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„Teile und herrsche!”

Repressionen, hohe Haftstrafen, Unterdrückung – so versucht Alexander Lukaschenko, die belarussische Gesellschaft einzuschüchtern und damit unter Kontrolle zu halten. Ein Szenario wie 2020 soll sich nach dem Willen der Machthaber möglichst nicht wiederholen. Dafür bringt Lukaschenko sein System zusehends auf den Weg des Totalitarismus. Kann dies aber langfristig funktionieren? Vor 2020 hielt ein Gesellschaftsvertrag das autoritäre System mit der Gesellschaft zusammen. Der Deal: Lukaschenko sorgt für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität und einen bescheidenen Wohlstand, im Gegenzug verzichten die Menschen weitgehend auf demokratische Freiheiten.

Was aber hat der Staat der Bevölkerung nun zu bieten? Und was bedeutet Lukaschenkos häufig zu vernehmende Beschwörungsformel von der Einheit von Silowiki und dem Volk in dieser Hinsicht? Igor Lenkewitsch macht sich für das Online-Medium Reform.by auf die Suche nach Antworten.

Quelle Reformation

„Sehr wichtig ist jetzt die Einheit von Geheimdiensten, dem Block der Miliz und unserem Volk. Dann werden wir es leichter haben“, erklärte Alexander Lukaschenko bei einem Besuch der Gedenkstätte in Chatyn. Wer ist hier „wir”? Und warum wird es leichter? Und folgt aus dem Gesagten, dem Regime ist bewusst, dass es keine Einigkeit zwischen Miliz und Bevölkerung gibt?

„Die Miliz und das Volk“, diese Parole war bei den Protestaktionen in Belarus oft erklungen. Damals hatte die Gesellschaft noch auf die Silowiki, die Sicherheitskräfte gehofft. Sie hatte geglaubt, dass sie nicht auf friedliche Bürger losgehen werden. Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die Silowiki haben sich entschieden, das wankende Regime zu unterstützen. Und danach fanden sie sich zusammen mit dem Regime in einem sehr engen Korridor wieder: Zum Machterhalt blieben keine anderen Argumente als Repressionen. Die seit ihrem Beginn schon mehrere Jahre anhalten, wobei menschliche Schicksale gebrochen werden und die Gesellschaft gespalten wird. Die Regierung versucht weiterhin, die Situation mit Gewalt zu ihren Gunsten zurechtzubiegen. Nun kann man zwar mit Repressionen aktive Proteste unterdrücken, doch ist es nicht möglich, die Menschen dadurch unter der Flagge zu vereinen. Wozu dann diese Aufrufe zur Einheit?

„Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko?”

Das Problem der Spaltung wird für die belarussische Gesellschaft immer aktueller. Zu einem Dialog für eine nationale Aussöhnung hatte bereits der Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki in seinem Schlusswort vor Gericht aufgerufen. Von einer notwendigen nationalen Aussöhnung zur Wahrung der Unabhängigkeit von Belarus hatte in einem offenen Brief auch Iossif Sereditsch, der Chefredakteur von Narodnaja Wolja, geschrieben.

Auch Alexander Lukaschenko erinnert oft an die Bedeutung einer Einigung. Allerdings verbergen sich hinter solchen Formulierungen andere Begriffe. Bjaljazki und Sereditsch sagen, dass das Land in eine Sackgasse geraten ist, dass ein gleichberechtigter Dialog zwischen allen politischen Kräften vonnöten ist und eine Amnestie für alle politischen Gefangenen. Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko? Von einer Einigkeit der Geheimdienste, der Sicherheitskräfte und der Bevölkerung. Da geht es nicht um „Die Miliz und das Volk“. Und der Sinn verkehrt sich hier sofort ins Gegenteil.

Das ist ein ganz grundlegender Unterschied. Während die demokratischen Kräfte von einem Dialog sprechen, meint das Regime Unterwerfung. Eine widerspruchslose Unterwerfung. Einigkeit ist hier eine Art Stockholm-Syndrom, wenn das Opfer anfängt, sich für den Angreifer einzusetzen. Die Bevölkerung soll die Silowiki unterstützen, die eben diese Bevölkerung peinigen.

Die Repressionen im Land werden nicht nur nicht schwächer, sondern es wird im Gegenteil die Schlagzahl erhöht. Experten des Wirtschaftsforschungsinstituts BEROC heben hervor, dass die Zahl der von Menschenrechtlern registrierten politisch motivierten Festnahmen weiter zunimmt. Wenn die Silowiki im Sommer vergangenen Jahres noch im Schnitt 100 bis 120 Personen pro Monat festnahmen, waren es im Herbst dreieinhalb Mal so viel. Auch die Zahl der politisch motivierten Gerichtsverfahren steigt und die Haftstrafen werden härter. Es gibt jetzt die Tendenz zu „Firmenfestnahmen“, bei denen sich die Sicherheitskräfte gleich eine ganze Reihe von Mitarbeitern eines Unternehmens schnappen, und zwar von ganz unterschiedlichem Profil. Die Behörden verfolgen die Verwandten der politischen Gefangenen. Die Repressionen gegen Anwälte und Medien hat ein neues Level erreicht. Das alles lässt sich ohne Übertreibung nur als Massenterror bezeichnen.

 „Wir leben in einem waschechten Stalinismus”

Politische Gegner, Experten, Journalisten werden vom Regime zu Gefängnisstrafen von 10, 12, 15 oder mehr Jahren verurteilt. Fehlt nur noch, dass wieder Erschießungen stattfinden. Für Landesverrat wurde schon die Todesstrafe eingeführt. Bislang zwar nur für Staatsdiener, doch wer garantiert uns, dass die Liste derjenigen, die unter dieses Gesetz fallen, nicht länger wird? Schauen wir doch der Wahrheit ins Gesicht: Wir leben in einem waschechten Stalinismus.

Aus Lukaschenkos Erklärung können wir eines schließen: das Regime weiß sehr wohl, dass die Silowiki, auf die es sich stützt, und ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen. Und die Kluft zwischen ihnen wird immer tiefer. Doch mit den Repressionen aufzuhören, hieße, die Macht zu verlieren.

Und was versteht das Regime eigentlich unter „Einigkeit“? Junge Pioniere, die härteste Strafen für „Verräter“ fordern. Versammlungen der Belegschaften, die glühend für harte Urteile eintreten. Denunziation von „grässlichen Weiß-rot-weiß-lern“. Und Unterstützung für der Repressionen. Das wäre nach Lukaschenkos Verständnis Einigkeit. Und er lügt keineswegs, wenn er sagt, es würde „leichter für uns“. Wenn ein Teil der Gesellschaft aktiv den anderen denunziert, wenn die Saat des Misstrauens und der Angst ausgebracht und aufgegangen ist, einer Angst nicht nur vor den Strafbehörden, sondern auch vor Nachbarn, Kollegen und Freunden, dann ist es für das Regime sehr viel einfacher, an der Macht zu bleiben. „Einigkeit“ ist hier nicht mehr als ein schönes Wort. Es bedeutet, dass man sich den allmächtigen Silowiki beugt. Und die Angst, einen Schritt nach links oder rechts zu machen – weil dann die Wachmannschaften ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen.

Keine horizontalen Strukturen, keine Zusammenarbeit. Jeder hat Angst vor jedem. Das ist es, was die Einigkeit mit den Silowiki bedeutet. Also die uralte Maxime „teile und herrsche“, die auf eine weitere Spaltung der Gesellschaft abzielt.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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