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Bystro #27: Wird die Bundestagswahl die Russland-Politik verändern?

Außenpolitische Erwägungen spielen bei der Bundestagswahl für die Wähler traditionell eine, gelinde gesagt, untergeordnete Rolle. So auch bei der aktuellen Wahl, die der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz einen knappen Sieg vor der CDU/CSU beschert hat. Was aber bedeutet eine mögliche neue Regierung unter Scholz, der sich bereits für eine Ampel-Koalition mit den Grünen und mit der FDP ausgesprochen hat, für eine deutsche Außenpolitik in Bezug auf Russland und Belarus? Ist eine Rückkehr zur früheren Ostpolitik denkbar? Was würde eine sogenannte Jamaika-Koalition für die deutsch-russischen Beziehungen bedeuten? Auf diese Fragen und andere antwortet Fabian Burkhardt in einem Bystro.

Quelle dekoder
  1. 1. Wer macht in Deutschland überhaupt Russland- und Belarus-Politik: das Auswärtige Amt oder das Kanzleramt?

    Traditionell verbindet man deutsche Außenpolitik mit dem Auswärtigen Amt – unter anderem weil dort in den Fachreferaten die außenpolitische Expertise sitzt und die Diplomaten langjährige Erfahrung haben. 

    Allerdings verfügt die Bundeskanzlerin über die Richtlinienkompetenz – sie kann entscheidende Akzente in der Außenpolitik setzen. Das Auswärtige Amt ist natürlich an diese Richtlinienkompetenz gebunden, obwohl der Außenminister traditionell aus einer anderen Partei kommt als die Bundeskanzlerin. Wenn man zurückblickt, verbindet man wichtige Weichenstellungen wie Sanktionen nach der Krim-Annexion und Russlands militärischer Intervention in der Ostukraine, das Normandie-Format oder auch die Fertigstellung von Nord Stream 2 mit der Bundeskanzlerin. Andererseits war vor allem Steinmeier als Außenminister prägend, etwa durch die Initiierung der Modernisierungspartnerschaft 2008 oder die sogenannte Steinmeier-Formel zur Beilegung des Ukraine-Konflikts. 

    In den 16 Jahren Merkel waren vier verschiedene Bundesminister des Auswärtigen tätig: Im Kanzleramt gab es also mehr Konstanz – und somit politisches Gewicht – in außenpolitischen Fragen. Hinzu muss man aber auch bedenken, dass zur Außenpolitik auch Wirtschafts-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik sowie andere Politikfelder gehören. Das heißt: Es kommt sehr stark auf die Koordination verschiedener Ministerien an. Da dem Kanzleramt eine Koordinationsfunktion zukommt, kann es in der Außenpolitik Akzente und Prioritäten setzen. Insgesamt sind die wesentlichen Akteure der deutschen Außenpolitik im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt auf bürokratischer Ebene sehr eng miteinander verzahnt: sowohl hinsichtlich der politischen Entscheidungen als auch personell. 

  2. 2. Wenn es – was eher unwahrscheinlich ist – zu einer Großen Koalition unter Olaf Scholz kommt – würde sich die Russland- und Belarus-Politik der Bundesregierung überhaupt verändern?

    Eine Große Koalition mit umgekehrten Vorzeichen könnte für weitestgehende Konstanz in der Außenpolitik stehen. Zwar hat der Kanzlerkandidat Scholz im Wahlkampf eine neue Ostpolitik gefordert, auf die Einzelheiten ging er dabei aber nicht ein. Daher ist es fraglich, mit welchen Inhalten er diese füllen würde. Scholz hat den Weiterbau von Nord Stream 2 mitgetragen, er steht auch ausdrücklich zu den Sanktionen gegenüber Russland und Belarus, als Kanzler würde er sich in seiner Ostpolitik eng mit der EU abstimmen müssen, die Partnerschaft innerhalb der NATO würde wohl ähnlich fortgesetzt wie unter Merkel. Hinzu kommt, dass sich in der SPD in den vergangenen Jahren ein Generationenwandel vollzogen hat: Die Reihen der Vertreter einer klassischen sozialdemokratischen Ostpolitik haben sich merklich gelichtet. Die Jüngeren dagegen sehen Deutschland viel stärker als Teil der EU, deutsche Alleingänge in der Russland- und Belarus-Politik sind da nur schwer denkbar. Obwohl der linke Flügel in der Partei immer noch stark ist, halte ich es aus den genannten Gründen für wenig wahrscheinlich, dass die SPD zu einer traditionellen Ostpolitik im Geiste von Willy Brandt zurückkehrt. Es ist zwar denkbar, dass Initiativen etwa im Bereich der Rüstungskontrolle gestartet werden, insgesamt ist der Handlungsspielraum aber sehr begrenzt.

  3. 3. Bei einer Dreier-Koalition: Wie würde ein Außenminister der Grünen oder der FDP die Beziehungen zu Russland prägen?

    Die Grünen haben sich in ihrem Wahlprogramm aus Umweltschutzgründen gegen Nord Stream 2 ausgesprochen. Die FDP wollte ein Moratorium, bis der Kreml im Fall Nawalny unabhängige Ermittlungen gewährleistet und sich die Menschenrechtslage in Russland bessert. 

    Ob die Pipeline überhaupt Einzug in einen Koalitionsvertrag finden wird, ist derzeit aber unklar. Eine Dreierkoalition bedeutet insgesamt einen höheren Aufwand bei der Koordinierung zwischen den Koalitionspartnern. Sie bedeutet außerdem, dass man automatisch zu mehr Kompromissen gezwungen ist. 

    Die Einlösung von Wahlversprechen ist bei Nord Stream 2 deshalb genauso schwierig wie bei anderen Fragestellungen der Russland-Politik. Möglicherweise könnten die Grünen und die FDP darauf drängen, dass die Pipeline nicht den EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt entspricht. Vielleicht wird Nord Stream 2 aber wie geplant in Betrieb gehen: Vieles hängt von der Kompromissbereitschaft der Koalitionspartner ab. Hinzu kommt, dass es etwa in der FDP verschiedene Kräfte gibt – solche, die für liberale Werte und Menschenrechte eintreten, und andere – denen wirtschaftliche Aspekte und solche wichtiger sind, die der sozialdemokratischen Ostpolitik nahestehen. Bei den Grünen gibt es möglicherweise verstärktes Interesse, mit Russland in einen Dialog über den Klimawandel einzutreten. Neben den Dynamiken zwischen den drei Koalitionspartnern werden also auch die Eigendynamiken innerhalb der Parteien selbst eine Rolle in der Russland-Politik spielen. In Bezug auf Belarus scheint eindeutig, dass sowohl Grüne als auch die FDP das Sanktionsregime gegen das System Lukaschenko weiter mittragen werden oder dieses (möglicherweise auch gegen Russland) verschärfen würden, wenn es zu einer erneuten Repressionswelle oder Eskalation kommt. 

  4. 4. Welche Rolle spielt der Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft in der Russland- und Belarus-Politik?

    Das 2003 von der rot-grünen Bundesregierung geschaffene Amt hieß zunächst Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Nach der Krim-Annexion bekam es eine neue Bezeichnung – und eine weitere Ausrichtung hin zu den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Zentralasiens. Die letzten beiden Koordinatoren – Dirk Wiese und Johann Saathoff (beide SPD) – waren nur wenig profiliert in der Region, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den erfahrenen Außenpolitikern Gernot Erler (SPD) und Andreas Schockenhoff (CDU). Wiese hat versucht, eigene Akzente zu setzen, vor allem in Fragen der Jugend- und Visa-Politik. Der Handlungsspielraum des Koordinators ist allerdings sehr eng bemessen und wird noch begrenzter durch den zunehmend repressiven Kurs der belarussischen und russischen Regierung gegen die jeweilige Zivilgesellschaft. Dass die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit immer schwieriger wird – das hat das Beispiel der NGOs Deutsch-Russischer Austausch (DRA), Libmod und Forum der russischsprachigen Europäer gezeigt, die Ende Mai in Russland zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt wurden. Damit ist das Amt des Koordinators derzeit eine extrem schwierige Position, und es ist fraglich, ob es in den nächsten Jahren nennenswerte Gestaltungsfreiräume haben wird. Gefragt sind deswegen Kreativität und neue Ansätze in der Zusammenarbeit mit den Zivilgesellschaften und der Diaspora. 

  5. 5. 16 Jahre Angela Merkel – bedeutet dies 16 Jahre Kontinuität in der deutschen Russland-Politik? 

    Für die vergangenen 16 Jahre lassen sich viel Wandel und viele Brüche feststellen, von der in den optimistischen 2000er Jahren ausgerufenen Modernisierungspartnerschaft bis hin zu immer schärferen Sanktionen. Immer wenn man nach 2014 gedacht hat, die Beziehungen können eigentlich gar nicht mehr schlechter werden, wurde man leider eines Besseren belehrt. Kontinuität lässt sich vor diesem Hintergrund demgegenüber am Beispiel Nord Stream 2 feststellen: Egal wie schlecht die Beziehungen waren, Merkel hat immer am Weiterbau der Pipeline festgehalten. Kontinuität gab es auch hinsichtlich der Krim-Annexion und des Krieges in der Ostukraine: Merkel ist nie von der Position abgerückt, dass die Annexion völkerrechtswidrig sei, und dass Russland deshalb sanktioniert werden müsse. Gleichzeitig bemühte sie sich im Normandie-Format um die Konfliktbeilegung. Schließlich hat es auch eine Kontinuität bei Menschenrechten gegeben: Im Fall Nawalny blieb sie standfest, und der Austausch zwischen den Zivilgesellschaften war für sie immer ein wichtiger Pfeiler der Russland-Politik. Insgesamt lässt sich Merkels Erbe auf die Formel bringen: Sie hat stets versucht Russland in verschiedene Kooperationsformate einzubinden, gleichzeitig war sie aber auch eine treibende Kraft in der Sanktionspolitik. 

  6. 6. Wird Merkels Nachfolger diese Linie fortsetzen?

    Die nächste Bundesregierung wird sich mit dem teils widersprüchlichen Erbe der Russland- und Belaruspolitik von Merkel konfrontiert sehen. Sie wird wohl weiterhin versuchen, begrenzte Kooperationsangebote zu schaffen, wo sich die Interessen von Russland und Deutschland überschneiden. Gleichzeitig wird sie eine in die EU eingebettete Sanktionspolitik betreiben und versuchen, die EU resilienter gegenüber Russland zu gestalten. 

    Unabhängig davon, wie die endgültige Regierung dann aussehen wird – es gibt gewisse strukturelle Elemente, die die bilateralen Beziehungen zu Russland in den nächsten Jahren prägen werden: Dazu gehören etwa die transatlantischen Beziehungen zu den USA, aber auch die Beziehungen der EU, der USA aber auch Russlands zu China. Wie wird sich die Politik innerhalb der EU selbst gestalten? Auch diese Frage ist entscheidend für die deutsche Russland- und Belarus-Politik. Schließlich wird auch die Klimapolitik eine Rolle spielen: Je schneller die Energiewende in Europa vollzogen wird, desto schneller wird die europäische Abhängigkeit von den Importen fossiler russischer Energieträger sinken – was für Russland gravierende Folgen haben könnte. 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Fabian Burkhardt
Veröffentlicht am: 27. September 2021

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NATO-Russland Beziehungen

Die Beziehungen der NATO zu Russland standen von Anfang an unter keinem guten Stern. Der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, brachte die Aufgabe der transatlantischen Militärallianz in den 1950er Jahren auf die kurze Formel: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa schien es zunächst, die NATO habe ihre Existenzberechtigung verloren. Allerdings zeigte sich bald, dass nach 1989 vor allem Polen und die baltischen Länder unter den Schutzschirm der NATO drängten. Zeitweise stand sogar eine russische NATO-Mitgliedschaft im Raum. Die frühen 1990er Jahre waren von schwierigen Diskussionen innerhalb der NATO geprägt, bei denen einerseits Beitrittswünsche osteuropäischer Staaten und andererseits russische Empfindlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Letztlich setzte sich die Linie des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton durch, der eine Osterweiterung der NATO befürwortete.

Immer mehr nahmen beide Seiten in den folgenden Jahren einander als Bedrohung wahr. Wie ein Refrain zog sich die Klage über die NATO-Osterweiterung durch die Reden führender russischer Politiker. Der Kreml hatte die NATO-Osterweiterung schon in der nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 als „inakzeptabel“ bezeichnet und diese Formulierung 2015 noch einmal bekräftigt.

Auf dem NATO-Gipfel im Juni 2021 sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das Verhältnis sei „auf dem tiefsten Punkt seit dem Kalten Krieg“. Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, wobei es um einen Stopp der NATO-Osterweiterung, um den Rückzug der USA aus Osteuropa und den Abzug von amerikanischen Nuklearwaffen aus Europa ging. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Bündnis beantragt.

Die Frage der NATO-Osterweiterung stellte sich zunächst im Kontext der deutschen Einheit. Am 26. Januar 1990 fiel im Kreml in einem Geheimtreffen die Entscheidung für die Ermöglichung der Wiedervereinigung. Zunächst ging der Westen davon aus, dass weder die neuen Bundesländer noch andere osteuropäische Staaten Teil der NATO sein würden. 

„Not one inch eastward“ – die Frage der NATO-Osterweiterung

Auf einer Pressekonferenz am 2. Februar 1990 bekräftigten der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein US-Amtskollege James Baker diese Absicht. Allerdings revidierte James Baker schon eine Woche später seine Position und fragte Gorbatschow, ob er sich ein Gesamtdeutschland innerhalb der NATO vorstellen könne, wenn die NATO sich darüber hinaus „not one inch eastward“ bewegen würde. Hier stellte sich ein erstes Missverständnis ein: Bakers Aussage wurde von amerikanischer Seite als Verhandlungsposition und von russischer Seite als Zusicherung aufgefasst.1 

Die Forschung ist sich einig, dass es bei den Verhandlungen über die deutsche Einheit nie schriftliche Zusagen gegenüber der sowjetischen Führung gegeben habe, dass sich die NATO nicht weiter ostwärts ausdehnen werde. Helmut Kohl musste zwischen dem amerikanischen Insistieren auf der NATO und der sowjetischen Vision einer europäischen Friedensordnung vermitteln. Der Bundeskanzler wusste auch ganz genau, dass die deutsche Wiedervereinigung weder in Frankreich noch in Großbritannien Begeisterungsstürme auslösen würde. Die amerikanische Regierung befürchtete zudem, dass Bonn einen separaten Deal mit Moskau abschließen und dabei die eigene NATO-Mitgliedschaft in die Verhandlungsmasse einbringen könnte. Deshalb bekräftigte James Baker bei einem Gespräch am 18. Mai 1990 in Moskau die amerikanische Forderung nach einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Gorbatschow erwiderte darauf ironisch, in einem solchen Fall würde auch die Sowjetunion ein NATO-Beitrittsgesuch stellen. Im endgültigen 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit ist die freie militärische Bündniswahl des vereinten Deutschland verbrieft. Letztlich wurde das Einverständnis des Kreml schlicht gekauft: Bonn und Moskau verständigten sich kurz vor der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags auf eine deutsche Zahlung von 15 Milliarden D-Mark für den Abzug der Roten Armee.2  Der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater Robert Gates brachte die Methode später unverfroren auf den Punkt: „to bribe the Soviets out“.3 

Jelzin: Russischer NATO-Beitritt als Ziel

Auch Gorbatschows Rivale Boris Jelzin versuchte das NATO-Dossier aktiv zu gestalten. Kurz vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion, am 20. Dezember 1991, weckte er hohe Erwartungen, als er einen russischen NATO-Beitritt zum „langfristigen politischen Ziel“ erhob. Diese Vision hielt sich erstaunlich lange: Noch im Jahr 2000 soll Putin Präsident Clinton gefragt haben, was er über diesen Plan denke. Die Administration Clinton hätte eine Aufnahme Russlands in die NATO unter der Bedingung unterstützt, falls es sich zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drangen zahlreiche osteuropäische Staaten auf eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis. Bezeichnend ist die Rede, die der tschechoslowakische Präsident Václav Havel im März 1991 im NATO-Hauptquartier in Brüssel hielt. Er wies darauf hin, dass er mit der offiziellen Botschaft aufgewachsen sei, die NATO stelle eine „Bastion des Imperialismus“ und die „Inkarnation des Teufels“ dar. Heute wisse er, dass die NATO auf demokratische Weise die Freiheit und die Werte der westlichen Zivilisation verteidige.4 

„Partnership for Peace“

Die NATO war sich allerdings uneinig. Im Sommer 1993 wurden in Washington intensive Diskussionen geführt. Das Pentagon war gegen eine NATO-Osterweiterung, das Weiße Haus dafür. Am Ende stand ein Kompromiss, in dem den osteuropäischen Ländern eine „Partnership for Peace“ angeboten wurde. Am 22. Oktober 1993 löste US-Außenminister Christopher Warren bei Jelzin eine enthusiastische Reaktion aus, als er das „Partnership for Peace“-Programm vorstellte. Allerdings hatte Jelzin den NATO-Vorschlag so verstanden, dass „Partnership for Peace“ nicht eine Vorbereitung, sondern ein Ersatz für eine NATO-Osterweiterung sei.5 Präsident Clinton präzisierte bereits im Januar 1994, dass der Beitritt der osteuropäischen NATO-Kandidaten nur eine „Frage des Wann und Wie“ sei. Eine entscheidende Rolle spielte in Washington, London und Paris der Jugoslawien-Krieg, der allen die Notwendigkeit eines starken Militärbündnisses in Europa klar vor Augen führte. Man wusste um Moskaus Empfindlichkeiten, war aber bereit, eine Abkühlung der Beziehungen in Kauf zu nehmen. Clinton bezeichnete Russland als „unglaubliches Chaos“: Der Kreml hatte gerade eine tiefe Verfassungskrise durchgestanden, in Tschetschenien kündigte sich ein separatistischer Krieg an, die Wirtschaft befand sich im freien Fall.  

Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern

In der Frage der NATO-Osterweiterung spielten auch Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern eine Rolle: Großbritannien blickte skeptisch auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, Frankreich hielt überhaupt vorsichtige Distanz zur NATO und Deutschland wollte seine östlichen Nachbarn nicht verärgern. Auf beiden Seiten des Atlantiks war man sich einig, dass das schwankende Russland „kostengünstig“ stabilisiert werden müsse.6 

Die sicherheitspolitischen Vorstellungen des Kremls gingen in eine andere Richtung. Schon im Oktober 1993 machte der russische Präsident Jelzin seinem Unmut Luft und wies Präsident Clinton in einem Brief darauf hin, dass der „Geist“ des 2+4-Vertrags, der explizit eine Stationierung fremder NATO-Truppen in den neuen Bundesländern verbiete, gleichzeitig eine NATO-Osterweiterung ausschließe. 

NATO-Russland-Grundakte

Im Januar 1994 schlug Jelzin seinem Amtskollegen Clinton „eine Art Kartell zwischen USA, Europa und Russland“ vor, das die Weltsicherheit garantieren würde. Als eine mögliche Strategie schwebte ihm dabei eine Aufwertung der KSZE vor. Der Kreml fühlte sogar vor, ob für die Europäer ein Sicherheitssystem denkbar wäre, in dem die USA „nicht notwendigerweise“ vertreten sind. Russland kündigte an, in diesem Fall seine Streitkräfte zu reduzieren. Am Ende fiel die Entscheidung in einem kurzen Zeitfenster: Die NATO-Osterweiterung wurde nicht vor der russischen Präsidentschaftswahl im Juli 1996 publik gemacht, um Jelzins Bestätigung im Amt nicht zu gefährden. Umgekehrt wollte Clinton mit genau diesem Punkt seine eigene Wiederwahl im November 1996 stützen. Um Russland zu beschwichtigen, gab die NATO im Dezember 1996 ein Statement ab, dass die Allianz „keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund“ habe, Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren. 1997 unterzeichneten die NATO und Russland eine Grundakte zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens.7 Federführend war dabei der US-Vizeaußenminister Strobe Talbott, der sich eng mit dem NATO-Generalsekretär Javier Solana abstimmte. Allerdings gerieten dabei die europäischen Alliierten ins Hintertreffen. Solana versuchte die Situation zu entschärfen, indem er den amerikanischen Formulierungsvorschlag für die Grundakte als seinen eigenen ausgab. Allerdings merkte ein britischer Vertreter maliziös an, dass Solana wenigstens die Rechtschreibung anpassen müsse, wenn er seine transatlantischen Ghostwriter verbergen wolle.8

1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis bei, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien. In der jüngsten Vergangenheit wurden noch Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) in die NATO aufgenommen. Georgien und der Ukraine wurde auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 zwar ein Beitritt versprochen, allerdings ohne jeglichen Zeitplan. Wegen der Kriege in Georgien (2008) und in der Ukraine (2014) ist die NATO-Mitgliedschaft dieser beiden Länder allerdings in weite Ferne gerückt. 

Der NATO-Russland-Rat

Wie in der NATO-Russland Grundakte angekündigt, wurde 2002 ein NATO-Russland Rat eingerichtet, der aber zu wenig substanziellen Erfolgen führte. Im Gegenteil: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 formulierte Präsident Putin in harschen Worten seine Enttäuschung über das angebliche Nichteinhalten westlicher Sicherheitsgarantien. Er verwies dabei auf ein Votum des NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner, der am 17. Mai 1990 bestätigt hatte, dass keine NATO-Truppen östlich der Grenzen Deutschlands eingesetzt würden.9 

Nach der Annexion der Krim und dem verdeckten russischen Angriffskrieg in der Ostukraine trug die NATO im Jahr 2016 den Sicherheitsbedenken Polens und der baltischen Länder Rechnung, indem sie im Rahmen der „Enhanced Forward Presence“ je etwa 1000 Soldaten aus verschiedenen NATO-Mitgliedsländern auf Rotationsbasis in diesen vier Ländern einsetzte. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Bestimmungen der NATO-Russland Grundakte nicht verletzt werden. In diesem Abkommen wurde bekräftigt, es solle keine permanente Stationierung von ausländischen NATO-Truppen in den osteuropäischen Mitgliedstaaten geben. 

Moskau schloss 2021 seine NATO-Vertretung in Brüssel. Das Militärbündnis betonte dennoch, offen für einen Austausch zu bleiben. Allerdings bleibt das Verhältnis höchst angespannt, auch weil die USA als NATO-Führungsmacht zuoberst auf der offiziellen russischen Liste „unfreundlicher“ Staaten standen.10

Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, in denen es nicht nur einen Stopp der NATO-Osterweiterung forderte, sondern auch den militärischen Rückzug aus osteuropäischen Bündnisstaaten. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Militärbündnis beantragt. Dem voran ging nicht nur die russische Invasion in die Ukraine, sondern auch eine noch vor dem Angriffskrieg begonnene russische Politik der Nadelstiche mit gezielten Luftraum- und Hoheitsgewässerverletzungen der NATO-Staaten.

Aktualisiert am 19.05.2022


1.National Security Archive: NATO Expansion: What Gorbachev Heard 
2.Lozo, Ignaz (2021): Gorbatschow: Der Weltveränderer, Darmstadt, S. 293-305 
3.Sarotte, Mary Elise (2010): Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to “Bribe the Soviets Out” and Move NATO In, in: International Security 35/ 2010, S. 110–137 
4.Schimmelfennig, Frank (2003): The EU, NATO and the Integration of Europe: Rules and Rhetoric. Cambridge, S. 232 
5.National Security Archive: NATO Expansion: What Yeltsin Heard 
6.Liviu Horovitz, Liviu (2021): A “Great Prize,” But Not the Main Prize: British Internal Deliberations on Not-Losing Russia, 1993–1995, in Schmies, Oxana (Hrsg..): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 85-112, hier S. 92 
7.nato.int: Founding Act 
8.Pifer, Steven (2021): The Clinton Administration and Reshaping Europe, in: Oxana Schmies (Hrsg.): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 113-142, hier S. 131 
9.kremlin.ru: Speech and the Following Discussion at the Munich Conference on Security Policy und nato.int: The Atlantic Alliance and European Security in the 1990s 
10.publication.pravo.gov.ru: Rasporjaženie Pravitel'stva Rossijskoj Federazii ot 13.05.2021 № 1230-r 
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