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Warten auf den Tag der Freiheit

Am 22. Februar 2021 hatten sich Alexander Lukaschenko und sein russischer Kollege Wladimir Putin in der Nähe von Sotschi getroffen. Es war das zweite Treffen nach dem Beginn der historischen Protestwelle im August 2020 in Belarus. Beim ersten Treffen im September hatte Putin am Schwarzen Meer seine Unterstützung für Lukaschenko mit einem 1,5 Milliarden US-Dollar-Kredit untermauert. Diesmal ging es weniger um Geld, Gas und Kredite als wohl mehr um die Symbolik des Treffens, wie Kommentatoren urteilten: Zwei Autokraten präsentierten sich als Einheit im Kampf gegen die Proteste und potentielle demokratische Bewegungen in ihren jeweiligen Ländern. 

Dass die belarussisch-russischen Beziehungen in der Vergangenheit immer wieder von großen Schwierigkeiten und wenig Harmonie geprägt waren, beschreibt die Wissenschaftlerin Nadja Douglas in der Gnose zum Thema.

Lukaschenko befürchtet indes, dass die Proteste am 25. März, dem Tag der Freiheit, wieder im großen Stil ausbrechen könnten. Die Opposition hat eine Demonstration für diesen Tag angekündigt. Und der KGB-Chef Iwan Tertel will bereits Hinweise auf Destabilisierungspläne ausgemacht haben. Entsprechend ist zu erwarten, dass der Machtapparat weiter gezielt gegen jeglichen Widerstand vorgehen wird. Auch für diese Gangart diente das Treffen in Sotschi als Rückversicherung.

In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta geht die bekannte belarussische Journalistin Irina Chalip der nicht ganz neuen Zweckharmonie zwischen den beiden Autokraten auf den Grund.

Quelle Novaya Gazeta

An dem Tag, als  Putin und Lukaschenko in Sotschi fürstlich zu Mittag speisten, warf sich in Gomel der sechzehnjährige Nikita Solotarjow gegen die Gitterstäbe seines Käfigs im Gerichtssaal und schrie: „Lasst mich hier raus!“. Nikita wird wegen Vorbereitung von Massenunruhen zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Er hat Epilepsie.

Verhaftet wurde Nikita Solotarjow im August 2020. „Papa, sie schlagen mich jeden Tag!“, sagte er zu seinem Vater, der bei den Verhören als gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen dabei war. Nikita beklagte, man würde ihm seine Tabletten nicht geben, und einmal soll der Aufseher auf seine Bitte um Medikamente geantwortet haben: „Du bist ein Politischer und wirst verrecken!“

Seit Beginn der Proteste in Belarus sind 200 Tage vergangen, und auf den ersten Blick scheint es, als wären die Proteste vorbei. Viele Menschen sind wegen Corona in Quarantäne. Andere verbringen ihre Zeit vor Gericht: Im Zuge der Proteste wurden an die zweitausend Strafverfahren eingeleitet.

Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten

Die Gerichtsverhandlungen laufen seit Dezember. In vielen belarussischen Städten kommen Menschen zu den Gerichten, um die Angeklagten zu unterstützen: den minderjährigen Nikita, die Journalistinnen von Belsat, den Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko sowie Hunderte andere Protestteilnehmer, Journalisten, Administratoren von Telegram-Kanälen, Blogger und Unternehmer. Die Menschen bringen Sachen in die Gefängnisse und stehen in den Postämtern Schlange, um Päckchen, Telegramme oder Geld in die U-Haft zu schicken. Abends oder früh morgens gehen sie mit Flaggen raus zu lokalen Protestaktionen in ihren Vierteln und in den Hinterhöfen. Es ist natürlich dunkel. Und unheimlich. Manchmal scheint es, als sei die Morgendämmerung eine Erfindung der Autoren utopischer Romane.

Die Partisanenaktionen in den Hinterhöfen sind natürlich keine hunderttausendköpfigen Märsche durch die Innenstadt von Minsk. Und die Lage in Belarus ist heute schwieriger denn je. Aber auf keinen Fall hoffnungslos. Im Gegensatz zu der von Lukaschenko, die ist praktisch hoffnungslos. Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten, und er aus Gewohnheit zu einem 100-Meter-Sprint. Lukaschenko hat seine Kräfte falsch eingeteilt, und jetzt bleibt ihm nur noch, nach Sotschi zu fliegen und zu hoffen – wenn nicht auf Hilfe, dann wenigstens auf ein freundliches Wort.

Noch vor einem Jahr waren die Treffen zwischen Lukaschenko und Putin Anlass für Diskussionen und akribische Analysen von Wortwahl und Gestik („er hat zweimal geguckt, und einmal hat er ‚kommen Sie rein, es zieht‘ gesagt“), sie schürten Ängste auf der einen und Hoffnung auf der anderen Seite. In Belarus kümmern die Treffen und Dialoge des Selbsternannten mit dem Nullgesetzten jetzt niemanden mehr. Gut, sie haben sich getroffen und umarmt. Getrunken und gegessen, auf Skiern gestanden. Aber das war‘s auch schon.

Sie haben jetzt ihre eigenen Gesprächsthemen, die für die Belarussen nicht mehr interessant sind, weil es nichts mehr zu besprechen gibt außer Repressalien. Lukaschenko und Putin können Erfahrungen austauschen; sie können sich Gedanken machen, ob man Kinder schon jetzt einbuchtet oder noch abwartet, bis sie erwachsen sind; sie können über das Strafmaß für Andersdenkende beratschlagen und ob man ohne Folter auskommt oder doch lieber zu den langerprobten Methoden des Herausprügelns von Geständnissen greift. Putin und Lukaschenko verbindet heute mehr denn je. Die Integrationspläne beider Staaten, Öl- und Gaspreise, frühere Auseinandersetzungen – all das ist in den Hintergrund gerückt und hängt an unsichtbaren Schnüren, die aus dem Zuschauerraum nicht zu sehen sind. Jetzt ist der Moment der wahren Einigkeit gekommen. Es könnte der Beginn einer engen Männerfreundschaft werden, aber auch ihr Ende – Essen unter Freunden können sehr unterschiedlich ausgehen, da können Sie jeden Kellner fragen. Aber im Moment wirken Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko wie zwei alte Freunde, zwei Gleichgesinnte, die zusammen auf der Bank vor der Hütte sitzen, den Sonnenuntergang betrachten, und über den Lauf der Welt sinnieren.

Abrechnung mit Andersdenkenden

Man muss nur die Bilder des jüngsten Treffens in Sotschi mit älteren vergleichen: vor einem, zwei, fünf Jahren. Damals waren das noch zwei völlig unterschiedliche Menschen: Der fast gleich einer Würgeschlange ruhige Putin, der am Haupteingang einen Bittsteller empfängt. Und Lukaschenko, der sich dem Anführer von derartigem Kaliber anbiedert. Der eine genervt, weil er gezwungen ist den anderen zu empfangen, mit dem im selben Raum zu sein und Ebenbürtigkeit vorzutäuschen ihm sichtlich Unbehagen bereitet. Der andere voll Hass, weil er gezwungen ist, Freundlichkeit gepaart mit Gehorsam zu mimen und angesichts des Spotts der Kremlbelegschaft Fassung zu bewahren, der es erlaubt und sogar ausdrücklich empfohlen ist, über die politische Mesalliance zu scherzen.

Und jetzt tun sie beide gleichermaßen so, als wäre in ihren Ländern alles stabil, lügen einander und der Außenwelt im gleichen Tonfall etwas vor, stellen sich gleichermaßen blind und beharren darauf, dass man sie zu Hause respektiert und wählt. Sogar die Kleiderwahl ist fast identisch – im Stil der sowjetischen Landbevölkerung der 1950er Jahre

Im Grunde haben sie schon lange und jeder auf seine Art auf diese Nähe zugesteuert. Der eine Teilnehmer des Sotschi-Treffens stellte seine Legitimität durch hartnäckiges Nullierungsmanagement in Frage. Der zweite erstickte die Opposition bereits im Keim. Aber in diesem Winter trafen sich ihre Wege an einem Scheidepunkt. An diesem Punkt steht die massenhafte Abrechnung mit Andersdenkenden, willkürliche Verhaftungen und Prozesse, Gewalt gegen Kinder, Drohungen gegen ihre Eltern, Folter und Mord. Vielleicht sieht genau so der Bifurkationspunkt aus.

Übrigens ist Lukaschenko schon ein paar Tage vor dem offiziellen Treffen mit seinem Verbündeten nach Sotschi geflogen – in seinen wohlverdienten Skiurlaub. Am Tag seiner Abreise wurde in Belarus der Prozess gegen die Journalistin Katerina Borissewitsch und den Arzt Artjom Sorokin aufgenommen (weil sie die Wahrheit über die null Promille im Blut des ermordeten Roman Bondarenko ans Tageslicht gebracht haben), wurde ein Dutzend weiterer Protestteilnehmer in Straflager und den offenen Vollzug geschickt, wurde gegen Viktor Babariko eine ellenlange Anklageschrift verlesen, wurde Maria Kolesnikowas Anwältin Ljudmilla Kasak die Lizenz entzogen, wurde die Haftstrafe von Pawel Sewerinzew, der seit dem 7. Juni in U-Haft sitzt, verlängert und wurde der am 11. August in Brest getötete Gennadi Schutow postum des Widerstands gegen die Staatsgewalt schuldig gesprochen. Das ist die Realität, in der die Belarussen heute leben.

Kann man den Menschen vorwerfen, dass sie ihren Protest in die Hinterhöfe verlegt haben und im Partisanenformat fortsetzen? Nein, natürlich nicht. Kann man behaupten, dass Lukaschenko aufgibt und morgen abtritt? Ich würde gerne ja sagen, aber – nein. Kann man davon sprechen, dass die Proteste verloren sind und die Menschen nicht mehr zu Hunderttausenden auf die Straßen gehen werden? Nein, nein und noch dreimal nein.

Am 25. März beginnt der Frühling

Natürlich werden sie wieder auf die Straße gehen. Diese Winterpause war notwendig. Erstens wegen der zweiten Corona-Welle, die man zu Hause aussitzen musste, sich schützen. Zweitens hat das Ausmaß der Verluste die Menschen eine Zeitlang buchstäblich betäubt: Hunderte, die für lange Zeit durch Folter außer Gefecht gesetzt wurden, Tausende, die wegen Strafverfahren in Untersuchungshaft mussten, Zehntausende, die das Land verlassen haben. 

Aber die Stimmung in der Gesellschaft zeigt, dass die Belarussen den Frühling kaum erwarten können. Und das Datum für den Beginn der Frühlingsproteste steht bereits fest: der 25. März – Tag der Freiheit, Jahrestag der Gründung der Unabhängigen Volksrepublik Belarus. Der unabhängige belarussische Staat wurde 1918 im deutsch besetzten Minsk ausgerufen und existierte bis Dezember, als die sowjetischen Truppen in Belarus einmarschierten. An diesem Tag gehen die Belarussen immer auf die Straße, auch wenn sie die restlichen 364 Tage zu Hause bleiben. Und immer mit weiß-rot-weißen Fahnen. 

Genau dieser 25. März ist jetzt Gesprächsthema Nummer eins: bei den abendlichen, zur Tradition gewordenen Spaziergängen mit der Nachbarschaft, in der Schlange beim Postamt, im Bus und in den sozialen Netzwerken. Die Belarussen warten auf den Tag der Freiheit. Und es ist ihnen völlig egal, was die beiden neuen Busenfreunde irgendwo in Sotschi zu Mittag hatten.

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland im Dezember 1999 unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen und Präsident Lukaschenko selbst ist heute vor dem Hintergrund der Niederschlagung der Proteste von 2020 und der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners in den bilateralen Beziehungen mit Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 weder auf historische Erfahrungen als unabhängiger Staat zurückgreifen, noch verfolgte sie Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil: In der ersten Zeit wurden zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl aus seiner persönlichen Antipathie für Lukaschenko und seiner Haltung, Belarus nur als Junior-Partner zu sehen. 

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien. Das russische BIP ist im Vergleich zum belarusischen etwa 26 Mal größer (Stand 2021). Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine ab 2014 kam Belarus wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich für das Land in vielerlei Hinsicht als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet, deren genaue Inhalte aber lange (bis September 2021) nicht veröffentlicht wurden. Im Protestjahr 2020 hatten die Verhandlungen während und vor den belarusischen Präsidentschaftswahlen pausiert. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Seit 2021 erfolgte die Umsetzung der Roadmaps eher stockend. Das hat auch  mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ab Februar 2022 zu tun. Bislang sind erst sieben der 28 Roadmaps vollständig umgesetzt. Es sollen im Laufe des Jahres 2023 noch weitere Roadmaps hinzukommen. Dabei hat Russland begonnen, Belarus zunehmend unter Druck zu setzen, um Zugeständnisse hinsichtlich weitergehender Integrationsschritte zu erreichen. Aus Sicht der belarusischen Exil-Opposition könnte es dadurch in letzter Konsequenz zu einem Verlust der staatlichen Souveränität für Belarus kommen. Vor allem das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung, in dem es um die Verwaltung zahlreicher Steuern, wie etwa der Mehrwertsteuer geht, birgt für Lukaschenko das Risiko, über wirtschaftspolitische Entscheidungen im eigenen Land die Kontrolle zu verlieren. Im Rahmen der Logik dieses Vertrages würde als nächstes die Schaffung einer gemeinsamen Steuerbehörde sowie eines einheitlichen integrierten Verwaltungssystems folgen.1

Insgesamt sind die belarusisch-russischen Beziehungen seit 2022 sehr vom Krieg gegen die Ukraine und der militärischen Kooperation zwischen Russland und Belarus geprägt: Belarus wird aufgrund seiner militärischen Unterstützung Russlands international eine Mitschuld an den Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben, was zur Verhängung weiterer wirtschaftlicher Sanktionen geführt hat.2 Die Rolle von Belarus im Ukraine-Krieg wurde und wird viel diskutiert, insbesondere ob mit einem aktiven Kriegseintritt des Landes noch zu rechnen sei. Bislang ist das insbesondere aus innenpolitischen Gründen nicht erfolgt.

Wirtschaftsbeziehungen

Insgesamt leidet die belarusische Wirtschaft erheblich unter den Folgen des russischen Angriffskrieges sowie unter den verhängten Sanktionen. 2022 gab es in der Republik Belarus die schwerste Rezession seit den 1990er Jahren. Auch hat sich die Abwanderungstendenz belarusischer Unternehmen, insbesondere aus dem IT-Sektor, seit dem Krieg nochmal massiv verstärkt.3

Dabei ist der GUS-Raum, vor allem Russland, seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 68 Prozent der belarusischen Exporte und Quelle von 62 Prozent der Importe4 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in den vergangenen Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, sodass auf Belarus horrende Kosten zukommen könnten. So hofft die belarusische Führung weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver. Obwohl in der Vergangenheit sowohl von der russischen als auch von der belarusischen Seite mehrfach öffentlich behauptet wurde, dass eine Lösung für dieses Problem gefunden sei, scheint es immer noch Unstimmigkeiten darüber zu geben.5 Nichtsdestotrotz hat Minsk noch im Dezember 2022 einen für Belarus vorteilhaften Vertrag für einen Lieferzeitraum von drei Jahren für Öl und Gas abschließen können. Dennoch wird die belarusische Forderung nach gleichen Zugängen zu fossilen Energieträgern für alle Wirtschaftssubjekte des Unionsstaates nicht annähernd erfüllt.6 Daher bleibt es für Lukaschenko absolute Priorität, innerhalb des Unionsprogramms einen einheitlichen Markt für Öl und Erdgas sowie für weiterverarbeitete Produkte zu schaffen. Der Bezug dieser Rohstoffe zu Vorzugspreisen stellt nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle des belarusischen Haushalts dar und dient somit Lukaschenkos persönlichem Machterhalt.7 Er moniert daher weiterhin, dass im Gegensatz zu anderen Bereichen des Integrationsprozesses konkrete Vereinbarungen im Energie- und Transportsektor nach wie vor ausstehen.8

Belarus spielte ehedem als Transitland für russische Rohstoffe nach Europa eine zentrale Rolle. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit vom Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Resultat, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent.  

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen beiden Ländern – insbesondere von Russland – auch häufig als ein politisches Druckmittel eingesetzt wurden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich der angestrebte Unionsstaat bisher vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus begann Minsk, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidschan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die das letzte Mal im September 2021 abgehalten wurde – und erneut im Herbst 2023 stattfinden soll. Die größte jemals gemeinsam abgehaltene Übung gab es mit ca. 30.000 russischen Soldaten auf belarusischem Territorium im Februar 2022 im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine und diente als Vorwand für die Vorbereitung der Invasion.

Danach wurden im Zuge des regionalen Truppenverbands mit Russland (der schon lange bestand, aber inaktiv war) kontinuierlich gemeinsame Militärmanöver abgehalten. Das schürte sowohl in der Ukraine als auch im Westen Angst davor, dass sich Belarus mit eigenen Soldaten am Krieg beteiligen könnte und dass Truppen erneut, diesmal gemeinsam, aus Norden vorrücken. Dazu ist es bisher nicht gekommen, auch weil Lukaschenko einen solchen Schritt weiterhin scheut. 

Schritte hinsichtlich einer Integration der belarusischen Streitkräfte unter russisches Oberkommando nahmen indes in jüngster Zeit konkretere Formen an: So hat Russland nun Luftstreitkräfte dauerhaft in Belarus stationiert und das Kommando über die belarusischen Luftstreitkräfte sogar komplett übernommen. Diese Entwicklungen kulminierten im März 2023 in der Ankündigung, auf dem belarusischen Territorium taktische Nuklearwaffen aus Russland zu stationieren, wobei die Kontrolle über diese Waffen nicht an Belarus übertragen werden soll.

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, sowie die Unterstützung für Russland im Krieg gegen die Ukraine, manövrierte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders die beidseitigen Treffen von Lukaschenko und Putin seit 2020 haben verdeutlicht, dass diese Tendenz, trotz aller Emanzipationsversuche, sogar noch zugenommen hat. Damit konterkarierte der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen. Erst aus der Revolte der Söldner-Gruppe Wagner in Russland konnte Lukaschenko in jüngster Zeit wieder nennenswertes eigenes politisches Kapital schlagen, indem er sich als politischer Vermittler zwischen dem Kreml und Anführer Prigoshin einbrachte und Wladimir Putin dadurch einen persönlichen Dienst erwies. Denn: Die Abhängigkeit von Russland entspricht weder Lukaschenkos  Vorstellungen, noch spiegelt  es die Wünsche der Bevölkerung wider.

In einer Umfrage des Belarusian Analytical Workroom vom Sommer 2023 optierten lediglich vier Prozent der Befragten für einen Beitritt der Republik Belarus zur Russischen Föderation. Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern als jeweils unabhängige Staaten in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit offenen Grenzen sowie ohne Zoll- und Visumsbeschränkungen (67 Prozent der Befragten) befürwortet. 13 Prozent wünschten sich eine intergouvernementale Union. 12 Prozent würden ein normales, nicht privilegiertes Verhältnis mit geschlossenen Grenzen, Zoll- und Visumsbeschränkungen bevorzugen. Gefragt nach ihrem bevorzugten militär-politischen Bündnis, gab eine Mehrheit von 45,3 Prozent der befragten Belarusen an, dass das Land gar keiner Allianz angehören solle. 34,2 Prozent hielten an einer Mitgliedschaft in der OVKS fest. Der NATO beitreten würden lediglich 3,2 Prozent. 2,7 Prozent waren der Auffassung, dass Belarus Mitglied beider Bündnisse sein könne und 12,7 Prozent blieben in dieser Frage unentschieden. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ist die belarusische Gesellschaft gespalten. Mehrheitlich dagegen sind die Befragten aber, dass das belarusische Territorium sowie die militärische Infrastruktur von Russland dafür genutzt werden solle. 50,2 Prozent sprachen sich dagegen aus, 30,7 Prozent dafür, während 15,9 Prozent die Frage als schwierig zu beantworten einschätzten.

Ungeachtet aller Zahlen: Belarus ist und bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Gesellschaft ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. So wurde etwa bei den landesweiten Protesten 2020 in den Losungen und den verkündeten Protestforderungen eine klare geopolitische Positionierung vermieden

Zugleich wird die Führung in Minsk weiter anstreben, seine wirtschaftlichen und rüstungspolitischen Aktivitäten soweit wie möglich zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von Russland nicht noch zu verstärken. Da aber ca. 45 Prozent der belarusischen Wirtschaftskraft von westlichen Sanktionen beeinträchtigt sind, können derartige Bemühungen vor allem durch Handel und Kooperation mit nicht-westlichen Staaten erreicht werden.9 Dies erklärt auch die jüngsten außenpolitischen Vorstöße, wie es sie zum Beispiel mit der Bewerbung um einen Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gab.10

aktualisiert am 07.08.2023


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1. Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
2.Europäischer Rat: Restriktive Maßnahmen der EU gegen Belarus 
3.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023  
4.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023 
5. Information Analysis Portal of the Union State: Tax maneuver consequences identified as main problem in Belarus-Russia relations 
6. The Jamestown Foundation: Belarus and Russia Dispute the Fundamentals of Their Relationship 
7.Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
8.Prezident Recpubliki Belarus': Soveščanie po voprosam vypolnenija integracionnych programm Sojuznogo gosudarstva 
9.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und sb.by: Krutoj: tovarooborot s Rossiej my spokojno možem uvoit' v tečenie 3 – 5 let 
10.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und Shanghai Cooperation Organisation: SCO Secretary-General Zhang Ming's visit to the Republic of Belarus 
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