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Das Wichtigste bleibt ungesagt

Der Fall Nawalny und das hohe russische Truppenaufkommen an der Grenze zur Ukraine belasten einmal mehr die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. In seiner gestrigen Rede zur Lage der Nation ging Putin allerdings weder auf das eine noch das andere ein. Er versprach ein umfangreiches Sozialprogramm und warnte den Westen davor, rote Linien zu überschreiten.

Am selben Tag sind russlandweit tausende Menschen einem Protestaufruf von Nawalnys Team gefolgt. Die Sicherheitsbehörden waren dabei massiv gegen die Demonstranten vorgegangen, Elektroschocker wurden eingesetzt, die Organisation OWD-Info zählt mehr als 1700 Festnahmen, über 800 davon allein in Sankt Petersburg.

Die Politologin Tatjana Stanowaja analysiert Putins Rede auf Carnegie.ru und wirft einen Blick vor allem auf das, was er nicht sagte. Die Sprachlosigkeit zwischen politischem System und Gesellschaft, die sie konstatiert, spüren auch andere: Etwa Regisseur Andrej Swjaginzew.

Quelle Carnegie

Am 21. April wandte sich Wladimir Putin nach einer längeren Pause mit seiner jährlichen Ansprache an die Föderationsversammlung. Sie war diesmal begleitet von zahlreichen Gerüchten und erwarteten Sensationen wie die offizielle Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepubliken oder die Angliederung von Belarus.  

Doch die aktuelle Rede war klar auf die Vorbereitungen zur Dumawahl im Herbst zugeschnitten. Sie sollte vor allem Anreize für die russische Gesellschaft schaffen, im Herbst für die Regierung zu stimmen oder, wenn möglich, von den Forderungen nach Wandel Abstand zu nehmen. Während alle gewartet haben auf umfangreiche Antworten zu den brennenden Themen – Ukraine, Belarus, Proteste, Wahlen, sinkende Einkommen –, hat Putin all das verdeckt mit seinen langen und ausführlichen Aufzählungen der Sozialmaßnahmen, die den größten Teil der Rede ausgemacht haben. So konnte man in diesem Jahr besonders gut spüren, dass die Reden des Präsidenten die tatsächliche Agenda inzwischen eher kaschieren als transportieren. 

Soziale Situation verbessert sich nicht wirklich

Wie schon vor einem Jahr bei der Verfassungsreform gehen die sozialen Hilfen vor allem an Familien mit Kindern – auch das ist eine politische Investition in konservative Werte, der Versuch, das ideologische Bündnis des Präsidenten mit den Traditionalisten finanziell zu untermauern. 

Doch trotz der langen Aufzählung verschiedener Sozialleistungen, sollte man ihr Ausmaß nicht überschätzen. Die versprochenen Schritte im Sozialbereich sind eine konjunkturbedingte und technologische Entscheidung, die eher auf einen vorübergehenden subjektiven Effekt abzielt als auf eine reale Verbesserung der sozialen Situation. Diese Maßnahmen können nur sehr begrenzt die soziale Verärgerung und die Entfremdung von Regierung und Gesellschaft abmildern. Putin scheint die Schärfe der sozialen Probleme in Russland zu unterschätzen und glaubt, dass die Situation im Land im Großen und Ganzen völlig zufriedenstellend sei und es demnach auch keine legitimen Gründe für Proteste gebe. 

Beruhigungspillen fürs Volk

Dafür verändert sich der Führungsstil grundlegend: Putin wird von einer Figur, die einst die Spielregeln für die Entwicklung der Gesellschaft vorgab, zu einem Therapeuten, der die Gesellschaft davon überzeugen will, sich mit der Unabänderlichkeit der Spielregeln abzufinden. Bei seiner Rede präsentierte er sich nicht mehr als politischer Macher, sondern als Doktor, der seinen Patienten Meditationen, Impfungen und soziale Beruhigungspillen verschreibt, damit diese sich leichter mit der beunruhigenden Realität abfinden können.  

Bei der Rede kam auch Putins Ekel vor rein politischen Themen zum Ausdruck. Den schmutzigen und zerstörerischen Kampf um die Macht möchte er ersetzen durch ein System „gesunder“ Beziehungen mit „konstruktiven“ Kräften, die sich in die Pyramide der Unterordnung und Konsolidierung einfügen. In der Praxis heißt das: Abbau aller politischen Konkurrenz, Alternativlosigkeit. Alles, was jenseits der Pyramide liegt – die Nicht-System-Opposition –, ist gänzlich aus dem Vortrag und dem zulässigen Themenbereich des Präsidenten gestrichen.  

Der geopolitische Teil ist für Putin wohl der interessanteste, doch er war der kürzeste von allen. Und das liegt weniger daran, dass die russische Gesellschaft allen Umfragen zufolge müde ist von außenpolitischen Themen. Vielmehr ist der Präsident immer weniger gewillt, seine außenpolitischen Pläne und Entscheidungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Alles, was tatsächlich wichtig ist für Putin, wird zu einem dichten Schwall geheimer Spezoperazii. 

Anstatt die tatsächliche Agenda offenzulegen, präsentiert man der Öffentlichkeit bequeme Attrappen, die die gewünschten Vorstellungen hervorrufen. Eine Provokation der Geheimdienste gegen oppositionelle belarussische Politologen wird in der Beschreibung des Präsidenten zu einer gefährlichen Verschwörung, die auch noch vom Westen organisiert worden sei. Dafür bleiben die tatsächlichen Ereignisse bezüglich Belarus außen vor: Die Erwartungen hinsichtlich des [bevorstehenden] Treffens mit Lukaschenko sind enorm, doch dazu hat Putin keine Details offengelegt.

Auch die Konfrontation mit dem Westen vereinfacht er zu einer geopolitischen Interpretation des Dschungelbuch. Der böse, gefährliche Tiger Shir Khan ist Washington, „all die kleinen Tabaquis“ – das sind Russlands Kritiker in Europa und dem postsowjetischen Raum, und der großmütige, gerechte Leitwolf Akela ist, wie man leicht erraten kann, Putin. Das ist das Niveau, auf dem der Präsident bereit ist, die tatsächliche Agenda mit seinen Wählern zu diskutieren.  

Noch weniger ist Putin bereit, über die Nicht-System-Opposition zu sprechen, egal wie bedeutsam die mit ihr verbundenen Ereignisse sind. Alexej Nawalnys Gesundheit, über die auch der Westen diskutiert, die offenen Briefe zur Unterstützung Nawalnys von allen möglichen Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu Nobelpreisträgern, die kompromisslose Niederschlagung von Protesten und die geplante Einstufung der Nicht-System-Opposition als „extremistisch“ – all das blieb in der Rede außen vor.

Im Endeffekt werden die Kommunikationskanäle zwischen dem Präsidenten und der Gesellschaft immer enger. Einige Ereignisse sind dem Präsidenten zu wichtig, um sie ernsthaft mit den Bürgern zu debattieren. Deswegen werden Diskussionen durch vereinfachende Bilder ersetzt. Bei anderen Themen das genaue Gegenteil: Der Präsident hält sie für uninteressant oder unangenehm und deswegen werden auch sie nicht besprochen, völlig unabhängig von ihrer Dringlichkeit. All das zusammen lässt Putin immer weniger Möglichkeiten, eine den Geschehnissen angemessene Figur abzugeben. Er wird hinausgedrängt aus der Wirklichkeit, in der zunehmend Akteure außerhalb des Systems den Ton angeben.

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Gesellschaftsvertrag

Im Russland der 2000er Jahre steht der Begriff Gesellschaftsvertrag für ein implizites Einvernehmen zwischen Bevölkerung und politischer Führung: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. Spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2014/15 haben sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Russland jedoch derart verändert, dass das „Ende des bisherigen Gesellschaftsvertrags“ diskutiert wird.

Nach den leidvollen Erfahrungen der postsowjetischen Transformationsperiode (vgl. die 1990er), die geprägt war von Kriminalität und Terrorismus, Armut und Arbeitslosigkeit sowie ausbleibenden Löhnen und Pensionen, sehnten sich große Teile der russischen Gesellschaft nach Sicherheit und Wohlstand. Im Austausch für politische Stabilität, innere Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung war die Mehrheit der Bevölkerung daher bereit, auf unabhängige Medien und politische Teilhabe weitgehend zu verzichten. Diese Parallelexistenz von Politik und Gesellschaft – verkürzt: Loyalität und Nichteinmischung gegen wirtschaftliche Verbesserungen – wird zuweilen als ungeschriebener Gesellschaftsvertrag bezeichnet.1

Die Finanzkrise von 2008/09 gab ersten Anlass zu Zweifeln, ob dieses Arrangement dauerhaft aufrecht erhalten werden könnte. Zwar federte der Staat mit massivem Einsatz finanzieller Mittel – unter anderem einer drastischen Rentenerhöhung – die Effekte der Krise ab, jedoch sank die Zuversicht der Bürger bezüglich ihrer wirtschaftlichen Lage erheblich.2 Dass dies sich nicht sofort auf die Beliebtheit Putins auswirkte, führt der Politikwissenschaftler Daniel Treisman auf den Georgienkrieg vom August 2008 zurück, der eine große Mehrheit der Bevölkerung im Angesicht eines außenpolitischen Konflikts hinter ihrer Regierung versammelte.3 Dieser sogenannte rally-round-the-flag-Effekt zeigt sich auch im Ukraine-Konflikt. Die neue Kiewer Regierung wurde als Bedrohung für ethnische Russen im Osten der Ukraine betrachtet, die Annäherung des Landes an den Westen beschwor Ängste vor einem Nato-Beitritt herauf. Mit der Angliederung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine gewann die russische Führung erheblich an Popularität hinzu.

War die wirtschaftliche Leistung seit 2009 schon nicht mehr geeignet, dauerhafte Regimeunterstützung zu generieren, so wurde der Gesellschaftsvertrag der 2000er Jahre mit dem Ukraine-Konflikt endgültig transformiert. Die finanzielle Unterstützung der Krim, die enorme Aufstockung des Militärhaushalts (um 33 Prozent im Jahr 2015) sowie die wirtschaftlichen Einbußen infolge der westlichen Sanktionen verlangen der russischen Bevölkerung große finanzielle Opfer ab. Der Staat kürzt 2015 seine Ausgaben für Bildung (um 8 Prozent), Gesundheit (um 10 Prozent) und Wohnungsbau (um 40 Prozent), und die Reallöhne gehen 2015 um mindestens 9 Prozent zurück.4 Gleichwohl zeigen die Ratings des Präsidenten Werte wie zu besten Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs.5

An die Stelle des alten scheint also ein neuer Gesellschaftsvertrag zu treten: Das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand der eigenen Bevölkerung werden angesichts der wahrgenommenen Bedrohungslage zurückgestellt. Im Austausch für Loyalität bietet die politische Führung nun ein neues Russlandbild an: nach zwei Jahrzehnten internationaler Bedeutungslosigkeit sei das Land nun „von den Knien auferstanden“ und habe seine Rolle als Großmacht wiedergefunden. Das Versprechen wirtschaftlichen Wohlergehens ist auf der Bürgerseite des Vertrages damit durch die Bereitstellung eines neuen Selbstbildes ersetzt: Das Psychologische tritt – zumindest teilweise – an die Stelle des Ökonomischen.

Folgt man dieser Interpretation, die auch Alexander Baunow vom Carnegie Moscow Center unterstützt6, so stellt sich die Frage, wie lange das neue Modell verlässliche politische Unterstützung erzeugen kann. Vor allem die armutsgefährdete Schicht unterhalb der Mittelklasse (Falscher Mittelstand) spürt die negativen wirtschaftlichen Folgen des neuen Gesellschaftvertrags, unter anderem durch die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Entwertung des Rubels. Da sie das gesellschaftliche Rückgrat von Putins Regime bildet, wird derzeit diskutiert, wie lange diese Gruppe einen Vertrag einhält, von dem sie wirtschaftlich nicht profitiert.


1.Schröder, Hans-Henning (2011): Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag? In: Russland-Analysen 2011 (231), S.12-14. Siehe auch Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
2.Greene, Samuel (2012): Citizenship and the Social Contract in Post-Soviet Russia, in: Demokratizatsiya 20(2), S.133-140
3.Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, S.607, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
4.Siegert, Jens (2015): Wirtschaftskrise in Russland - und keiner protestiert, in: Russland-Analysen 2015 (303), S.12-14
5.Lewada.ru: Odobrenie dejatelʼnosti Vladimira Putina
6.Baunow, Alexander (2015): Ever So Great: The Dangers of Russia’s New Social Contract
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