„Ich habe eine Entscheidung getroffen. Lange und schmerzhaft war der Prozess. Heute, am letzten Tag dieses Jahrhunderts, trete ich zurück.“ Diese Worte von Boris Jelzin, ausgestrahlt am 31. Dezember 1999 im russischen Fernsehen, kamen völlig überraschend. Zwar hatte der Ruf des ersten postsowjetischen Präsidenten Russlands durch die Wirtschaftskrise und Korruptionsskandale in den Jahren zuvor stark gelitten, und die Niederlage im Ersten Tschetschenienkrieg wurde ihm genauso angelastet wie die Folgen der wirtschaftlichen Schocktherapie – mit einem vorzeitigen Rücktritt hatte jedoch kaum jemand gerechnet.
Noch am selben Tag übergab Jelzin das Präsidentenamt kommissarisch an Wladimir Putin, der erst im Herbst überraschend zum Premierminister ernannt worden war. Und Putin, nicht Jelzin, hielt um Mitternacht die traditionelle Neujahrsansprache. Dabei kündigte er unter anderem Neuwahlen an für Ende März. Am nächsten Tag garantierte er mit seiner ersten Amtshandlung Jelzin und dessen Familie Immunität vor Strafverfolgung.
In den damaligen Reaktionen auf den Machtwechsel spiegeln sich die Fragen und Hoffnungen jener Tage. Wie ist Jelzins Amtszeit, wie sein vorzeitiger Rücktritt zu bewerten? Wer ist dieser Nachfolger überhaupt und was kann man von ihm erwarten? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in den russischen Medien.
Jelzin übergibt die Macht an Wladimir Putin – symbolisiert durch die goldene Amtskette / Foto © kremlin.ru
Fernsehansprache Boris Jelzins
Um zwölf Uhr mittags verkündet Boris Jelzin seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten. Kurz vor Mitternacht wird das Video in allen Regionen des Landes noch einmal gesendet.
erschienen am 31.12.1999
Echo Moskwy/Boris Nemzow: Würdevoller Abgang
Bereits eine halbe Stunde nach dem Rücktritt äußert sich der einst als Jelzins Kronprinz gehandelte Boris Nemzow auf dem Radiosender Echo Moskwy zum scheidenden Präsidenten und den kommenden politischen Aufgaben:
Nun braucht es eine starke Kampagne. Und da kommt mir nur eine Kampagne in den Sinn: der Kampf gegen die Korruption. Und zwar nicht eine Korruptionsbekämpfung im Stile Primakows, wo nur darüber geredet wird, aber nichts geschieht. Sondern eine effektivere Bekämpfung, bei der diejenigen, die tatsächlich viel Schändliches und Gemeines angestellt haben, schnell hinter Gittern landen.
Wenn es Wladimir Putin gelingt, vor den Wahlen wenigstens bei der Bekämpfung dieses Übels Entschlossenheit zu demonstrieren, dann liegen seine Siegeschancen klar bei 100 Prozent.
Нужны будут какие-то яркие кампании. Мне в голову приходит только одна кампания, а именно борьба с коррупцией, причем борьба с коррупцией не в стиле Примакова, когда об этом говорится и ничего не делается, [...] а очень эффективная борьба, когда те, которые действительно много натворили всяких гнусностей и гадостей, вдруг оказываются за решеткой. Если Владимиру Владимировичу удастся продемонстрировать хотя бы решимость перед выборами бороться с этим делом, то тогда его шансы просто 100 процентов.
erschienen am 31.12.1999
Radiosender Majak: Putin ist eine antidemokratische Figur
Emil Pain, ehemaliger Jelzin-Berater und schon damals ein bekannter Politikwissenschaftler und Nationalismusforscher, gibt auf Radio Majak eine kritische Prognose zum Interimspräsidenten ab:
erschienen am 31.12.1999
Neujahrsansprache von Wladimir Putin
Fünf Minuten vor Mitternacht erscheint Wladimir Putin in Millionen russischen Haushalten auf dem Fernsehbildschirm und hält die traditionelle Neujahrsansprache:
erschienen am 31.12.1999
Literaturnaja Gaseta: Der Ruf nach einem starken Mann
Der Philosoph und Politologe Alexander Zipko spricht in der Literaturnaja Gaseta über die Erwartungshaltung vieler Russen an den neuen Präsidenten:
Jelzin hat sowohl durch seine Senilität als auch durch seine gesundheitlichen Probleme und seine Verantwortungslosigkeit die Erwartungen nach einer starken, zentralisierten und entschlossenen Staatsmacht hervorgerufen und geschürt, die mutig und energisch vorgeht.
Die Ära Jelzin, eine Ära der Stagnation und des Auseinanderdriftens der Russischen Föderation, hat das traditionelle Bedürfnis nach einer Einzelherrschaft, nach einer starken Hand des Staates verschärft. Und das Drama besteht darin, dass wir ohne extreme Maßnahmen, etwa im Kampf gegen die Kriminalität oder die Schattenwirtschaft, die derzeitige Staatskrise niemals überwinden werden.
Сам Ельцин и своей дряхлостью, и своей болезненностью, и своей безответственностью спровоцировал и обострил ожидание сильной, централизованной и решительной власти, которая будет действовать смело и энергично. Эпоха Ельцина, эпоха стагнации и расползания Российской Федерации обострила традиционную потребность в единоначалии, в крепкой государственной руке. И драма состоит в том, что без чрезвычайных мер, скажем, и по борьбе с преступностью, и по восстановлению контроля над теневой экономикой мы никогда не преодолеем нынешний государственный кризис.
erschienen am 13.01.2000
Izvestia: Die historische Rolle Putins
In der reichweitenstarken Zeitung Izvestia findet die Journalistin Swetlana Babajewa versöhnliche Worte für Jelzin und erklärt Putin zum richtigen Mann für den notwendigen politischen Wandel:
Wir treten in einen neuen politischen Zyklus ein, der, den vorhergegangenen nach zu urteilen, vier bis acht Jahre andauern wird. […] Putin wird in diesem Zyklus nicht nur subjektiv gebraucht, als „Kaltmacher“, Militär, harter und kompromissloser Politiker. Er wird objektiv gebraucht. Zweifellos wird auch er seine historische Rolle bekommen. Die Rolle eines Heerführers. Als solcher wird er die russische Gesellschaft an die Grenze zum zivilisierten Leben heranführen – und mit ihr gemeinsam diese Grenze überschreiten.
Он пришел победителем и уходит победителем. Уходит в историю. (...)
Мы входим в новый политический цикл, который, судя по прежним виткам, продлится от 4 до 8 лет. (…)
Путин востребован в этом цикле не только субъективно – как "мочитель", военный, жесткий и бескомпромиссный политик. Он востребован объективно. У него – нет сомнений – тоже будет своя историческая роль. Роль полководца. Он должен будет подвести российское общество к границе цивилизованной жизни. И перейти вместе с ним эту границу.
erschienen am 05.01.2000
Izvestia: Wer ist der neue Präsident?
Dieselbe Autorin kommt in einem weiteren Izvestia-Artikel jedoch nicht umhin einzugestehen, dass über den künftig mächtigsten Mann im Staate kaum etwas bekannt ist:
Also: Der amtierende Präsident Russlands ist 47 Jahre alt, ist Leningrader, Geheimdienstler, Tschekist. Putins ehemalige Kollegen vom Geheimdienst hatten im Herbst gesagt: „Ihr werdet ihn noch kennenlernen – dieser harte, zynische und ehrgeizige Mensch wird sich schon noch zeigen“. […]
Eine Diskussion, ob es nun gut oder schlecht ist, fünf vor Mitternacht einen Präsidenten mit diesen Eigenschaften zu bekommen, ist sinnlos. Das Volk bekommt die Herrscher, die es verdient. Jetzt braucht es einen solchen. Und ein solcher wird er auch sein.
Итак, исполняющему обязанности президента России 47 лет, он ленинградец, разведчик, чекист. Бывшие коллеги Путина по спецслужбам осенью говорили: "Вы его еще узнаете – этот жесткий, циничный и честолюбивый человек еще себя покажет". (…)
Плохо или хорошо получить без пяти минут президента с такими качествами – обсуждать бессмысленно. Народ получает тех правителей, которых он заслуживает. Сейчас нужен такой. Такой ему и будет.
erschienen am 05.01.2000
Sowetskaja Rossija: Um eine Wahl betrogen
In Sowetskaja Rossija, Organ der kommunistischen Opposition, beklagt Wassili Safrontschuk die Art und Weise der Machtübergabe und mutmaßt, warum Jelzin gerade Putin als Nachfolger auserkoren hat:
Wie ist diese plötzliche Entscheidung zu erklären? Einige Beobachter nehmen an, dass Jelzin in den letzten Jahren auf Drängen des Westens und russischer Oligarchen fieberhaft nach einem Nachfolger für sich gesucht hat, der einerseits die Beibehaltung des gegenwärtigen kriminellen pseudomarktwirtschaftlichen Regimes gewährleisten und andererseits Jelzin und seiner Familie Immunität garantieren würde. Einen solchen Nachfolger hat er schließlich in Putin gefunden.
Чем же объяснить это внезапное решение? Некоторые наблюдатели полагают, что в последние годы Ельцин по настоянию Запада и российских олигархов лихорадочно искал себе преемника, который, с одной стороны, обеспечивал бы сохранение нынешнего криминального псевдорыночного режима, а с другой стороны, дал бы гарантии неприкосновенности Ельцину и его семье. Такого преемника он в конце концов нашел в лице Путина.
erschienen am 05.01.2000
Novaya Gazeta: Unser neuer russischer Pinochet
Journalistin Yevgenia Albats wirft Jelzin in der Novaya Gazeta vor, seinen Platz in den Geschichtsbüchern über demokratische Prinzipien gestellt zu haben. Und erinnert die Leser daran, dem neuen Präsidenten genau auf die Finger zu schauen:
Hätte Jelzin allerdings nicht an sich und seinen Platz in der Geschichte gedacht, sondern an das Land und daran, die demokratischen Traditionen hier zu festigen, dann hätte er bis [zur Wahl im – dek] Juni durchhalten müssen – mit Tabletten, Spritzen, Geräten, ganz egal, wie –, damit die Macht auf dem Wege direkter Wahlen, bei denen es Alternativen gibt, an einen Nachfolger übergeht. Jelzin hat jedoch keinen demokratischen, sondern einen monarchischen Präzedenzfall geschaffen. Er hat Kraft seines monarchischen Willens, der allein dem Allmächtigen verantwortlich ist, die Macht an seinen Nachfolger übergeben. Es liegt auf der Hand, dass die [vorgezogenen – dek] Wahlen im März von rein ritueller Bedeutung sein werden. […]
Was für ein Präsident Wladimir Putin auch werden mag, eines ist klar, nämlich dass im März – und im Grunde schon jetzt – die Regeln des innen- und außenpolitischen Spiels Russlands für die kommenden vier, wenn nicht sogar acht Jahre, geändert werden.
Für uns ist die Situation etwas komplizierter. Wir müssen erst noch rauskriegen, ob unser neuer russischer Pinochet ein guter oder ein böser sein wird. Das wird übrigens auch von uns abhängen. Er wird die Art Präsident sein, die wir zulassen.
Сам, сам решил и отдал скипетр. Это – поступок. Это заслуживает уважения. Хотя если бы Ельцин думал не о себе и своем месте в истории, а о стране и укреплении в оной демократических традиций, он обязан был бы дотянуть – на таблетках, на уколах, на аппаратах, как угодно – до июня, чтобы власть перешла к преемнику путем прямых и альтернативных выборов. Ельцин же создал не демократический – монархический прецедент: он монаршей волей, подотчетной лишь всевышнему, передал власть преемнику. Очевидно, что выборы в марте будут иметь чисто ритуальное значение. (…)
Каким бы президентом ни оказался Владимир Путин, очевидно, что в марте – а по сути дела уже сейчас – будут переделаны правила российской внутренней и внешнеполитической игры на ближайшие четыре, если не все восемь, лет. Несколько сложнее ситуация с нами. Нам еще только предстоит узнать, будет ли наш российский Пиночет злым или будет он добрым. Впрочем, это зависит и от нас. Каким мы позволим ему быть, таким он и будет.
erschienen am 10.01.2000
Prawda: Wieder ein Oberst an der Staatsspitze
In der Prawda, der Parteizeitung der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, fühlt sich Journalist Jewgeni Spechow an einen anderen Amtsantritt erinnert:
erschienen am 06.01.2000
Übersetzung: Hartmut Schröder
Zusammenstellung und begleitende Texte: dekoder-Redaktion