diese Hoffnung, jetzt gibt es sie nicht.

2. Welche Rolle spielt die neue Diaspora in der Demokratiebewegung?

2020 ist die belarussische Diaspora erstmals als politischer Faktor in Erscheinung getreten. In den vergangenen zwei Jahren ist sie um ein Vielfaches angewachsen, es sind viele Aktivisten der Protestbewegung hinzugekommen. Sämtliche Zentren der belarussischen Opposition, allen voran das Büro von Swetlana Tichanowskaja, befinden sich im Exil. Man kann sagen, dass sich das oppositionell-gesellschaftliche Leben ins Ausland verlagert hat, weil in Belarus keine legale oppositionelle Tätigkeit möglich ist.

Im digitalen Zeitalter haben die Möglichkeiten der Diaspora, auf das politisch-gesellschaftliche Leben im Land einzuwirken, wesentlich zugenommen. Die belarussischen politischen Diskussionen finden heute auf Plattformen außerhalb des Landes statt. Das sind Medien, soziale Netzwerke, Think-Tank-Foren, Telegram-Kanäle und so weiter.

Auf der anderen Seite ist klar, dass der Einfluss der Diaspora auf das politisch-gesellschaftliche Leben innerhalb des Landes seine Grenzen hat. Jedwede Veränderungen können nur im Land selbst passieren. Der Einfluss von außen kann nur ein zusätzlicher Faktor sein.

3. Wie hat sich der Krieg auf die Protestbewegung ausgewirkt? 

Am 27. Februar 2022, dem Tag des Referendums über die Verfassungsänderungen, und am 28. Februar gab es Proteste. Etwa 1000 Menschen wurden an diesen zwei Tagen festgenommen. In diesen ersten Tagen nach Kriegsbeginn war die Angst groß, dass die belarussischen Streitkräfte in den Krieg auf ukrainischem Boden eintreten würden. Aber das ist nicht passiert, und der öffentliche Protest ist verebbt.

Die Protestbewegung hat andere Formen angenommen:

1. Ein Teil der belarussischen Aktivisten ist in die Ukraine gegangen. Sie haben das Kalinouski-Regiment gegründet, das im Krieg für die Ukraine kämpft.

2. Ein anderer Teil (die sogenannten Partisanen) führt Sabotageakte auf dem Schienennetz durch, um die Fortbewegung der russischen Militärzüge durch Belarus zu verhindern.

3. Die Opposition hat den Telegram-Kanal Belaruski Hajun ins Leben gerufen, auf dem Informationen über die Bewegungen der russischen Militärtechnik und das Abfeuern von Raketen von belarussischem Staatsgebiet aus veröffentlicht werden.

Insgesamt kann man sagen, dass sowohl bei den Gegnern als auch den Anhängern Lukaschenkos eine Radikalisierung stattfindet. Die Befürworter des Regimes fordern drastischere Strafen für die Opponenten. Aber sie sind nur im Internet aktiv, in sozialen Netzwerken. Offline sind sie hilflos und verlassen sich ausschließlich auf die Regierung. Die zahlreichen Organisationen, die das Regime geschaffen hat (offizielle Gewerkschaften, die Jugendunion BRSM, die Belaja Rus, die Frauenunion, die Veteranenvereinigung und so weiter) waren auf dem Höhepunkt der Krise 2020 völlig paralysiert. Ihre staatliche Natur macht diese Strukturen unfähig zu Eigeninitiative. Selbst Lukaschenko sagte, dass sie zu nichts taugen.

4. Welche Erfolge hat das Team von Swetlana Tichanowskaja zu verzeichnen?

Swetlana Tichanowskaja bleibt die legitime Repräsentantin der belarussischen Demokratie, das Symbol für die Alternative. Ihre Haupterfolge erzielte sie auf internationaler Bühne. Faktisch ist Tichanowskajas Büro zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.

Dank des aktiven Einsatzes von Tichanoswkajas Team hält sich das Thema Belarus auf der internationalen Tagesordnung. Es nimmt teilweise Einfluss auf die Sanktionspolitik des Westens gegen das Lukaschenko-Regime. Außerdem repräsentiert das Tichanowskaja-Büro die Interessen der belarussischen Diaspora. Allerdings ist der Einfluss auf die innenpolitischen Prozesse in Belarus relativ gering.

Aber auch die Konkurrenz innerhalb der belarussischen Opposition nimmt zu. Tichanowskajas Opponenten machen sich die nachvollziehbare Unzufriedenheit der belarussischen Protestbewegung zunutze. Seit Beginn der Proteste sind zwei Jahre vergangen, es gibt keine Ergebnisse, die Repressionen nehmen zu, wir beobachten eine politische Massenemigration aus dem Land. Natürlich wird die Schuld bei ihr als Oppositionsführerin gesucht.

5. Hat das Lukaschenko-System immer noch Angst vor Protesten?

Ja. Bei diversen Anlässen wiederholt Lukaschenko, dass man sich nicht ausruhen dürfe, sondern die Repressionen fortsetzen müsse, weil der Feind sich verborgen habe und darauf lauere, dass die Regierung Schwäche zeigt. Das Regime hat keine Feedback-Mechanismen zur Gesellschaft. Deshalb wissen die Machthaber nicht, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht. Und weil sie die reale Situation nicht kennen, überzeichnen sie die Gefahr.

Hinzu kommen die außenpolitische Situation und die wirtschaftlichen Probleme durch die westlichen Sanktionen. Die einzige Antwort des Regimes auf diese Herausforderungen ist die Verstärkung der politischen Repressionen.

6. Was bedeutet die zunehmende Repression in einem Land, das schon länger als „letzte Diktatur Europas“ bekannt ist?

Man kann mehrere Beispiele anführen. So wurde ein Gesetz erlassen, das die Todesstrafe für den „Versuch eines Terroranschlags“ vorsieht. Der Begriff Terrorismus wird von den belarussischen Behörden äußerst weit gefasst, deshalb kann darunter jede oppositionelle Tätigkeit verstanden werden, zum Beispiel die Teilnahme an Protestaktionen. Auch Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja wurden nach „Terrorismus“-Paragrafen angeklagt. Im Moment steht die „Terrorgruppe“ von Nikolaj Awtuchowitsch vor Gericht. Dazu gehören ein Mann ohne Beine, eine Rentnerin und ein orthodoxer Priester. So sehen die „schrecklichen Terroristen“ aus.

Seit kurzem erlaubt es das Gesetz, Menschen, die die belarussische „Justiz“ nicht persönlich zu fassen kriegt, in ihrer Abwesenheit zu verurteilen. Zum Beispiel belarussische Freiwillige, die in der Ukraine kämpfen, oder die Schienenpartisanen. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna hat nachgerechnet, dass die neue Gesetzsprechung Prozesse in Abwesenheit nach 43 Artikeln erlaubt. Darunter fallen: Verschwörung, Genozid, Staatsverrat, Söldnertum.

Offenbar stehen die Behörden im Zuge der politischen Repressionen vor einem Problem. Es gibt eine klare Anweisung von Lukaschenko, den Grad der Repressionen aufrechtzuerhalten. Doch jene Bürger, die an den Protesten teilgenommen hatten, wurden entweder bereits verurteilt oder sind emigriert. Wo soll man neue Menschen für die Festnahmen herbekommen?

Um das Problem zu lösen, gehen die Silowiki in verschiedene Richtungen vor. Einerseits verurteilen sie die, die schon bestraft wurden und auf „schwarzen Listen“ stehen, zum zweiten Mal. Andererseits weiten sie die Repressionen auf immer neue gesellschaftliche Sphären aus. So werden zum Beispiel Menschen verhaftet, weil sie in den sozialen Netzwerken Kommentare zum Krieg in der Ukraine veröffentlichen, die nicht der offiziellen Position entsprechen.

7. Wie genau haben sich die Repressionen in den letzten zwei Jahren verändert?

Im Eilverfahren wurden repressive Gesetze erlassen. Nicht nur oppositionelle Aktivitäten wurden kriminalisiert, sondern das Andersdenken an sich. Der Begriff „Extremismus“ wird quasi uneingeschränkt auf jede Form der gesellschaftlichen Aktivität angewendet. So gelten zum Beispiel die „Diskreditierung von Staatsorganen und der Republik Belarus“ oder das „Schüren von sozialem Unfrieden“ et cetera als Extremismus. 

Angeklagte nach „politischen“ Artikeln werden mit bis zu 18 Jahren Freiheitsentzug bestraft. In Belarus wurde die Zivilgesellschaft praktisch verboten und öffentliche Organisationen liquidiert. Jeden Tag gibt es Nachrichten von neuen Verhaftungen, Durchsuchungen, Gerichtsurteilen. Laute Prozesse gegen politische Opponenten finden hinter verschlossenen Türen statt.

Man geht dazu über, Menschen für Dinge zu verurteilen, die schon lange zurückliegen. Am 22. Juni stand Nikolaj B. in Janow vor Gericht, weil er vor fünf Jahren einen Beitrag von Radio Svaboda geteilt hatte. Die Journalistin Katerina Andrejewa wurde zu acht Jahren Haft aufgrund von „Staatsverrat“ verurteilt – wegen eines alten Artikels, der damals nicht einmal als Ordnungswidrigkeit betrachtet wurde. Damit haben die Behörden auch jene Rechtsnorm außer Kraft gesetzt, wonach die Gesetzgebung nicht rückwirkend gilt.

8. Hat die Protestbewegung eine Chance, einen politischen Wandel in Belarus zu erreichen?

Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Heute gibt es zwei Faktoren, die eine Gefahr für das herrschende Regime und eine Chance für die Protestbewegung darstellen: Einerseits würde ein möglicher Niedergang des Putin-Regimes in Russland infolge der Misserfolge im Krieg gegen die Ukraine dem Lukaschenko-Regime einen schweren Schlag versetzen. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2020 war es die Unterstützung Putins, die Lukaschenkos Macht im kritischen Moment maßgeblich gesichert hat. Das hat wiederum zu einer fatalen Abhängigkeit des belarussischen Regimes vom Kreml geführt. Deshalb würde sich eine Krise des russischen Regimes unweigerlich auch auf Belarus niederschlagen.

Zweitens, die drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Belarus durch die westlichen Sanktionen: Bisher war Russland die wichtigste Hilfsquelle für die belarussische Wirtschaft. Nun befindet sich die Russische Föderation selbst in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und kann Belarus nicht für alle Verluste entschädigen. Russland ist für Belarus inzwischen mehr zu einer Problemquelle als einer Quelle der Hilfe geworden. Die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation könnte infolgedessen sehr unerwartete Formen annehmen.

 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Waleri Karbalewitsch 
Übersetzerin: Jennie Seitz
Veröffentlicht am: 09. August 2022

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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