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„Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

Seit dem Eurovision Song Contest 2020 sind Little Big auch außerhalb Russlands populär: Little Big sollte in dem Jahr Russland vertreten mit dem Song Uno. Der ESC 2020 fand nicht statt, wegen Corona, Uno eroberte dennoch die europäischen Zuschauerherzen und wurde zum meistgeklickten Video auf dem offiziellen ESC-Youtube-Kanal mit mehr als 250 Millionen Aufrufen. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit auch im Ausland, als Little Big am 24. Juni aus dem Exil in den USA heraus ihren neuesten Clip veröffentlichten: Generation Cancellation, ein Antikriegssong: „War is not over. Stop war in Ukraine. Stop wars worldwide. No one deserves war“ haben sie auf Youtube unter das Video geschrieben.

Am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hatte Little Big-Sänger Ilja Prussikin auf seinem Instagram-Account folgendes Bild gepostet: ein schwarzes Quadrat, darauf in weißen Lettern die Aufschrift No War, Нет Войне. Im März hat die Band Russland schließlich verlassen, über Dubai sind sie nach Los Angeles geflogen. 

Im aktuellen Videoclip finden Little Big nun plakative Antikriegsbilder: Ein Kind, das einen Hotdog überreicht bekommt – mit Rakete statt Würstchen. Der Nachrichtensprecher der Sendung Fake News sitzt auf der Toilette – deren Abwasser direkt in die Köpfe der Zuschauer gespült wird. 
Auch andere russische Bands und Musiker protestieren gegen Russlands Krieg in der Ukraine: Der Hiphop-Star Oxxxymiron etwa hat Russland ebenfalls verlassen. Gegen Juri Schewtschuk, berühmter Sänger der Band DDT, wurde nach einem Auftritt in Ufa außerdem ein Verfahren eingeleitet wegen „Diskreditierung der russischen Armee“, was auch ein Konzertverbot mit sich bringt.

Das unabhängige russische Online-Medium Holod hat mit Ilja Prussikin, dem Sänger von Little Big, gesprochen: über Kritik an dem Clip von russischer wie ukrainischer Seite und darüber, ob man Kunst und Politik überhaupt voneinander trennen kann und soll.

Quelle Holod

Holod: Hattet ihr die Wahl, ob ihr in Russland bleibt oder nicht?

Ilja Prussikin: Natürlich nicht.
 
Habt ihr für euer Anti-Kriegsposting [am 24. Februar auf Instagram dek] von der Regierung eins auf den Deckel gekriegt?

Es gab Anrufe, Andeutungen. Vielleicht waren es nur Pranks, gab es damals viele, aber sie sagten: „Löschen.“ Ich sagte, ich lösche es nicht.
 
Hattet ihr Zweifel wegen des Postings?

Nein. Viele wollen jetzt behaupten, der Krieg in der Ukraine sei nicht so eindeutig, aber WTF, was heißt da nicht eindeutig?! Die Regierung der Russischen Föderation hat beschlossen, ein souveränes Land anzugreifen. In der Propaganda heißt es immer: „Vielleicht wollte die Ukraine uns angreifen?“ Hätten sie uns angegriffen, hätten wir uns verteidigt. Aber das hier ist eine komplett andere Situation. 
 
Am 24. Juni habt ihr den Clip zu eurem Song Generation Cancellation veröffentlicht. Hattet ihr die Idee dazu sofort nach Kriegsbeginn?

Ich glaube, wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen und hatten auch gleich die Idee zu dem Clip. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen. Im März landeten wir in den USA und haben im Grunde sofort den Clip gedreht. 

Wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen

Er kam erst jetzt raus, weil die Grafik Russen gemacht haben, die sich jetzt über die ganze Welt verteilt haben. Für Sachen, die normalerweise einen Tag dauern, haben wir zwei Wochen gebraucht.       
 

 
Gab es nach dem Clip Drohungen, Bot-Angriffe, Anrufe bei euren Verwandten? 

Komischerweise nicht. Nur die Kremlbots haben alle Fotos unserer Vokalistin Sonja Tajurskaja [auf Instagram] gemeldet. Das ist ihre Lieblingsmethode.  
Und die Medien haben das Thema breitgetreten, ob man uns die Staatsbürgerschaft entziehen soll (gemeint ist der Vorschlag von Produzent Iossif Prigoshin, den Bandmitgliedern von Little Big die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen – Anm. Holod). 

Wenn ich in Amerika bin, bin ich schon ein ‚ausländischer Agent‘

Dann sagte Prigoshin, er habe das nie gesagt, das sei eine Erfindung der Medien. Von Galkin und „ausländischen Agenten“ haben sie auch geschrieben, so: „Sie hassen ja ihr Heimatland, nehmen wir ihnen doch die Staatsbürgerschaft weg!“ Das können die Behörden, wissen wir doch. Sie haben ja auch diesen Scheißparagrafen [mit den „ausländischen Agenten“] gemacht. Was soll der Dreck? Heute kann man schon wegen „Einflüssen aus dem Ausland“ als „ausländischer Agent“ gelten. Wenn ich also in Amerika bin, bin ich schon ein „ausländischer Agent“!
 
Haben euch manche der Kollegen, die in Russland geblieben sind, Respekt ausgedrückt für euren Clip und eure Ausreise?

Ja, sehr viele. Gott sei Dank hab ich keinen einzigen Bekannten oder Freund, der geschrieben hätte: „Hör mal, Alter, das ist doch kein Krieg, das ist eine militärische Spezialoperation.“

Krieg ist ein Horror, der mit nichts zu rechtfertigen ist. Ich habe schon hundertmal gesagt, ich bin der reinste Humanist. Da ist Gott, der ist ephemer, und da ist das menschliche Leben – das ist real. Und es gibt nichts Wichtigeres und nichts Heiligeres. Meine Freunde sind derselben Meinung.

Die Ukrainer haben euren Clip sehr kritisiert. Es gab ein langes Video, in dem es hieß, der Clip zu Generation Cancellation sei  zu unkonkret.

Ein Clip ist ein Kunstwerk. Es gibt etwas, das nennt man Kunst. Da gibt es zum Beispiel ein Bild, und jeder sieht darin, was er sehen will. Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder? Wir haben uns heute diese Kritik angesehen, der Autor hat sich nicht mal die Mühe gemacht, unsere Pressetexte zu lesen und alles, was wir über den Krieg sagen.         

Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder?

Wir positionieren den Clip als Manifest gegen den Krieg. Wir wollen die ganze Welt erreichen, weil der Krieg in der Ukraine nicht der einzige ist. Und unsere Position zu diesem Krieg, den die Regierung der RF angefangen hat, steht in den Begleittexten, in den Pressemitteilungen und so weiter. Das eine ist die Kunst, das andere das politische Statement. Es wäre ja banal, zu singen, dass Putin den Krieg begonnen hat. Das wären Tschastuschki. 

Im Clip gibt es eine Szene über Fake News, die als Scheiße in die Köpfe gepumpt werden. Der Autor in dem Video fragt: „Wieso steht das nicht auf Russisch da?“ Ja, weil das doch keiner auf der Welt verstehen würde, außer dir und uns. Er produziert selber Fake News, stellt eine erfundene Bedeutung als real hin, aber wir haben es anders gemeint. 

Russische Musikkritiker haben außerdem geschrieben, dass ihr mit dem Weißen Haus am Ende des Clips andeuten wollt, dass Amerika an allem schuld sei. 

Google mal das Weiße Haus und google mal Putins Palast! Im Clip geht es um Putins Palast. Und überhaupt, Kunst darf nicht konkret sein, dafür ist es ja Kunst.

Das ist übrigens der häufigste Vorwurf von Kritikern und Publikum an Künstler – ihr trennt angeblich die Politik von der Kunst. 

Wir haben ein Manifest gegen den Krieg gemacht. Ist es bedeutungslos, nur weil wir keine Namen nennen, keine Beteiligten, keine Parolen? Das ist doch beknackt! Das ist dann keine Kunst, sondern eine Ansammlung von Fakten. Wozu soll ich dann noch Musik machen, da schreib ich doch lieber ein Buch darüber, wie das alles passiert ist, und wer ein Arschloch ist und wer die Guten sind? Deswegen haben wir dieses Manifest gegen den Krieg gemacht und unsere Position in allen Medien – in ukrainischen, russischen, amerikanischen, englischen – ganz klar formuliert.   

Wenn einer sagt: ‚Das ist keine Kunst, das ist Scheiße‘ – kein Problem

Ich will es gar nicht allen recht machen. Es ging mir [mit dem Clip] nicht darum, dass mich die Ukrainer lieb haben. Mir ist schon klar, dass sie mir böse sein werden, weil ich nicht genug getan habe. Ich werde ihnen das auch niemals vorwerfen, denn sie werden mit Raketen beschossen. Aber ich werde so handeln und so kämpfen, wie ich es für richtig halte. Wenn sich irgendwelche Musiker nicht zum Krieg äußern, dann hab ich deswegen nichts gegen sie. Ich habe mich geäußert! Ich habe mich positioniert und habe Kunst gemacht. Wenn einer sagt: „Das ist keine Kunst, das ist Scheiße“ – kein Problem. Tja, ich bin Künstler, ich sehe das so.  

Wenn wir schon von Kunst und Krieg sprechen: Manche ignorieren, was derzeit passiert, gar nicht mal aus politischen Überlegungen oder aus Angst, sondern weil sie finden, dass es ohnehin schon genug schweren Content gibt.

Ich kann keinem was vorwerfen, das fände ich schlechten Stil. Ich mag es selber nicht, wenn mir jemand sagt, dass ich dort oder da zu wenig den Mund aufgemacht habe. Ich weiß, was ich tun will und wie, und ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt. Es steht mir doch nicht zu, jemandem vorzuschreiben, ob er sich äußert oder nicht. Ich hab doch nicht das Recht, mich in das Leben eines anderen Menschen einzumischen. Genauso wie Putin und die Regierung der RF nicht das Recht haben, sich in die Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen.

Und was soll mit Künstlern passieren, die in Z-Konzerten für den Krieg auftreten?

Von denen will ich nichts wissen, ich will sie und das, was sie machen, nicht sehen. 

Vielleicht sind auch manche von Little Big enttäuscht, weil ihr nicht das sagt, was sie sich wünschen würden?

Die Leute sind eher enttäuscht, weil sie glauben, wir haben die Hosen voll davor, im Clip konkret den Krieg in der Ukraine zu nennen. Alter, wir haben ihn ja konkret genannt [im Pressetext]. Sollen wir das im Clip überall drunter schreiben? Versteht ihr überhaupt irgendwas von Kunst?

Ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt

Ich glaube, die Enttäuschung hat einen anderen Grund, da geht es nicht um unsere Haltung. Unsere Haltung ist eindeutig und klar. Und sie ist überall, wir verstecken sie nicht, sie ist in allen Medien frei zugänglich, sogar die beschissenen Propagandamedien haben geschrieben, dass wir gegen den Krieg und gegen die Regierung der RF auftreten.  

Macht ihr noch weitere Antikriegsvideos und Manifeste?

Wir haben einen Song, der heißt Refugees, den haben wir so Anfang April aufgenommen. Da geht es um Flüchtlinge. Ein sehr trauriger Song, richtig Abfuck. Aber das wird keiner unserer klassischen Tracks, sondern was anderes.   

Seid ihr im Westen irgendwie auf Ablehnung gestoßen?

Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, in Amerika gar nicht. Dort cancelt niemand russische Kultur. In New York laufen Theaterstücke mit Baryschnikow und einem ukrainischen Regisseur. Allen ist klar, dass die Russen nicht Putin sind. Es gibt natürlich Leute, die den Krieg unterstützen, aber das ist deren Scheißproblem, nicht unseres.  

Fühlt ihr euch verantwortlich für das, was passiert?

Ich fühle mich verantwortlich dafür, dass wir alle Kriege ignoriert haben und dachten: „Gehen halt irgendwelche Libyer drauf, na und.“ Aber warum sollte ich die Verantwortung übernehmen für Leute, die keine Ahnung haben, was sie mit dem Land machen sollen, die stehlen und rauben? Ich kenne keinen einzigen Menschen, der Putin und Einiges Russland wählen würde. Auch ich habe meine Pflicht erfüllt – ich habe sie nicht gewählt. 

In diesem Kontext hat man euch an eure alten Video-Blogs im Rahmen des Projekts Danke, Eva! erinnert, das vom Kreml gesponsert wurde.

Wir wussten das damals nicht [dass Danke, Eva! von der Regierung finanziert wurde]. Das lief nicht länger als ein Jahr und ich habe da die regierungskritische Gaffi-Gaf-Show gemacht. Juri Degtjarew (der Gründer von Danke, Eva! – Anm. Holod) ist ein genialer Verkäufer, der hat den Behörden diesen Scheiß angedreht, wo sie selbst gedisst werden. Weiß der Geier, wie er das geschafft hat. Wer glaubt, dass ich was im Auftrag der Regierung gemacht habe, braucht sich nur diese Videos anzusehen – dann haut es euch krass weg. Mehr gibt’s da nicht zu sagen. 

Wollt ihr euch in Zukunft als Band aus Los Angeles positionieren?

Wir sind Russen, daran gibt’s nichts zu rütteln. Auch wenn wir 300 Jahre hier leben – sollte es irgendwann ein krasses Mittel gegen Altwerden geben – sind wir immer noch Russen. Und ich liebe mein Land, ich liebe mein Zuhause, auch wenn ich den Staat hasse. Was soll man da machen! Damit müssen wir leben, mit dieser verfickten Scheiße!      

Plant ihr euer Leben auch nur einen Monat voraus?

Wir sind momentan einfach nur fertig. Wir wissen, dass wir ein neues Leben anfangen, dass wir nicht mehr so leicht zurück können. Ich glaube, in unserem Fall ist es unmöglich, irgendwas zu planen. Wir leben wie die Kinder. Wie nach der Uni, wo du dir denkst: „Was jetzt? Gehen wir halt ins Studio und nehmen was auf.“ So war meine Kindheit. Wir tun, was wir tun, und was kommt, das kommt. Nur so.

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Russland und der ESC

2009 richtete Vorjahressieger Russland zum ersten Mal den Eurovision Song Contest aus. Und wie: Zur Eröffnung des ersten Halbfinals trat das international bekannte russische Duo t.A.T.u. mit seinem Hit Not gonna get us auf. Bei der Aufführung war auch das Alexandrow-Ensemble, einer der bedeutendsten und ältesten Soldatenchöre in Russland, dabei. Als Bühnendekoration dienten ein Jagdflieger und ein pinkfarbener, blumengeschmückter Panzer. Hinter der Bühne war eine rote Kremlmauer zu sehen.

Die Inszenierung verdeutlicht die widersprüchliche Haltung Russlands zu Europa und zum ESC: Einerseits bedient man den Mainstream-Geschmack und die ESC-übliche Sehnsucht nach Glitzer und Glamour. Andererseits folgt Russland seinen eigenen Regeln, gleichzeitig mit dem Anspruch, auch für die anderen Maßstäbe zu setzen. Gerade in Georgien wurde so kurz nach dem Kaukasuskrieg von 2008 der Panzer als Affront aufgefasst und kritisiert.

Die Ereignisse rund um den ESC 2017 in Kiew – mit dem Einreiseverbot für die russische Sängerin Julia Samoilowa in die Ukraine und drohenden Sanktionen von der European Broadcasting Union (EBU) sowohl für die Ukraine als auch für Russland – warfen eine alte Frage wieder neu auf: Wie politisch ist der ESC?

https://www.youtube.com/watch?v=cwOkm300oiM

Selbst zu Zeiten der Sowjetunion, als Russland noch gar nicht an dem Musikwettbewerb teilnahm und er auch noch nicht übertragen wurde, war der Grand Prix in gewisser Hinsicht politisch – insofern, als das bunte Spektakel als Sinnbild der kapitalistischen Konsumgesellschaft galt.

Um den Wettbewerb zu verfolgen, mussten die Zuschauerinnen und Zuschauer ausländische Fernsehprogramme empfangen können. Seit 1956, dem Beginn des Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie er damals in Deutschland hieß, wurden bis zum Zusammenbruch der UdSSR nur drei Ausnahmen gemacht: 1965 und 1968 konnten die Sowjetbürger den Grand Prix im Fernsehen mitverfolgen, 1987 zeigte die Sendung Melodii i ritmy sarubeshnoi estrady (dt. etwa: Melodien und Rhythmen aus der ausländischen Schlagerwelt) elf der insgesamt 22 Auftritte. 

Ostblock-Gegenmodell zum Grand Prix

Als Gegenmodell zum westlichen Vorbild der Eurovision wurde 1977 die Intervision (russ. Interwidenije) gegründet und propagiert. Für das osteuropäische Gegenstück zum Grand Prix griff man auf das bereits bestehende Format des Musikwettbewerbs im polnischen Sopot zurück. Die Lebenszeit der Interwidenije war wiederum aus politischen Gründen nur kurz: Die Streiks der polnischen Gewerkschaft Solidarność im Sommer 1980, die anschließende Niederschlagung samt Verhängung des Kriegsrechts setzten dem Wettbewerb in dieser Form ein Ende. Ab 1984 fand der Wettbewerb wieder in seiner früheren Form als Sopot-Musikfestival statt.1

Postsowjetisches Nation Branding

Nach dem Zerfall der UdSSR war der Grand Prix Eurovision de la Chanson für viele mittel- und osteuropäische sowie postsowjetische Länder mit das erste europäische Format, das ihnen offenstand und in das sie sich integrierten. Entsprechend ernst nahmen sie den Wettbewerb. 
Bevor im Jahr 2004 zehn Länder der EU beitraten, gewann Estland 2001 den Grand Prix, gefolgt von Lettland. Im Jahr 2002 bekam der Wettbewerb auch seinen neuen, englischen Namen: Eurovision Song Contest, kurz ESC.

Für Estland kam der Sieg 2001 zu einem entscheidenden Zeitpunkt, nämlich während der EU-Beitrittsverhandlungen. Bei der Rückkehr des Siegerduetts Tanel Padar und Dave Benton nach Estland soll der damalige Premier Mart Laar gesagt haben: „Wir haben das russische Imperium singend zu Fall gebracht. Jetzt klopfen wir nicht an die Tür Europas, sondern treten einfach singend ein.“2

Das russische Nation Branding durch den ESC verlief da wesentlich holpriger. Nach dem Beitritt zur European Broadcasting Union (EBU) nahm die Sängerin Youddiph 1994 zum ersten Mal für Russland am Grand Prix Eurovision de la Chanson teil. In den Folgejahren setzte man auf altbekannte Estrada-Größen – diese Strategie ging jedoch nicht auf: Filipp Kirkorow landete 1995 mit Kolybelnaja dlja Wulkana (dt. Wiegenlied für einen Vulkan) auf Platz 17 von 25. 1997 kam dann Alla Pugatschowa mit dem Lied Primadonna auf Platz 15.

https://www.youtube.com/watch?v=QVJnjdROPOA

Drei Mal war die Teilnahme für Russland überhaupt nicht möglich: 1996 konnte sich Russland in einer Grand Prix-internen Qualifizierungsrunde nicht durchsetzen und nahm entsprechend nicht am Finale teil. Aufgrund der auch sonst schlechten Platzierungen konnte Russland, so wollte es die damalige Regelung, 1998 nicht teilnehmen. Der Wettbewerb wurde deswegen nicht im russischen Fernsehen übertragen, was wiederum gegen Eurovisions-Regeln verstieß. So blieb Russland auch 1999 ausgeschlossen.

Gelungenes Comeback

Russland vollzog schließlich eine 180-Grad-Wende und ließ fortan nur noch junge Stimmen mit Songs von international renommierten Komponisten und Produzenten antreten. Im Jahr 2000 schaffte die Sängerin Alsou, im Vorfeld erfolgreich als „russische Britney Spears“ lanciert, mit ihrem zweiten Platz für Solo ein gelungenes Comeback.

Diese Weichenstellung sorgte auch dafür, dass bei mehr und mehr jungen Menschen Interesse geweckt wurde: Der Wettbewerb avancierte auch in Russland zum generationenübergreifenden Familienprogramm.

https://www.youtube.com/watch?v=nz_JyKIey-8

Russland wollte es jetzt wirklich wissen. 2003 trat das damals auch im Westen bekannte russische Duo t.A.T.u. mit dem Lied Ne wer, ne boisja, ne prosi (dt. Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte nicht) an. Auf den T-Shirts der beiden Sängerinnen war die Nummer 1 zu sehen. Standen Julia Wolkowa und Jelena Katina nebeneinander, bildeten sie ihre Startnummer, die 11. Einzeln genommen drückten die T-Shirts den russischen Siegeswillen aus. Am Ende des Abends landete t.A.T.u. auf Platz drei.

Beachtliche(r) Bilan(z)

2006 war Dima Bilan noch enttäuscht, dass er trotz seiner Favoritenrolle nicht mit dem Sieg belohnt wurde und nur auf Platz zwei landete. Für Bilans zweiten Versuch 2008 wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Bei seinem Auftritt mit dem Lied Believe stand ihm der ungarische Geiger Edvin Marton mit einer Stradivari zur Seite, während Jewgeni Pljuschtschenko, Olympiasieger im Eiskunstlauf, auf einer künstlichen Bahn Pirouetten drehte. Der finanzielle Aufwand wurde mit dem ersten Sieg für Russland belohnt.

2009 bei der Austragung des ESC in Moskau wurde in ähnlichem Maßstab geklotzt. Für die Bühne wurde ein Drittel der damals europaweit vorhandenen LED-Bildschirme verbaut. Für 40 Millionen Dollar lieferte Moskau den bis dahin teuersten ESC.3

Ein Sieg, vier Mal zweiter und drei Mal dritter Platz – bei insgesamt 20 Teilnahmen hat Russland inzwischen eine durchaus beachtliche Bilanz vorzuweisen. 

https://www.youtube.com/watch?v=-72s4WzUcKI

Zuschauer beim „schwulen ESC“

Im postsowjetischen Russland war und ist der ESC ein populäres Fernsehformat, das in der Regel von den Sendern Erster Kanal und Rossija 1 übertragen wird. 2016 verzeichnete Rossija 1 für das Finale 5,5 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer, eine Quote von 8,1 Prozent, ein Fünfjahreshoch.4 In der Wahrnehmung des Wettbewerbs in Russland und in Europa sind aber eklatante Unterschiede festzustellen.

Der ESC wird seit Jahrzehnten in vielen westlichen Teilnehmerländern von LGBT-Vereinigungen auch und gerade als ihr Fest betrachtet. Die Extravaganz der Kostüme ist zuweilen so bunt und ausgefallen wie die Paraden am Christopher-Street-Day. In Russland verhält es sich anders. Während des ESC in Moskau 2009 wurden LGBT-Aktivisten drangsaliert,5 die sich während des ESC öffentlich für ihre Belange einsetzten.

Beim Sieg der österreichischen Conchita Wurst 2014 wurde im Fernsehen das bekannte Denk- und Sprachmuster vom „verfaulten Westen“ bemüht.6 Interessanterweise wich die Bewertung der russischen Jury, die Österreich den elften Platz zuwies, deutlich vom Votum des Publikums ab, das Conchita auf Platz drei sah. Letztlich vergab Russland fünf Punkte an Österreich.7 Von offizieller Seite gab es Überlegungen, bei dieser dekadenten Veranstaltung erst gar nicht mehr anzutreten. Schon älter ist der Vorschlag, stattdessen das alte Intervision-Format neu zu beleben.8

Russland und die Ukraine

Nicht angetreten ist Russland jedoch erst 2017. Der Sender Erster Kanal kürte die Sängerin Julia Samoilowa zur Kandidatin. Aufgrund ihrer Auftritte auf der russisch annektierten Krim, durfte sie aber nach ukrainischer Gesetzgebung nicht nach Kiew reisen. Das Angebot, Samoilowa per Satellit zuzuschalten, lehnte Russland kategorisch ab. Die Nominierung Samoilowas wirkte kalkuliert: Die Entscheidung für sie wurde, wie es seit 2013 Praxis ist, intern im verantwortlichen Fernsehkanal gefällt, man verzichtete auf ein Zuschauer-Voting. Die EBU hatte für den politischen Schlagabtausch auf Kosten des ESC Sanktionen sowohl gegen Russland als auch gegen die Ukraine angemahnt. 
2018 schickte Russland, wie im Vorjahr angekündigt, erneut Julia Samoilowa als Kandidatin ins Rennen. In Lissabon konnte sie mit ihrem englisch gesungenen I Won’t Break aber nicht überzeugen und schied im ESC-Halbfinale aus.

Das spätestens seit der Orangenen Revolution 2005 angespannte Verhältnis Russlands zur Ukraine wirkte sich auf den ESC allerdings auch schon früher aus. So machte sich die Ukrainerin Anastasija Prichodko, die 2009 für Russland ihr Lied Mama/Mamo auf Russisch und Ukrainisch sang, beim russischen Publikum mit nationalistisch-ukrainischen Äußerungen unbeliebt.

https://www.youtube.com/watch?v=fqQwapIxP3U

Der ESC-Sieg der Ukraine 2016 wurde in Russland gleich doppelt kritisch aufgenommen. Schon vor dem Wettbewerb hatte Russland gegen Djamalas Lied 1944 bei der EBU protestiert. In dem Lied geht es um die Deportation der Krimtataren von der Krim im Großen Vaterländischen Krieg, der Liedtext kann aber als Anspielung auf die Krimannexion 2014 verstanden werden.9 Es verstoße gegen die Regeln, da es politisch sei. Die EBU lehnte den Einspruch ab, das Lied enthalte keine politische Botschaft. Wenige Tage nach dem Finale wurden Details über das Abstimmungsverhalten bekanntgegeben und in Russland war man wieder verärgert. Das europäische Publikum hatte den russischen Sänger Sergej Lasarew auf Platz eins gewählt. Weil aber die Expertenjurys den Beitrag wesentlich schlechter bewerteten, landete Russland schließlich hinter der Ukraine und Australien auf Platz drei. 

Wie politisch ist also der ESC? Er verbietet in seinen Regeln explizit politische Äußerungen. Allerdings: Ob offensichtlich oder gefühlt bis eingebildet – politische Überlegungen spielen immer eine Rolle. Politisch ist manchmal auch die Reaktion des internationalen Publikums. So wurden die russischen Tolmatschowa-Zwillingsschwestern beim ESC 2014 in Kopenhagen ausgebuht – was nichts mit ihrem Gesang, aber viel mit der öffentlichen Ablehnung der russischen Annexion der Krim wenige Monate zuvor zu tun hatte. 


1.BBC: Kak "sovetskoe Evrovidenie" proigralo cholodnuju vojnu
2.auf Englisch zitiert in: Jordan, Paul (2014):The Modern Fairy Tale: Nation Branding, National Identity and the Eurovision Song Contest in Estonia, Tartu, S. 30
3.newsmsk.com: Pervij kanal: zatraty na "Evrovidenie" sostavili 40 millionov dollarov
4.Komsomol’skaja Pravda: «Evrovidenie-2017» posle uchoda Rossii poterjaet bol’še 12 millionov zritelej
5.Stychin, Carl F. (2014): Queer/Euro Visions, in: Rosello, Mireille / Dasgupta, Sudeep (Hrsg.): What's Queer about Europe? Productive Encounters and Re-enchanting Paradigms, New York, S. 171-188, hier S. 172
6.Interfax: "Edinuju Rossiju" vozmutila pobeda "borodatogo transvestita" na "Evrovidenii"
7.Auch die deutsche Jury setzte Conchita Wurst übrigens auf Platz elf. Weil das deutsche Publikum sie aber auf Platz eins sah, vergab Deutschland insgesamt acht Punkte an Österreich. 
8.Fluter: Propaganda, Politik, Popmusik
9.Im Interview für The Guardian vor dem Auftritt gab die Sängerin zu, dass das Lied natürlich auch über 2014 ist.

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Derbe Saufkultur, exzessiver Gebrauch tabuisierter Kraftausdrücke und souverän gespielte Mischung aus Ska, Punk-Rock und Chanson – das macht Sergej Schnurow und seine Band Leningrad aus. Eva Binder über den legendären Sänger und Song-Autor, der den Russen beibrachte, über sich selbst zu lachen.

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Das „Yeah, yeah, yeah“ ertönte als Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Als Gegenentwurf zur offiziellen sowjetischen Musikkultur eröffnete die russische Rockmusik eine emotionale Gegenwelt, die systemverändernd wirkte und den Soundtrack einer neuen Zeit bildete.

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