
Neljubow ist ein Film von Andrej Swjaginzew über ein verschwundenes Kind. Swjaginzew trifft damit einen wunden Punkt an der Schnittstelle zwischen Politik, Propaganda und kollektivem Trauma.
Im Prinzip geht es in allen seinen Filmen auf die eine oder andere Art um das Thema verlassene Kinder. Die Rückkehr eines verlorenen Vaters zu seinen allein gelassenen Söhnen endet tragisch, im Film Die Verbannung setzt die Abtreibung eines unerwünschten Kindes eine Serie von Todesfällen in Gang, in Jelena ist der zentrale Konflikt jener zwischen Vater und Tochter, in Leviathan kommt der Sohn der Hauptfigur in eine Pflegefamilie.
Ungeborene, unerwünschte, verlassene, entrissene Kinder sind ein Schlüsselbild und ein Symbol für den zerfallenden Kosmos, die wachsende Entropie, die moralische Katastrophe, die der Regisseur in jedem seiner Filme zeigt.
Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos
Auch in Neljubow steht im Zentrum des Geschehens ein Kind – beziehungsweise sein Verschwinden. Im Raum des Films entsteht eine Leere, die sich ausbreitet wie ein Erdtrichter, der die Protagonisten und ihre Nächsten verschluckt – die Häuser, das Wohngebiet und den Stadtwald. Die Ästhetik der Abwesenheit – markiert durch die Spuren des verschwundenen Jungen, seine Jacke, die Vermisstenanzeigen, das Rufen der Suchtrupps im leeren Wald – steigert die Spannung, macht aus dem Familiendrama einen Psychothriller, macht die Suche nach dem Kind zu einem Leidensweg, der mehr als einmal an StalkerKino #4: Stalker „Sie glauben an nichts, an gar nichts“, sagt der Stalker – Norbert P. Franz über die undurchdringliche Aura dieses Meisterwerks von Andrej Tarkowski mit den surrealen Bildern für das Leben zwischen Hoffen und Leiden, zwischen Spiritualität und Rationalität und der Suche nach Sinn. von TarkowskiAndrej Tarkowski (1932–1986) war ein sowjetischer Regisseur und gilt als einer der einflussreichsten Filmemacher des 20. Jahrhunderts. Seine Werke greifen spirituelle, philosophische und metaphysische Themen auf und zeichnen sich durch lange Einstellungen und eine unkonventionelle Handlungsstruktur aus. In der Sowjetunion blieb Tarkowski, der seine Filme stets gegen die behördliche Zensur verteidigen musste, die offizielle Anerkennung versagt. 1983 emigrierte er, seine letzten beiden Filme entstanden im Ausland. Mehr dazu in unserer Gnose erinnert. Die Kamera von Swjaginzews Langzeit-Kameramann Michail KritschmanMichail Kritschman (geb. 1967) ist ein russischer Kameramann, der vor allem durch seine Arbeit mit dem Regisseur Andrej Swjaginzew bekannt wurde. Typisch für Kritschmans Kameraführung sind spektakuläre, ruhige Landschaftsaufnahmen, die häufig in großem Kontrast zu den eher dramatischen Sujets der Filme stehen. Mehr dazu in unserer Gnose verleiht einfachen Dingen schonungslose Härte und metaphysische Tiefe. Seine langen Einstellungen und matten Farben verwandeln den Moskauer SchlafbezirkAls Schlafbezirke (russ. spalny rajon) werden Wohnviertel außerhalb des Stadtzentrums bezeichnet. Sie entstanden häufig in den 1960er und 1970er Jahren, meist dominieren hier Plattenbauten mit neun bis 22 Stockwerken das Stadtbild. Die Immobilienpreise in diesen Vorstädten sind in der Regel deutlich niedriger als im Zentrum, allerdings müssen die Bewohner oft zu ihrem Arbeitsplatz pendeln. Einige Schlafbezirke im direkten Umfeld russischer Großstädte wurden in den letzten Jahren kulturell und infrastrukturell aufgewertet, andere gelten jedoch weiterhin lediglich als Orte zum Übernachten mit nur wenig Freizeit- oder Konsummöglichkeiten. in ein Totenreich, dem nur der erste Schnee vorübergehende Anmut verleiht, ihn für Sekunden in eine Bruegelsche Winterlandschaft verzaubert.
Einen Gott gibt es hier nicht
In diesem Raum nimmt die Entropie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik zu: Einen Gott gibt es hier nicht (obwohl es bärtige Männer und ein pseudo-orthodoxes Büro gibt), genau so wenig wie einen Staat – der Polizeibeamte macht den Eltern sofort klar, dass man nicht nach dem Jungen suchen wird. Stattdessen taucht ein freiwilliger Such- und Rettungstrupp auf, ein direktes Zitat von Lisa AlertLiza Alert ist eine russische Freiwilligenorganisation, die im Jahr 2010 gegründet wurde. Zweck der gemeinnützig tätigen NGO ist die Suche nach vermissten Personen in Russland. Der Name der Organisation bezieht sich auf die fünfjährige Lisa Fomkina, die sich im Jahr 2010 etwa 100 Kilometer vor Moskau im Wald verirrte. Da die Behörden, wie etwa die Polizei, nicht besonders umfassend nach dem Kind suchten, durchkämmten mehrere hundert Freiwillige das Waldstück. Das Mädchen wurde nach zehn Tagen schließlich tot aufgefunden, es war an Unterkühlung und Auszehrung verstorben. (die Geschichte der Retter wird insgesamt zu einem eigenen Handlungsstrang und zu dem einzigen Quell von Handlung im ganzen Film).
Die Familien sind tot und die Schule ohnmächtig: Die Lehrerin wischt hilflos mit dem Lappen über die Tafel, lässt Kreideschlieren zurück, und draußen beginnt es langsam zu schneien. Hier gibt es nicht mal Schuldige: Alle wurden in einen lieblosen Raum hineingeboren und leben darin und reproduzieren ihn sorgfältig als einzige ihnen zugängliche Daseins- und Kommunikationsform.
Die Leere kommt mit Macht
Die Apotheose der Leere: ein zerstörter KulturpalastSogenannte Kulturhäuser oder -paläste sind in sozialistischen bzw. postsozialistischen Ländern zu kulturellen Zwecken genutzte Gebäude. Sie beherbergen oft Kinosäle und Bibliotheken und dienen als Veranstaltungsorte für Ausstellungen und Diskussionsabende. irgendwo im Wald, der letzte Aufenthaltsort des Jungen. Das undichte Dach, Pfützen auf dem Boden, Scherben der menschlichen Zivilisation – das alles erinnert wieder an das Zimmer und die Zone in Stalker, die für Tarkowski eine Metapher für die verwaiste, leere Seele waren.
Und sogar die geniale Szene im Leichenschauhaus, die in ihrer Vieldeutigkeit und Unentschiedenheit unbedingt Eingang in die Regie-Lehrbücher finden muss, ist rund um die Abwesenheit aufgebaut. Wir sehen weder Sachverhalt noch Ereignis, nur dessen Spiegelung in den Gesichtern und Reaktionen der Protagonisten.
Doch die allerschrecklichste Leere tut sich im Epilog des Films auf, in den Augen der Protagonistin, die in einem Trainingsanzug von Bosco mit der Aufschrift RUSSIA auf dem Laufband joggt: Die Kamera versinkt gleichsam in diesem abwesenden Blick. Am einfachsten wäre es, sie als Zerrbild von Mütterchen Russland zu verstehen, das ihr eigenes Kind verloren hat und nun in der Loggia einer schicken Wohnung auf dem Laufband auf der Stelle tritt, während ihr neuer Mann geistesabwesend Nachrichten aus dem DonbassDer Krieg im Osten der Ukraine ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Ukraine wirft dem Nachbarland Russland vor, die Rebellen mit Personal und Waffen zu unterstützen, was Russland bestreitet. Der Krieg kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Eine anhaltende Waffenruhe konnte trotz internationaler Vermittlungsbemühungen bisher nicht erreicht werden. Mehr dazu in unserer Gnose mit Dimitri KisseljowDer Journalist Dimitri Kisseljow spielt im gelenkten russischen Staatsjournalismus eine zentrale Rolle. 2008 wurde er Vizedirektor der staatlichen Medienholding WGTRK. Seit 2014 leitet er die staatliche Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja. Mehr dazu in unserer Gnose guckt.
Moralischer Defekt, mitten im Herzstück unserer Existenz
Aber mit so flachen Metaphern arbeitet Swjaginzew nicht: Er entlarvt nicht, sondern stellt fest, er beschuldigt nicht, sondern stellt eine Diagnose. Er hat einen Film über eine zerbrechende Familie gedreht, und heraus kam ein Film über Russland; Kisseljow und der Donbass in den letzten Einstellungen sind kein politisches Pamphlet wie in Leviathan, sondern der Geist der Zeit, der auf dem Fernsehschirm zum Bild erstarrt ist.
Geht es bei Boris GodunowBoris Godunow ist ein Drama von Alexander Puschkin (1799–1837), das er im Jahr 1825 fertigstellte. In der Geschichte geht es um die Herrschaft des Zaren Boris Godunow in der Zeit von 1598 bis 1605. Eines der Hauptthemen der Tragödie ist die Verlockung durch die Macht. Puschkin verwendete für sein Sujet eine historisch nicht belegte Version, laut der der Thronfolger Dimitri Iwanowitsch (Zarewitsch) im Alter von neun Jahren auf Befehl von Boris Godunow ermordet wurde. letztendlich um einen getöteten Jungen oder um die russische StaatsmachtDer russische Begriff Wlast ist sehr vieldeutig: Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, Regierung, Behörden, Oligarchen oder auch irgendeine Obrigkeit. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz andere Bedeutungsinhalte haben: von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat. Mehr dazu in unserer Gnose ? Genau so ist es bei Neljubow: Der Film deckt einen moralischen Defekt auf, einen im Stich gelassenen Jungen, mitten im Herzstück unserer Existenz. Die politischen Umstände sind jeweils nur einzelne Folgen dieser umfassenden ethischen Katastrophe.
Das Mistkerl-Gesetz
Von zentraler Bedeutung ist, dass die Zeit der Handlung im Film deutlich markiert ist: Dezember 2012 (im Radio diskutiert man das Ende der Welt laut Maya-Kalender), kurz vor Verabschiedung des Dima-Jakowlew-GesetzesNachdem die USA im Dezember 2012 mit dem Magnitsky Act mehrere russische Beamte, die sie für den Tod des Juristen Sergej Magnitski verantwortlich hielten, auf eine Sanktionsliste setzten, reagierte Russland noch im selben Monat mit der Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes. Dieses sah vor, amerikanischen Eltern die Adoption russischer Waisenkinder zu verbieten. Es wurde nach Dima Jakowlew benannt, einem zweijährigen russischen Adoptivkind, das 2008 aufgrund fahrlässiger Tötung in den USA starb. Das umstrittene Gesetz löste nicht nur in der russischen Gesellschaft Protest aus, da politische Auseinandersetzungen auf Kosten bedürftiger Kinder ausgetragen wurden, sondern sorgte auch für internationale Kritik und eine Abkühlung der Beziehungen zu den USA. Das Gesetz ist weiterhin in Kraft., das den Spitznamen Mistkerl-Gesetz erhielt und das Dutzende kranke russische Waisenkinder, deren Adoption ins Ausland bereits kurz bevorstand, zu einem Leben im Heim, zu Krankheit und manche auch zum Tod verurteilte. Gerade in diesem Moment, der die herrschende Klasse mit dem Blut von Kindern verquickte, begann der endgültige moralische Verfall der Machthaber bei lähmender Gleichgültigkeit der Bevölkerung.
Der Film endet 2015, im Jahr der Normalisierung, als der Schock der KrimAls Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Mehr dazu in unserer Gnose und der BoeingFlug MH17 war ein Linienflug des Unternehmens Malaysia-Airlines von Amsterdam nach Kuala-Lumpur, der am 17. Juli 2014 auf dem Separatistengebiet im Osten der Ukraine abgestürzt ist. Alle 298 Passagiere kamen dabei ums Leben. Laut Untersuchungsbericht ist das Flugzeug von einer BUK-Luftabwehrrakete aus russischer Produktion abgeschossen worden. Während die Ukraine und der Westen die prorussischen Seperatistenmilizen für die Tat verantwortlich machen, beschuldigt Russland die Ukraine und leugnet die Lieferung von entsprechender Technik an die Aufständischen. Die Einrichtung eines internationalen UN-Sondertribunals zur Klärung dieser Frage scheiterte im Juli 2015 am Veto Russlands. vorbei war und Russland sich mit den SanktionenAls Reaktion auf die Annnexion der Krim und Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine beschlossen sowohl die USA als auch die EU im Jahr 2014 wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Im Juli 2017 beschlossen die USA zudem, Russland für die Angliederung der Krim, die mutmaßliche Einmischung in den US- Präsidentschaftswahlkampf und für die Unterstützung Baschar al-Assads im syrischen Bürgerkrieg zu bestrafen. Die neuen beziehungsweise modifizierten Sanktionen können bei voller Umsetzung nachhaltig Russlands Rohstoffgeschäft schädigen (das einen großen Teil des Staatshaushalts ausmacht). Mehr dazu in unserer Gnose abgefunden und eingesehen hat: Dieser Zustand von Regierung und Gesellschaft ist ernst und wird länger dauern. Swjaginzew dreht einen Film über eine Familie, aber die Handlung vollzieht sich unter den Bedingungen eines nie dagewesenen moralischen Verfalls.
Und das Hauptproblem sind hier nicht Putin und Kisseljow, nicht die Krim und der Donbass und nicht mal die KorruptionKorruption ist in Russland weit verbreitet – sowohl in Politik und Wirtschaft als auch im Alltagsleben. Korruption, die nicht zuletzt durch niedrige Gehälter befördert wird, kommt in zahlreichen Variationen vor: gegenseitige Gefälligkeiten, Tausch unter der Hand, Abzweigung staatlicher Mittel, Bestechungsgelder und vieles mehr. Da die Korruption systemischen Charakter angenommen hat, ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass sie wirksam bekämpft werden kann. Mehr dazu in unserer Gnose und Ausbeutung – das alles sind Symptome einer Krankheit, während der Regisseur von der Krankheit selbst spricht: Von einer Gesellschaft, die in Lüge, Zynismus und Misstrauen feststeckt, die die Hoffnung auf Zukunft und Veränderung verloren hat. Putin und Kisseljow gießen diese Lüge nur in die Formen von Politik und Medien, exportieren sie in die Außenwelt.
In der moralischen Sackgasse
Es war absolut kein Zufall, dass 2016 im öffentlichen Diskurs Russlands das Thema Ethik aufkam: die Aktion #янебоюсьсказатьPresseschau № 36: #янебоюсьсказать Ein #Aufschrei geht durch Russlands Soziale Medien, eine Hashtag-Aktion gegen die Tabuisierung sexueller Gewalt. Die Presse diskutiert Sinn und Unsinn der Aktion – und auch die Frage, ob EU-Europa als Gender-Vorbild taugt. (Ja ne bojus skasat – dt: „Ich habe keine Angst, es zu sagen“), der Skandal um die Schule Nr. 57Der Skandal begann damit, dass eine Journalistin des unabhängigen Mediums Meduza im September 2016 auf ihrer privaten Facebook-Seite berichtete, ein Geschichtslehrer der Moskauer Schule Nr. 57 sei wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen suspendiert worden. Der Skandal weitete sich aus und erfuhr eine breite Resonanz in der russischen Öffentlichkeit. Zwei weiteren Lehrern wurde ebenfalls gekündigt, ähnliche Vorwürfe wurden gegenüber einem weiteren Lehrer erhoben., Diskussionen über häusliche GewaltSchläge als Privatsache? Eine Gesetzesnovelle soll dafür sorgen, dass häusliche Gewalt künftig weniger hart bestraft wird. Vor allem konservative und orthodoxe Kräfte unterstützen das Vorhaben. Ljubow Borussjak fragt sich auf Republic, warum. Es ist kompliziert. und Folter in Gefängnissen, Debatten über das historische Gedenken und die Verantwortlichkeit von Stalins Henkern (Der Fall KaragodinDie Täter-Debatte Ein Enkel will genau wissen: Wer hat im Großen Terror unter Stalin 1938 meinen Urgroßvater erschossen? Nun ist eine erregte, öffentliche Debatte entbrannt, als Denis Karagodin nach langer Suche dem Töten konkrete Namen gab – und der Gewalt ein Gesicht. Sergej Medwedew fragt sich auf Republic: Was ist daran so brisant? ). Der reflektierende Teil der Gesellschaft beginnt, sich der moralischen Sackgasse bewusst zu werden, in die wir alle geraten sind, und jenes konspirativen Schweigens, das die Probleme Gewalt, Demütigung und Trauma umgibt.
Das sind genau die Fragen, von denen Swjaginzew seit vielen Jahren spricht, mitsamt dem Problem der Stummheit, des Abreißens der Kommunikation. Unter Bedingungen, in denen es weder einen Staat mit Sozialpolitik gibt noch eine sozial verantwortliche und nahe am Menschen stehende KircheDie Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint. Mehr dazu in unserer Gnose noch eine Kultur des öffentlichen Dialogs zu Themen rund um Familie, Kindheit, Geschlechterrollen, stellen seine Filme genau die fundamentalen moralischen Fragen, über die wir lieber schweigen – oder die wir an zynische Populisten wie MilonowWitali Milonow (geb. 1974) ist ein russischer Politiker der Regierungspartei Einiges Russland und seit September 2016 Mitglied der Staatsduma. Zuvor war er Abgeordneter der gesetzgebenden Versammlung St. Petersburgs. In dieser Eigenschaft verantwortete er unter anderem die Gesetzesinitiative zum sogenannten Verbot der Homosexualitäts-Propaganda in St. Petersburg. Dieses 2012 verabschiedete Gesetz gilt als Vorläufer des 2013 in Kraft getretenen landesweiten Gesetzes, das die sogenannte Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen in Anwesenheit von Minderjährigen unter Geldstrafe stellt. und MisulinaJelena Misulina (geb. 1954) war von 1995 bis 2016 Dumaabgeordnete. Die als Hardlinerin geltende Politikerin war maßgeblich an der Ausarbeitung des Gesetzes gegen die sogenannte homosexuelle Propaganda beteiligt. verpachten. Wenn man darüber nachdenkt, ist Andrej Swjaginzew heute in Russland eigentlich der, der sich am meisten mit Klammern befasst – mit echten, nicht mit solchen, die die Propaganda sich ausdenktDer Ausdruck duchownyje skrepy (dt. ungefähr: verbindende Werte oder spirituelle bzw. geistige Klammern) wurde von Putin am 12. Dezember 2012 an prominenter Stelle in einer Parlamentsrede in Zusammenhang mit Begriffen wie Barmherzigkeit, Mitleid, Hilfsbereitschaft verwendet, die seiner Aussage nach den Zusammenhalt der Nation gewährleisten. Schon zuvor fand der Ausdruck Eingang in den Sprachgebrauch vor allem konservativer russischer Politiker, er bleibt jedoch inhaltlich oft sehr unklar. Ironisch gebraucht ist der Begriff zum populären Internet-Mem geworden, das die Integrität von Putins Aussage in Frage stellt und auf das Wertevakuum in Gesellschaft und Politik anspielt., doch die Staatsmacht würde ihm diese Rolle niemals zugestehen, sondern schränkt lieber den Verleih ein und verteufelt den Film in der Presse, so wie es auch bei Leviathan war.
Eines der durchgehenden Motive in Neljubow ist ein Absperrband. Ganz zu Beginn des Films findet es der Junge im Wald, bindet es an einen Stock und wirft es auf einen Baum. Jahre vergehen, neue Kinder werden geboren, doch das Band ist immer noch dort. Swjaginzew hat unsere Gesellschaft mit diesem Band quasi abgegrenzt, hat damit den Umkreis der humanistischen Katastrophe und des moralischen Sumpfes, in dem wir versinken, abgesteckt.
So wie Puschkins „blutender Knabe„Und blutige Knaben hüpfen vor den Augen" ist ein geflügeltes Wort, das aus der Tragödie Boris Godunow von Alexander Puschkin (1799–1837) stammt. Der Ausdruck wird vor allem als Hinweis auf das schlechte Gewissen einer Person verwendet, und auch um das Erschrecken und den Schock über eigene Schandtaten zu beschreiben. “ kündet sein verschwundenes Kind von dem fundamentalen Verbrechen, das unserem vermeintlichen Wohlstand zugrunde liegt, von Dingen, die wir vergeblich zu vergessen versuchen. Das macht seine Filme so schonungslos, so unbequem und so absolut sehenswert.