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Warum der Schlag gegen Memorial ein Schlag gegen Deutschland ist

Warum Memorial, und warum geht es gleich um die Liquidierung der Organisation? Diese Fragen beschäftigen derzeit (nicht nur) Russlands Zivilgesellschaft: Am 25. November beginnt der Prozess am Obersten Gericht gegen die unabhängige Menschenrechtsorganisation, die sich seit der Perestroika wie keine zweite der Aufarbeitung der Stalinzeit und dem Einsatz für Menschenrechte verschrieben hat. Seit bekannt wurde, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft den Antrag auf Liquidierung gestellt hat – offiziell wegen Nichteinhaltung der Regeln für sogenannte „ausländische Agenten“ – wird diskutiert, warum es zu diesem massiven Schlag kommt, warum es in einem von heute auf morgen anberaumten Prozess darum gehen soll, die älteste russische Menschenrechtsorganisation aufzulösen.
„Das ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung von ganz oben“, sagt Memorial-Mitbegründerin Irina Schtscherbakowa im Podcast von Memorial Deutschland.

Spätestens seit den Solidaritätsprotesten für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr und angesichts der Dumawahl im Herbst geht der Kreml massiv gegen unabhängige Akteure vor. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja konstatiert bereits im Mai: „Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell.“ So wurden sämtliche Organisationen Nawalnys – wie etwa sein Antikorruptionsfonds – für „extremistisch“ erklärt, seit Beginn des Jahres wurden aber etwa auch mehr als 70 unabhängige Medien und einzelne Journalisten als „ausländische Agenten“ diffamiert. Auch Irina Schtscherbakowa sieht im Vorgehen gegen Memorial das Signal: „Ihr müsst alle Angst haben!“. Es gehe an alle, die mit der offiziellen Politik nicht einverstanden sind oder „überhaupt ihre Stimme erheben gegen etwas, was ihnen nicht passt“.

Gleichzeitig geht es bei Memorial um die Organisation der historischen Aufarbeitung, die seit 30 Jahren ein umfangreiches Archiv aufgebaut, eine Datenbank mit rund 3,5 Millionen Biographien angelegt und mit zahlreichen Aktionen wie der Rückgabe der Namen ein Gedenken an die Opfer des politischen Terrors in der Sowjetunion initiiert hat, – die Liste ließe sich fortsetzen. So sieht der Journalist Oleg Kaschin im Vorgehen gegen Memorial eine „Bestrafung des historischen Erinnerns“ und den Versuch des Kreml, die Deutungsmacht über die Geschichte zu monopolisieren. Das explizite Benennen von Opfern wie Tätern wäre demnach im offiziellen Geschichtssynkretismus, bei dem Zarenfans wie Sowjetnostalgiker gleichermaßen bedient werden, selbst in Nischen ausdrücklich nicht mehr erwünscht. 

Maxim Trudoljubow fügt solchen Thesen auf Meduza eine weitere hinzu: Er sieht das Vorgehen gegen die international renommierte Organisation als asymmetrische Antwort auf Sanktionen des Westens. Auch Schtscherbakowa von Memorial sagt im Podcast, das Signal „Wir sind durch nichts geschützt, die Macht kann mit uns machen, was sie will“ gehe an unabhängige Akteure und ihre Unterstützer im Westen gleichermaßen.

Quelle Meduza

Die drohende Vernichtung von Memorial durch die Behörden wird als schwerer Schlag empfunden – sowohl gegen die Menschenrechte im heutigen Russland als auch gegen den offenen Diskurs über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, für die der Staat die Verantwortung trägt. Eine Gesellschaft, die eine Organisation wie Memorial hat, und eine, die das nicht hat, sind zwei unterschiedlich reife Gesellschaften. Die russische Gesellschaft ist eine reife Gesellschaft. Noch. Doch der politischen Führung in Russland geht es nicht um den Reifegrad der Gesellschaft. Für die Akteure im Kreml ist Memorial die bekannteste russische Organisation in Deutschland und deswegen ein Instrument der Einflussnahme auf deutsche und europäische Politiker. Das ist einer der Knöpfe – und wenn man sie drücken kann, dann drückt man sie auch.

Zwei Mythen der russischen Politik

Über seine Innen- und seine Außenpolitik erzählt der russische Staat zwei dem Sinn nach entgegengesetzte Geschichten, zwei Mythen: Innerhalb des Landes, sagen uns Regierungsvertreter und Staatsmedien, herrsche Frieden, Harmonie und Stabilität. In der Welt da draußen gebe es hingegen weder Frieden noch Harmonie noch Stabilität. Russland habe es da gezwungenermaßen mit Feinden zu tun, die es an seinen Grenzen bedrängen, in seiner Entwicklung behindern und seinen Einfluss in der Welt schmälern wollten. Einzelne Probleme habe Russland zwar, sie seien jedoch eine Folge der Konflikte im Außen, sagen uns die Staatsmedien. 

Für innere Probleme Ursachen im Außen zu suchen, ist eine althergebrachte Technik der Macht, die schon während der gesamten Sowjetära angewendet wurde und die es erlaubt, die Regierung auf rhetorischer Ebene jeglicher Kritik zu entheben. Als Boten des üblen Einflusses von außen nennt die russische Regierung diverse „Andere“, die sich inmitten der einigen russischen Gesellschaft verschanzt hätten. Diese spürt der Staat auf und erklärt sie zu „ausländischen Agenten“, „unerwünschten“ und „extremistischen“ Organisationen.

Innere Probleme – nur Folgen externer Konflikte

Die Geschichte vom Frieden im Land ist, wie auch die vom Krieg in der Außenwelt, ausgedacht und hat mit der Realität sehr wenig zu tun. Die russische Gesellschaft ist in zahlreichen Fragen nicht einig, sondern heterogen und polarisiert – angefangen beim Umgang mit dem sowjetischen Erbe bis hin zu den Präferenzen hinsichtlich der Zukunft des Landes (das heißt, dem Weg, den das Land beschreiten soll). Existierten in Russland Parteien und Organisationen, die tatsächlich die Ansichten der Bürger widerspiegeln, würde der politische Machtkampf im Land zu unvorhersehbaren Wahlergebnissen führen und intensive, glühende Debatten über eine Vielzahl von Themen auslösen.

Nichts dergleichen findet derzeit statt: Die öffentliche Sphäre bleibt der Staatsmacht überlassen, die ständig bemüht ist, die realen inneren Konflikte zu vertuschen und äußere zu erschaffen. Sowohl die Einigkeit im Inneren als auch die Konflikte im Äußeren werden künstlich konstruiert – mit Hilfe von Propaganda, der Unterstützung durch bestimmte Bevölkerungsgruppen, und durch manipulierte Meinungsumfragen und Wahlen.

Der Krieg zwischen Russland und der Außenwelt ist ein zentraler politischer Mythos. In Wirklichkeit sind die, die der Staatsmacht am nächsten stehen, gleichzeitig am besten in die Außenwelt integriert. Studien über die russische Elite zeigen, dass ihre Einstellung westlichen Ländern gegenüber zwar negativ und von Ressentiments und Unzufriedenheit mit der ihnen entgegengebrachten Gastfreundschaft geprägt ist, aber sie orientieren sich dennoch am Westen.

Die Abgeordneten des russischen Parlaments verteidigen seit vielen Jahren das Recht, Immobilien im Ausland zu besitzen. Für die, die von der jetzigen Situation in Russland am meisten profitieren, ist der Weg in den Westen praktisch alternativlos – denn ihre Vermögen werden von den westlichen Rechtssystemen besser geschützt, ihren Kindern wird an westlichen Universitäten eine bessere Bildung geboten, und auch der angestrebte Grad an persönlicher Sicherheit ist nur außerhalb des Landes realisierbar.

In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Drohungen und vielsagende Gesten

Russland ist als Abnehmer von Industrieerzeugnissen und High-Tech-Produkten fest in die Weltwirtschaft integriert. Sowohl die russische Gesellschaft als auch die politische Führungsriege sind persönlich von ausländischen Finanz-, Rechts- und digitalen Infrastrukturen abhängig. Aus einer solchen Position heraus ist es schwierig, auf Unabhängigkeit und eine Führungsrolle in internationalen Beziehungen zu bestehen.
Aber Russlands Regierung will ihre Unabhängigkeit und Führungsrolle trotzdem behaupten. Und weil es nicht gelingt, das mit positiven „Trümpfen“ – etwa ökonomischem Gewicht und Einfluss – zu erreichen, spielt sie negative aus, die auf die eine oder andere Art mit Konflikten zu tun haben. Gerade in Konfliktlagen weiß Russlands Führungsriege um die wirksamsten Knöpfe, die sie im internationalen Dialog drücken kann. In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Gewaltpotenzial – um Drohungen und vielsagende Gesten.

Werte versus Preise

Bei einer solchen Herangehensweise eignet sich absolut alles als Waffe oder Konfliktwerkzeug, was den „Partnern der Gegenseite“ wehtut: Zum Einsatz kommen da Truppenmanöver an der ukrainischen Grenze, Meldungen über neue Waffenarten und andere Kampfansagen. Russland ist für Westeuropa einer der wichtigsten Energielieferanten – also wird auch dieser Hebel in Bewegung gesetzt. Alexander Lukaschenkos Missbrauch von Flüchtlingen als Waffe gegen die EU löst dort Proteste aus – also wird Russland dieses grausame Spiel zumindest nicht verhindern. In diesem Fall wird der belarussische Diktator selbst zu einer Waffe in russischer Hand. Was überaus praktisch ist: Man kann eine Beteiligung an dem Konflikt jederzeit von sich weisen.

Bedeutende Organisationen und Personen innerhalb Russlands, einschließlich Memorial, werden ebenfalls zur gültigen Währung. Alle Mittel, mit denen man Aufsehen erregen und ein öffentliches Gefecht mit dem Gegner provozieren kann, sind recht. Im Fall von Memorial geht es den russischen Politmanagern nicht so sehr darum, was diese älteste Menschenrechtsorganisation Russlands im Einzelnen tut, als vielmehr um deren Bekanntheit in Europa, vor allem in Deutschland, wo die Verbrechen des Totalitarismus ebenfalls ein sehr wichtiges – und schmerzhaftes – Thema sind. Diese Bekanntheit „funktioniert“ bereits: Die Drohung, Memorial aufzulösen, hat in Deutschland öffentliche Reaktionen ausgelöst. Der Außenminister gab eine scharfe Erklärung ab (allein die Möglichkeit einer Schließung dieser Organisation bezeichnete er als erschütternd), und Personen des öffentlichen Lebens, Russlandforscher und Historiker haben bereits offene Briefe zur Unterstützung ihrer russischen Kollegen verfasst.       

Je prominenter eine Person oder Organisation ist, desto schwerer wiegt sie in der Konfliktstrategie. Dabei wäre es falsch zu glauben, dieser Handel verlaufe geradlinig: Wir geben euch eine Spielfigur, ihr gebt uns eine – wie beim Austausch von Spionen oder der Ausweisung von Diplomaten. Natürlich hätte Russland gern, dass Deutschland Nord Stream 2 noch unter der aktuellen Kanzlerin zertifiziert. Russland weiß aber auch, dass es aus formalen Gründen diesen Prozess nicht beschleunigen kann, der noch dazu aufgrund anhaltender Diskussionen in und außerhalb der EU erschwert wird (in das Wortgefecht rund um die Pipeline hat sich jetzt auch Großbritannien eingeschaltet).

„Ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen als Geiseln

In der Konfliktstrategie, die die derzeitige Führungsriege des russischen Staates gewählt hat, muss den Gegnern deutlich gemacht werden, dass auf Sanktionen und andere Druckmittel seitens des Westens eine Reaktion erfolgt. Diese Reaktion kann in der Regel nicht symmetrisch sein, dafür ist Russlands ökonomisches und politisches Gewicht zu gering. Trotzdem kann die Antwort schmerzhaft sein, denn „ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen erinnern an Geiseln. Die Einstufung von Alexej Nawalnys Organisation und Regionalbüros als extremistisch erfolgte im vergangenen Frühling direkt nachdem die USA ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland angekündigt hatten. Mit dieser Geste wälzte die russische Regierung einen Teil der Verantwortung für das Schicksal des Politikers und seiner Anhänger auf den Westen ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kreml als Reaktion auf den Druck von außen Jagd auf einen westlichen „Agenten“ im eigenen Land veranstaltet.

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„Agentengesetz“

Vor dem Hintergrund der Bolotnaja-Proteste hat die russische Staatsduma im Jahr 2012 das sogenannte „Agentengesetz“ verabschiedet. Es sanktioniert „politisch aktive“ Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die finanziell aus dem Ausland unterstützt werden.

Das Gesetz wurde seitdem mehrfach ausgeweitet und verschärft: Seit November 2017 können auch Medien zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, seit Ende November 2019 auch Einzelpersonen. Seit Dezember 2020 können soziale Bewegungen und Einzelpersonen nicht nur bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland zu „Agenten“ erklärt werden, sondern auch dann, wenn sie „politische Aktivitäten“ im Interesse einer „ausländischen Quelle“ entfalten. Außerdem werden sie verpflichtet, ihre Publikationen mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ zu versehen. Auch Medien müssen darauf verweisen, wenn sie entsprechende Personen oder Organisationen erwähnen. Im Juli 2022 unterschrieb Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Die Regelungen sind schwammig formuliert, das aus der Stalinzeit stammende „Agenten“-Label wird nicht selten selektiv und willkürlich angeheftet. Betroffene Organisationen müssen außerdem strenge Vorschriften einhalten, die ihre Arbeit erheblich erschweren.

Mit Beginn der dritten Amtszeit Putins ist der Druck auf Nichtregierungsorganisationen in Russland gestiegen. Vor dem Hintergrund der Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12, die vom Kreml schnell als durch die USA gesteuert dargestellt wurden, unterschrieb Putin noch im Jahr 2012 eine Änderung des „Gesetzes über nicht-kommerzielle Organisationen“. Das sogenannte „Agentengesetz“ stigmatisiert „politisch aktive“ NGOs, die aus dem Ausland finanzielle Förderung erhalten, als „ausländische Agenten“. Es sieht eine Reihe von Vorschriften und Sanktionen für die betreffenden NGOs vor: Diese umfassen strenge Rechenschaftspflichten, die Vorgabe, sämtliche publizierte Materialien mit dem Label „ausländischer Agent“ zu versehen sowie Geldstrafen und Freiheitsentzug im Falle einer Nicht-Registrierung im Agenten-Verzeichnis des Justizministeriums.

Wie wirkt das Gesetz in der Praxis? Die Erfahrungen mit dem Agentengesetz zeigen, dass die Umsetzung in erster Linie uneinheitlich und selektiv erfolgt.1 Dies mag zum einen an den diversen Verteidigungsstrategien der betroffenen NGOs liegen. Zum anderen aber auch an der bewusst vagen Formulierung des Gesetzes an sich: Das Kernkonzept „politisch aktiv“ wird nirgends umfassend definiert. Ambivalente Gesetze räumen Staatsorganen einen hohen faktischen Ermessensspielraum ein und öffnen einer selektiven Rechtsanwendung Tür und Tor.2 Die Justiz wird mehr und mehr zum Spielball politischer Einflüsse. Dass einige Gerichtsurteile zum Agentengesetz ungewöhnlich lange auf sich warten ließen, ist mehrfach so interpretiert worden, dass zunächst auf eine Anweisung „von oben“ gewartet werden musste.3

Die Phase der Nicht-Anwendung des Gesetzes unmittelbar nach seinem Inkrafttreten hat bald darauf einer aktiven „Agentenjagd“ Platz gemacht: Im Frühjahr 2013 begannen weitreichende und unangekündigte Überprüfungen von NGOs, die teilweise Sanktionen auf Grundlage des Agentengesetzes nach sich zogen. Neuen Antrieb erhielt die Kampagne gegen NGOs weiterhin durch eine Gesetzesänderung im Frühjahr 2014, die es dem Justizministerium erlaubt, NGOs eigenhändig in das Verzeichnis ausländischer Agenten einzutragen. Das zu Beginn noch leere Agentenregister des Justizministeriums füllte sich zusehends: Im August 2015 wurde die 87. Organisation registriert. Viele NGOs stellten daraufhin ihre Arbeit ein, andere wandten sich von ausländischen Fördergeldern ab und schränkten ihre Ausgaben ein. Somit konnte das Justizministerium mit der Zeit vermelden, weniger „Agenten“ in dem Register zu führen: Im Februar 2021 waren es 75 Organisationen, unter ihnen das Meinungsforschungsinstitut Lewada und die Menschenrechtsorganisation Memorial, sowie fünf ihrer Unterabteilungen beziehungsweise regionalen Niederlassungen.4 Der Handlungsspielraum von NGOs ist zusätzlich eingeschränkt durch das im Mai 2015 in Kraft getretene Gesetz über „unerwünschte Organisationen“, das administrative und strafrechtliche Sanktionen (bis hin zum Tätigkeitsverbot) für in Russland tätige ausländische Organisationen vorsieht, die als Regimebedrohung aufgefasst werden. Im Februar 2021 galten insgesamt 31 Organisationen als „unerwünscht“.5

Seit November 2017 können zudem auch Medien als „ausländische Agenten“ deklariert werden. Auch hier ist das Gesetz so schwammig formuliert, dass schon eine Teilnahme an einer Journalisten-Konferenz im Ausland ausreicht, um das ganze Medium zum „Agenten“ zu erklären. Ende November 2019 hat die Duma außerdem in dritter Lesung ein Gesetz verabschiedet, wonach auch Einzelpersonen zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden können. Theoretisch reicht es aus, wenn sie den Beitrag eines Mediums, das bereits als ausländischer Agent gilt, öffentlich teilen und außerdem Geld aus dem Ausland erhalten, unabhängig aus welcher Quelle. Duma-Abgeordnete beeilten sich damals, zu versichern, dass das Gesetz als Gegenmaßnahme zu ähnlichen US-amerikanischen Regelungen gedacht sei. Vor allem sei es gegen Mitarbeiter von denjenigen Auslandsmedien gerichtet, die als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Tatsächlich ist das Gesetz jedoch so breit formuliert, dass eine selektive und willkürliche Auslegung möglich ist. Im Dezember 2020 hat das Justizministerium fünf Einzelpersonen in das Agentenregister für Medien aufgenommen, unter anderem den Menschenrechtsaktivisten Lew Ponomarjow.6 Im Juli 2022 unterschrieb Wladimir Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Insgesamt sollen diese Regelungen die Arbeit von politisch aktiven Organisationen erschweren; sie funktionieren aber auch als eine Drohkulisse, die „unerwünschte“ politische Aktivitäten im Keim ersticken. Ihre Verabschiedung ging einher mit dem systematischen Beschneiden der Bürgerrechte in Russland. So sind heute alle Dimensionen der Handlungsfelder unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen – von Registrierung und Aktivitäten, über Versammlungsfreiheit und freie Rede bis hin zu Ressourcen und internationalen Kontakten – mit rechtlichen Schranken versehen und zum Teil kriminalisiert.

Stand: 14.07.2022


1.ausführlich zu den Auswirkungen des Agentengesetzes: Ochotin, Grigorij (2015). Agentenjagd: Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa 2015 (1-2), Berlin, S. 83-94 
2.vgl. Lauth, Hans-Joachim / Sehring, Jenniver (2009). Putting Deficient Rechtsstaat on the Research Agenda: Reflections on Diminished Subtypes, in: Comparative Sociology 2009 (8), S. 165-201 
3.Siegert, Jens (2014). Mehr als ein Jahr „Agenten“-Jagd – eine Art Zwischenbericht, in: Russland-Analysen 2014 (278), S. 25-27 
4.vgl. minjust.ru: Svedenija reestra NKO, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
5.vgl. minjust.ru: Perečen' inostrannych i meždunarodnych nepravitel'stvennych organizacij, dejatel'nost' kotorych priznana neželatel'noj na territorii Rossijskoj Federacii 
6.minjust.gov.ru: Reestr inostrannych sredstv massovoj informacii, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
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Farbrevolutionen

Als Farbrevolutionen bezeichnet man eine Reihe friedlicher Regimewechsel in post-sozialistischen Ländern. Diese wurden unter anderem durch gesellschaftliche Großdemonstrationen gegen Wahlfälschungen ausgelöst. Aufgrund der Farben beziehungsweise Blumen, mit denen die Bewegungen assoziiert werden, ist der Sammelbegriff Farbrevolutionen entstanden. Stellt der Begriff für die politische Elite in Russland eine Bedrohung ihrer Macht dar, verbinden oppositionelle Kräfte damit die Chance auf einen Regierungswechsel.

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AGORA

AGORA ist eine bekannte russische Menschenrechtsorganisation, die sich juristisch für die Rechte von Aktivisten, Journalisten, Bloggern und Künstlern einsetzt. In jüngster Zeit geriet die Organisation in die Schlagzeilen, da sie vom Justizministerium als sog. ausländischer Agent registriert wurde.

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