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„Sie sehen die Dinge einseitig!“

32 Minuten dauerte die Autofahrt, auf der die Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Tatjana Moskalkowa, die Fragen des Novaya Gazeta-Korrespondenten Pavel Kanygin beantwortete. Oder eben auch nicht beantwortete: „Schwule und politische Gefangene – sind das etwa die brennendsten Fragen?“, sagt die russische Menschenrechtsbeauftragte und einstige Generalmajorin der Polizei im Interview zu Kanygin. Hier, wie auch an anderen Stellen, offenbart sich ein grundlegend unterschiedliches Verständnis dessen, was eigentlich mit „Menschenrechten“ gemeint ist.

Das Interview, das die Novaya Gazeta in der vergangenen Woche veröffentlichte, schlug aber auch aus anderen Gründen hohe Wellen: Nicht nur, dass Moskalkowa während des Gesprächs unvermittelt vom „Sie“ zum „Du“ wechselt, die Namen renommierter Menschenrechtsorganisationen offensichtlich nicht auf dem Schirm hat, schließlich den Fahrer bittet anzuhalten und kurz darauf das Interview abbricht. Sondern sie wandte sich, wie Kanygin berichtet, eine Stunde später nochmal an ihn mit der Bitte, das Interview nicht zu veröffentlichen, da sie darin „einen schlechten Eindruck“ mache. Die Novaya Gazeta, die das gesamte Gespräch schließlich abdruckte, berichtet außerdem von „nicht-öffentlichem“ Druck, der auf die Redaktion ausgeübt worden sei. Und veröffentlichte das Gespräch – mit dem Hinweis, Staatsbeamte seien verpflichtet, über ihre Tätigkeit zu informieren. Zuvor war der Menschenrechtsbeauftragten drei Tage Zeit gegeben worden, das verschriftlichte Interview zu autorisieren. Eine Möglichkeit, von der sie aber keinen Gebrauch gemacht hatte.

Quelle Novaya Gazeta

Pavel Kanygin: Die Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte ist ein ganz neues Arbeitsfeld für Sie. Wie fühlen Sie sich in der Position?

Tatjana Moskalkowa: Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet: Es ist schwierig. Denn es ist ein neues Leben, ein anderer Blickwinkel auf die Geschehnisse, die ich in meiner bisherigen Laufbahn eben anders wahrgenommen habe.

Dabei gehören Sie doch zu den Silowiki.

Ich habe zehn Jahre in der Abteilung für Begnadigung des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR gearbeitet. Neun Jahre in der Duma. Das alles waren sehr wichtige soziale Erfahrungen für mich, denen nun ein besonderer Wert zukommt, wenn es darum geht, meinen Platz und meine Rolle im System zum Schutz der Menschenrechte zu verstehen und den Menschen nützlich zu sein. Und effektiv Menschen zu schützen, die in eine schwierige Lebenslage geraten sind. Menschen, die sich der Willkür, dem Bösen und der Unmöglichkeit widersetzen, im Kampf mit einem stärkeren Gegner ihr Recht zu verteidigen. Dank meiner Erfahrung und Kommunikationsfähigkeit ist mir diese Chance zuteil geworden.  

In Russland hat es sich ergeben, dass die Idee vom Schutz der Menschenrechte im Antagonismus steht zur Regierung und zum System. Folgen daraus keine moralischen Widersprüche für Sie?

Man verwechselt den Menschenrechtsrat oft mit einer Organisation für Menschenrechte. Der Menschenrechtsrat ist ein Staatsorgan. Es ist ein Organ, das sich quasi zwischen der Gesellschaft und dem Staat befindet.

Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler

Es spricht mit den Regierungsorganen in einer für sie verständlichen Sprache und schafft entsprechende Umstände, damit diese Organe nicht nur hören, sondern auch zuhören.

Sie sehen sich also nicht als eine Menschenrechtlerin der Gesellschaft?

Doch, genau das tue ich. Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler.

Wie würden Sie die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Russland beschreiben?

Ich denke, es gibt derzeit viele Verstöße im Land, die sowohl System- als auch Einzelcharakter tragen. Diese Verstöße lassen sich im sozialen Bereich wie auch im Bereich des Strafrechts und des allgemeinen Rechts beobachten … Aber der Fortschritt in unserem Bereich, im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Wenn wir unsere Zeit mit früheren historischen Abschnitten vergleichen, sehen wir einen Fortschritt!

Meinen Sie wirklich, dass man die Gesetze, die die Regierung in den vergangenen Jahren verabschiedet hat, als Fortschritt bezeichnen kann?

Welche zum Beispiel?

Gesetze, für die auch Sie gestimmt haben. Beispielsweise das NGO-„Agentengesetz“ oder das Demonstrationsgesetz, das Dima-Jakowlew-Gesetz, das diskriminierende LGBT-Gesetz, das die sogenannte Propaganda von Homosexualität verbietet …

Propaganda von Homosexualität? So ein Gesetz gibt es bei uns nicht. Sie meinen vielleicht das Gesetz zum Verbot von Kinderpornografie.

Das Gesetz haben Sie auch unterstützt. Aber mir geht es um das Ganze.

Lassen Sie uns ganz konkret sprechen. Wenn es Ihnen um Minderheiten geht, dann können Sie selbst sehen, dass die sexuellen Minderheiten seit 2012 und bis heute in keiner Weise in ihren Rechten beschnitten wurden.

Sagen Sie mir doch, wo genau man LGBT einschränkt, dann können wir weiterreden

Sie haben nicht aufgehört zu existieren. Man hindert sie nicht daran zu tun, was sie tun. Sagen Sie mir doch, wo genau man sie einschränkt, dann können wir weiterreden.

Im Ausdruck ihrer Lebensform, im Familienrecht, in ihrem Recht, sich als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu bezeichnen.

Das alles gibt es nicht. Nennen Sie mir Beispiele für Beschränkungen ihrer Rechte. Vielleicht haben Sie ja recht und ich übersehe irgendwelche Vorgänge, die mit der Umsetzung der Gesetze verbunden sind.

Gut. Was ist zum Beispiel damit, dass LGBT ihre gemeinnützigen Organisationen nicht anmelden dürfen? Sich nicht versammeln und keine Veranstaltungen durchführen dürfen? Keine Kinder adoptieren dürfen?

Adoptieren dürfen sie nicht, nein. Was den Rest betrifft, so weiß ich, dass in Sankt Petersburg gerade erst eine Demonstration stattgefunden hat. Und man dafür gesorgt hat, dass sie nicht mit dem Tag der Fallschirmjäger zusammenstoßen. Damit die Interessen der unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht aufeinanderprallen. Auch die LGBT existieren und führen Demonstrationen durch. Niemand engt sie ein.

Anders gefragt: Sie sind bereit sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten einzusetzen? Können sie mit Ihrer Hilfe und Unterstützung rechnen?

Im Fall von Verstößen gegen ihre Rechte, werde ich natürlich alle Mittel ergreifen, um diese Verstöße zu beheben. Kennen Sie denn Fälle, in denen jemand aufgrund von LGBT-Zugehörigkeit in seinem Recht auf Bildung eingeschränkt worden wäre? Einen Arbeitsplatz nicht bekommen hätte? Oder an einer Universität nicht angenommen worden wäre?

Solche Fälle gibt es ist massenweise, Tatjana Nikolajewna.

Ich habe in meiner ganzen Amtszeit als Menschenrechtsbeauftragte noch kein einziges solches Gesuch bekommen. Und das ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit.

Ehe wir das Thema LGBT abschließen, würde ich gern noch eine Sache spezifizieren. Als in der Duma über das „Antischwulen-Gesetz“ diskutiert wurde, weiß ich, dass unter anderem Sie sich dafür eingesetzt haben, den Paragraphen zur Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern wieder ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Hat sich Ihre Position seitdem geändert?

Nein! Ich habe niemals … Das ist völliger Unsinn! Sie können sich die Mitschriften der Duma besorgen und sich selbst davon überzeugen.

Sie haben in einem Interview darüber gesprochen.

Nein, ich habe mich nie öffentlich für eine Wiedereinführung der Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern eingesetzt. Denn meinen Überzeugungen nach bin ich Demokratin und schätze alle Errungenschaften der 1990er Jahre, die wir erkämpft haben: die Aufhebung des Eisernen Vorhangs, die Menschenrechte, die Abschaffung des Einparteiensystems, ein freies Parlament und auch den Verzicht auf die Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern.

Tatjana Moskalkowa / Foto © CC BY-SA 3.0Aber ein Mensch kann trotzdem seine eigene Meinung haben. Dem einen gefällt Rot, dem anderen Schwarz. Ich gehöre nicht zu denen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ausweiten wollen, aber auch nicht zu denen, die sie unterbinden wollen. Das ist ein sensibler Bereich, allerdings bin ich eine Anhängerin von traditionellen Beziehungsformen.

Gut. Lassen wir dieses sensible Thema. In diesem Jahr wurden unter Ihrem Vorsitz staatliche Förderungen an unterschiedliche NGOs vergeben. Die Menschenrechts-NGOs wurden jedoch weitestgehend ignoriert. Gesellschaftliches Verdikt, Für Menschenrechte oder Memorial bekamen keine Förderung. Bei der Moskauer Helsinki-Gruppe gab es Schwierigkeiten. Aber dafür haben die Nachtwölfe Geld bekommen. Wie erklären Sie das?

[Pause] Die Arbeit der Vergabestelle ist folgendermaßen aufgebaut: Alle Anträge auf Förderung werden Experten vorgelegt. Es gibt Kriterien, anhand derer die Experten Punkte vergeben. Wenn ein Projekt nicht den Förderkriterien entspricht, erhält die Organisation eine niedrige Punktzahl.

Auch die Förderkommission ist an das Urteil der Experten gebunden. Wenn eine Organisation eine niedrige Punktzahl erhalten hat, dann hat die Kommission kein Recht, ihr eine Förderung zu geben. Wenn eine Organisation schon mal eine Förderung bekommen hat, muss sie erst einmal einen Bericht über die Verwendung vorlegen. Sobald ein Bericht vorliegt, kann sie sich wieder bewerben …

Könnten Sie trotzdem etwas zur Situation der konkreten NGOs sagen, die ich genannt habe?

Pawel, ich kann Ihnen nachher zu jeder einzelnen Organisation etwas sagen. Heißt sie genau so – Helsinki-Gruppe? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?

Sie heißt Moskauer Helsinki-Gruppe.

Das ist der genaue Name? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?

Man sagt, es hätte Probleme gegeben.

Da ist doch Alexejewa dabei? Letztendlich haben wir ihr doch eine Förderung gegeben, eine recht große sogar. Das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen. Wer also noch? Für Menschenrechte von Ponomarjow. Ich werde nachfragen. Vielleicht hat er keinen Bericht über die letzte Förderung eingereicht. Und er hat sogar Geld für andere Organisationen bekommen, wo er ebenfalls als Organisator eingetragen ist.

Oder wollen Sie etwa behaupten, dass Ponomarjow keine Förderungen bekommt? Oder Alexejewa nicht? Ich kann Ihnen zeigen, wieviel sie vom Staat bekommen! Das ist nicht wenig!

Von einer Organisation wurde der Antrag abgelehnt, weil sie nämlich im vergangenen Jahr 22 Millionen aus dem Ausland bekommen hat. Dieser eine Fond, der mit „M“ anfängt …

Memorial?

Wahrscheinlich, ja. Der Staat berücksichtigt doch alles und rechnet alles mit ein. Diese Organisation hat bereits genug, womit sie arbeiten kann. Und was die Nachtwölfe betrifft, schauen wir uns deren Projekt doch erst einmal genauer an.

Eine Lasershow auf der Krim?

Ach was. Sehen wir uns doch deren Antrag an. Sogar Sie, die Novaya Gazeta, könnten sich mit einem Projekt bewerben, obwohl sie eine Zeitung sind und wir Ihnen nicht einfach so Geld zuteilen dürften. Aber wenn Sie beispielsweise ein Projekt zur Resozialisierung von Strafgefangenen vorschlagen und das parallel unter Ihrem Label betreiben würden – warum sollte man sich das nicht anschauen? [Die Moskauer Helsinki-Gruppe bekam vom Staat 4,2 Millionen Rubel Unterstützung. Die Nachtwölfe erhielten die Präsidenten-Förderung von einer anderen Vergabestelle, die allerdings keine Menschenrechts-Mittel vergibt – Anm. d. Novaya Gazeta]

Eine Frage zum sogenannten Jarowaja-Paket. Neulich haben Sie es folgendermaßen kommentiert: Es beunruhige Sie, dass die Altersgrenze der Strafmündigkeit bei den Extremismus-Paragraphen auf 14 Jahre herabgesenkt wurde. Was ist mit den anderen Regelungen? Beunruhigen sie Sie nicht?

Die anderen Regelungen dieses Gesetzes sind ratifiziert, in Kraft getreten und zeigen ihre Wirkung. Und seitdem ist bei mir noch keine einzige Beschwerde eingegangen. Sicher, einige sprechen sich dagegen aus, aber das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Und Gesetz ist Gesetz.

Aber kritisieren darf man es?

Das darf man. Auch ich habe mich dazu geäußert. Der Menschenrechtsrat wird die Situation beobachten, um Informationen zu sammeln und zu verstehen, wie diese Regelungen wirken und ob die Bedenken berechtigt sind, die von Menschenrechtsorganisationen und anderen Gegnern dieses Gesetzes vorgebracht werden. Vielleicht müssen dann tatsächlich dringende Veränderung in das Gesetz eingebracht werden.

Was sagt Ihnen denn Ihre Intuition?

Das ist keine Kategorie, derer ich mich in diesem Fall bedienen würde.

Sie haben sich für Ildar Dadin eingesetzt, haben eine Revision seines Urteils gefordert. Viele haben Ihre Initiative sehr positiv aufgenommen ...

Was meine Initiative betrifft, ist das allerdings nicht ganz zutreffend. Bei mir ist ein Gesuch seines Anwalts eingegangen. Und solange das Gericht noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, verfügt die Menschenrechtsbeauftragte über die Möglichkeit, ein Gesuch an das Gericht zu richten, was ich auch getan habe. Das Oberste Gericht wird den Fall weiter prüfen. Andere Mittel hat die Menschenrechtsbeauftragte derzeit nicht.

Sind Sie mit der Position der Menschenrechtler einverstanden, Ildar Dadin sei ein politischer Gefangener?

Ich habe meine Position diesbezüglich mehr als einmal deutlich gemacht: Ich unterstütze den Gebrauch des Begriffs „politischer Gefangener“ nicht. Ich finde nicht, dass dieser Begriff dem russischen Rechtssystem angemessen ist.

Der Begriff ‚politischer Gefangener‘ ist dem russischen Rechtssystem nicht angemessen. Ich unterstütze den Gebrauch dieses Begriffs nicht

Den Begriff gibt es also nicht, aber die Menschen schon?

Was soll das heißen? Wen würden Sie in Russland denn einen politischen Gefangenen nennen?

Ich habe Ihnen doch gesagt, dass viele Menschen Ildar Dadin für einen politischen Gefangenen halten. Man hält auch den unglückseligen Mochnatkin …

Für welche Verbrechen sitzen sie denn ein? Für Verbrechen, die im Strafgesetzbuch festgeschrieben sind.

Aber die Gesetze sind in den vergangenen Jahren enorm verschärft worden. Beispielsweise das Demonstrationsgesetz.

Das Demonstrationsgesetz hat sich verändert. Aber man muss sich in jedem einzelnen Fall die Beweislage ansehen und welche Verstöße begangen wurden. Was [im Fall von Dadin] überhaupt vorlag – ein Angriff auf die öffentliche Ordnung, auf die Rechte anderer Menschen oder auf die Grundprinzipien des Staates. Es wurde allerdings von der ganzen Gesellschaft als eine gesellschaftlich gefährliche Tat eingestuft.

Dimitri Medwedew hat gern immer wieder betont, dass es in Russland notwendig sei, von der Bestrafung durch Freiheitsentzug Abstand zu nehmen, solange ein Mensch nicht das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum anderer gefährdet hat. Was bei Dadin zutrifft. Unterstützen Sie diese Herangehensweise?

Wenn du zwei administrative Rechtsverstöße begangen hast, ist das nach unserer Rechtsprechung ein administratives Präjudiz, das zu einer strafrechtlichen Angelegenheit wird. Wie es auch im Fall von Dadin geschehen ist.

Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen

(Wendet sich an den Fahrer.) Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen.

Kann ich noch ein paar Fragen stellen?

Pascha, das sind doch sicherlich schon genug von diesen Fragen, um das Bild zu zeichnen, das ihr zeichnen wollt.

Warum sagen Sie das? Ich habe noch viele Fragen, zu denen ich gern ihre Meinung hören würde …

Die haben sie schon gehört. Sie sehen die Dinge einseitig. Weil es Sie gar nicht interessiert, wie beispielsweise die Rechte von Menschen verteidigt werden, denen gekündigt wurde, und vieles mehr. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …

Sie sehen die Dinge einseitig. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …

Politischen Gefangenen?

Politischen Gefangenen, genau. Golubyje ist übrigens ein schönes Wort. Alles andere interessiert Sie gar nicht, der riesige Bereich von Problemen … Was ist zum Beispiel mit den Wehrdienstleistenden, die vier Jahre lang keine Gehaltsanpassung bekommen? Oder mit alleinerziehenden Müttern oder den Müttern mit vielen Kindern, die in Moskau keine Wohnung bekommen und auf den Wartelisten nicht vorrücken?

Mich interessiert alles, Tatjana Nikolajewna. Auch der Gefangenenaustausch mit der Ukraine und viele andere Themen …

Ein Austausch stand nie zur Debatte. Es war die Rede von Übergabe, und noch nicht einmal von Übergabe, sondern von Transfer, von der Überführung verurteilter ukrainischer Bürger in die Ukraine. Und das wird noch verhandelt.

Arbeiten Sie mit der Menschenrechtsbeauftragten der DNR Daria Morossowa zusammen?

Das hat sich bisher nicht ergeben. Ich arbeite mit Lutkowskaja zusammen.

Könnten Sie darauf genauer eingehen? Das ist interessant.

Aber du fragst ja nicht. Du fragst nur was über LGBT und über die politischen Gefangenen. Sind das etwa die brennenden Fragen? Sie greifen sich einen Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft heraus, und zwar einen sehr kleinen.

Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent!

Nehmen wir doch den Bericht für 2015 von Ella Pamfilowa. Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent! Und die restlichen – da wollen Menschen eine Wohnung, ein Dach überm Kopf, ein anständiges Gehalt, einen anständigen Urlaub, ein anständiges Gesundheitssystem. Wenn Personen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung unbedingt auf die Straße gehen möchten, verbietet es ihnen doch niemand …  

Naja, sei’s drum. Warum regen Sie diese Fragen so auf? Lassen Sie uns über Barrierefreiheit sprechen. Darüber, dass für Rollstuhlfahrer in keiner einzigen Stadt unseres Landes ein normales Leben möglich ist. Oder über die Waisen, die dank des Dima-Jakowlew-Gesetzes in Kinderheimen dahinvegetieren. Bekommen Sie deswegen Beschwerden? Sind das Probleme mit Einzel- oder vielleicht doch mit Systemcharakter?

Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Wissen Sie, dass der Staat damals nichts über das Schicksal von über 600 Kindern herausfinden konnte, die adoptiert und ins Ausland gebracht wurden? Was ist mit diesen Kindern? Sind sie noch am Leben? Deswegen bereue ich überhaupt nichts, ich freue mich sogar darüber, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben.

Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Ich bereue überhaupt nichts

Und was die Behinderten betrifft, schauen sie doch mal in die Oblast Wladimir, wie viele Rampen und Behinderteneingänge da gebaut wurden. Gerade jetzt vor den Wahlen gibt es ein ganzes Programm für sie. Nicht nur hier, sondern russlandweit. Natürlich rückt diese Frage immer mehr in den Vordergrund. Es wurden extra dafür Gelder bereitgestellt und Förderungen geschaffen. Ja, das ist noch zu wenig. Man wünscht sich immer, dass es mehr solcher Hilfen gäbe, und dafür werde ich kämpfen. Und auch für die Behinderten, die in geschlossenen Heimen leben. Und für viele andere.

Wenn das so ist, sind wir bereit, Sie zu unterstützen.

Das würde ich so nicht sagen – nach den Fragen, die Sie stellen. Du hast es noch nicht einmal geschafft, mir Beispiele zu nennen, wo diese LGBTs in ihren Rechten beschnitten werden … In der Gesellschaft finden solche Fragen zurzeit keine breite Unterstützung.

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„Agentengesetz“

Vor dem Hintergrund der Bolotnaja-Proteste hat die russische Staatsduma im Jahr 2012 das sogenannte „Agentengesetz“ verabschiedet. Es sanktioniert „politisch aktive“ Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die finanziell aus dem Ausland unterstützt werden.

Das Gesetz wurde seitdem mehrfach ausgeweitet und verschärft: Seit November 2017 können auch Medien zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, seit Ende November 2019 auch Einzelpersonen. Seit Dezember 2020 können soziale Bewegungen und Einzelpersonen nicht nur bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland zu „Agenten“ erklärt werden, sondern auch dann, wenn sie „politische Aktivitäten“ im Interesse einer „ausländischen Quelle“ entfalten. Außerdem werden sie verpflichtet, ihre Publikationen mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ zu versehen. Auch Medien müssen darauf verweisen, wenn sie entsprechende Personen oder Organisationen erwähnen. Im Juli 2022 unterschrieb Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Die Regelungen sind schwammig formuliert, das aus der Stalinzeit stammende „Agenten“-Label wird nicht selten selektiv und willkürlich angeheftet. Betroffene Organisationen müssen außerdem strenge Vorschriften einhalten, die ihre Arbeit erheblich erschweren.

Mit Beginn der dritten Amtszeit Putins ist der Druck auf Nichtregierungsorganisationen in Russland gestiegen. Vor dem Hintergrund der Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12, die vom Kreml schnell als durch die USA gesteuert dargestellt wurden, unterschrieb Putin noch im Jahr 2012 eine Änderung des „Gesetzes über nicht-kommerzielle Organisationen“. Das sogenannte „Agentengesetz“ stigmatisiert „politisch aktive“ NGOs, die aus dem Ausland finanzielle Förderung erhalten, als „ausländische Agenten“. Es sieht eine Reihe von Vorschriften und Sanktionen für die betreffenden NGOs vor: Diese umfassen strenge Rechenschaftspflichten, die Vorgabe, sämtliche publizierte Materialien mit dem Label „ausländischer Agent“ zu versehen sowie Geldstrafen und Freiheitsentzug im Falle einer Nicht-Registrierung im Agenten-Verzeichnis des Justizministeriums.

Wie wirkt das Gesetz in der Praxis? Die Erfahrungen mit dem Agentengesetz zeigen, dass die Umsetzung in erster Linie uneinheitlich und selektiv erfolgt.1 Dies mag zum einen an den diversen Verteidigungsstrategien der betroffenen NGOs liegen. Zum anderen aber auch an der bewusst vagen Formulierung des Gesetzes an sich: Das Kernkonzept „politisch aktiv“ wird nirgends umfassend definiert. Ambivalente Gesetze räumen Staatsorganen einen hohen faktischen Ermessensspielraum ein und öffnen einer selektiven Rechtsanwendung Tür und Tor.2 Die Justiz wird mehr und mehr zum Spielball politischer Einflüsse. Dass einige Gerichtsurteile zum Agentengesetz ungewöhnlich lange auf sich warten ließen, ist mehrfach so interpretiert worden, dass zunächst auf eine Anweisung „von oben“ gewartet werden musste.3

Die Phase der Nicht-Anwendung des Gesetzes unmittelbar nach seinem Inkrafttreten hat bald darauf einer aktiven „Agentenjagd“ Platz gemacht: Im Frühjahr 2013 begannen weitreichende und unangekündigte Überprüfungen von NGOs, die teilweise Sanktionen auf Grundlage des Agentengesetzes nach sich zogen. Neuen Antrieb erhielt die Kampagne gegen NGOs weiterhin durch eine Gesetzesänderung im Frühjahr 2014, die es dem Justizministerium erlaubt, NGOs eigenhändig in das Verzeichnis ausländischer Agenten einzutragen. Das zu Beginn noch leere Agentenregister des Justizministeriums füllte sich zusehends: Im August 2015 wurde die 87. Organisation registriert. Viele NGOs stellten daraufhin ihre Arbeit ein, andere wandten sich von ausländischen Fördergeldern ab und schränkten ihre Ausgaben ein. Somit konnte das Justizministerium mit der Zeit vermelden, weniger „Agenten“ in dem Register zu führen: Im Februar 2021 waren es 75 Organisationen, unter ihnen das Meinungsforschungsinstitut Lewada und die Menschenrechtsorganisation Memorial, sowie fünf ihrer Unterabteilungen beziehungsweise regionalen Niederlassungen.4 Der Handlungsspielraum von NGOs ist zusätzlich eingeschränkt durch das im Mai 2015 in Kraft getretene Gesetz über „unerwünschte Organisationen“, das administrative und strafrechtliche Sanktionen (bis hin zum Tätigkeitsverbot) für in Russland tätige ausländische Organisationen vorsieht, die als Regimebedrohung aufgefasst werden. Im Februar 2021 galten insgesamt 31 Organisationen als „unerwünscht“.5

Seit November 2017 können zudem auch Medien als „ausländische Agenten“ deklariert werden. Auch hier ist das Gesetz so schwammig formuliert, dass schon eine Teilnahme an einer Journalisten-Konferenz im Ausland ausreicht, um das ganze Medium zum „Agenten“ zu erklären. Ende November 2019 hat die Duma außerdem in dritter Lesung ein Gesetz verabschiedet, wonach auch Einzelpersonen zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden können. Theoretisch reicht es aus, wenn sie den Beitrag eines Mediums, das bereits als ausländischer Agent gilt, öffentlich teilen und außerdem Geld aus dem Ausland erhalten, unabhängig aus welcher Quelle. Duma-Abgeordnete beeilten sich damals, zu versichern, dass das Gesetz als Gegenmaßnahme zu ähnlichen US-amerikanischen Regelungen gedacht sei. Vor allem sei es gegen Mitarbeiter von denjenigen Auslandsmedien gerichtet, die als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Tatsächlich ist das Gesetz jedoch so breit formuliert, dass eine selektive und willkürliche Auslegung möglich ist. Im Dezember 2020 hat das Justizministerium fünf Einzelpersonen in das Agentenregister für Medien aufgenommen, unter anderem den Menschenrechtsaktivisten Lew Ponomarjow.6 Im Juli 2022 unterschrieb Wladimir Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Insgesamt sollen diese Regelungen die Arbeit von politisch aktiven Organisationen erschweren; sie funktionieren aber auch als eine Drohkulisse, die „unerwünschte“ politische Aktivitäten im Keim ersticken. Ihre Verabschiedung ging einher mit dem systematischen Beschneiden der Bürgerrechte in Russland. So sind heute alle Dimensionen der Handlungsfelder unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen – von Registrierung und Aktivitäten, über Versammlungsfreiheit und freie Rede bis hin zu Ressourcen und internationalen Kontakten – mit rechtlichen Schranken versehen und zum Teil kriminalisiert.

Stand: 14.07.2022


1.ausführlich zu den Auswirkungen des Agentengesetzes: Ochotin, Grigorij (2015). Agentenjagd: Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa 2015 (1-2), Berlin, S. 83-94 
2.vgl. Lauth, Hans-Joachim / Sehring, Jenniver (2009). Putting Deficient Rechtsstaat on the Research Agenda: Reflections on Diminished Subtypes, in: Comparative Sociology 2009 (8), S. 165-201 
3.Siegert, Jens (2014). Mehr als ein Jahr „Agenten“-Jagd – eine Art Zwischenbericht, in: Russland-Analysen 2014 (278), S. 25-27 
4.vgl. minjust.ru: Svedenija reestra NKO, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
5.vgl. minjust.ru: Perečen' inostrannych i meždunarodnych nepravitel'stvennych organizacij, dejatel'nost' kotorych priznana neželatel'noj na territorii Rossijskoj Federacii 
6.minjust.gov.ru: Reestr inostrannych sredstv massovoj informacii, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
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Farbrevolutionen

Als Farbrevolutionen bezeichnet man eine Reihe friedlicher Regimewechsel in post-sozialistischen Ländern. Diese wurden unter anderem durch gesellschaftliche Großdemonstrationen gegen Wahlfälschungen ausgelöst. Aufgrund der Farben beziehungsweise Blumen, mit denen die Bewegungen assoziiert werden, ist der Sammelbegriff Farbrevolutionen entstanden. Stellt der Begriff für die politische Elite in Russland eine Bedrohung ihrer Macht dar, verbinden oppositionelle Kräfte damit die Chance auf einen Regierungswechsel.

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AGORA

AGORA ist eine bekannte russische Menschenrechtsorganisation, die sich juristisch für die Rechte von Aktivisten, Journalisten, Bloggern und Künstlern einsetzt. In jüngster Zeit geriet die Organisation in die Schlagzeilen, da sie vom Justizministerium als sog. ausländischer Agent registriert wurde.

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