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Putins permanenter Ausnahmezustand

Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt. Zahlreiche russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Schon seit geraumer Zeit stellt die Staatspropaganda Russland als eine „belagerte Festung“ dar: Die ausländischen Feinde hätten auch im Inneren ihre „Agenten“, sie alle zusammen wollen Russland genauso in die Knie zwingen wie schon in den 1990er Jahren, so die Verschwörungserzählung.

Für viele Wissenschaftler bildet diese Erzählung die zentrale Legitimitätsbasis des Systems Putin: Da das Realeinkommen schon seit 2014 sinkt und der sogenannte Krim-Konsens auch an seine Grenzen stößt, bleibe dem Regime nur noch das Feindschema übrig, um sich nach innen zu legitimieren. Um dies fortzuerhalten, müsse der Kreml das Land in einem dauerhaften Ausnahmezustand halten – ein anderer zentraler Begriff aus der politischen Theorie von Carl Schmitt.

In einem kurzen Beitrag auf Facebook beschreibt der Journalist Maxim Trudoljubow die Funktionsweise dieses Ausnahmezustands – und warum er ein integraler Bestandteil des Systems Putin ist.
 

Quelle Social Media

Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.

Er hat mit einem Krieg angefangen (damals in Tschetschenien), und er wird mit einem Krieg aufhören. Wann immer sich der von ihm geschaffene Ausnahmezustand und die Kriegserregung legten und das Leben verdächtig ruhig wurde, verlor er an Unterstützung und zettelte einen neuen Krieg an. Sobald seine Kriege weniger Blut und Leid forderten, setzte er zu einer neuen Runde an. Tschetschenien, Georgien, Ukraine, Syrien, Ukraine.

Putins gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand

In Friedenszeiten konnte er der Gesellschaft nichts geben. Nicht einen einzigen Tag hat er während seiner Regierungszeit den De-facto-Ausnahmezustand ausgesetzt, der für einzelne Bevölkerungsgruppen und Gebiete immer wieder in einen De-facto-Kriegszustand überging.

Putin muss keinen Krieg erklären oder den Ausnahmezustand verhängen, denn seine gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand. Er hat jederzeit Zugang zu sämtlichen Instrumenten der Gewalt, zu sämtlichen administrativen und finanziellen Ressourcen. Er kann Kriege beginnen und Kriege stoppen. Er kann Heilung bringen (indem er während des Direkten Drahts über medizinische Hilfe entscheidet). Er kann aus dem Nichts Dinge erschaffen: ein Haus, eine Brücke, eine Straße dort, wo es vorher keine gab und wo es beim normalen Lauf der Dinge – das heißt, wenn die Gesetze befolgt würden – auch keine geben könnte.

Paradoxerweise würde die Ausrufung des Kriegsrechts oder des Ausnahmezustandes in Russland dem Präsidenten nicht die Hände lösen (die sind sie ihm sowieso nicht gebunden) oder die Verantwortung von ihm nehmen (die liegt sowieso nicht bei ihm, sondern bei sterblichen Beamten), sondern ihm im Gegenteil mehr Verantwortung geben. Er müsste auf die Frage antworten: „Wie, ging es bei diesem ganzen Krieg also nur um Sewerodonezk?“ Er müsste verborgene Möglichkeiten demonstrieren und Ressourcen auffahren, die es nicht gibt. Dieser Krieg legt die geringe Größe und die begrenzten Möglichkeiten des russischen Staates bloß, der in normalen Zeiten größer wirken will, als er ist, indem er die Backen aufbläst. Aber das zuzugeben, käme für Putin dem Tode gleich.

Mal begrenzte Operation, mal Weltkrieg

Dieser unausgesprochene Putinsche Dauer-Ausnahmezustand hilft ihm zu manövrieren. Es wäre für ihn von Nachteil, das als Krieg zu betrachten, weil eine „Spezialoperation“ es ihm erlaubt, die Ziele laufend zu ändern – mal von einer „Entnazifizierung“ der ganzen Ukraine zu sprechen, dann wieder von der Rettung der Bevölkerung im Donbass. Doch wann immer es ihm nützt, gibt er zu verstehen, dass es doch ein Krieg ist, nämlich ein Krieg gegen den gesamten NATO-Block, wie seine Propagandisten stellvertretend für ihn sagen. Auf diesen Krieg kann man alles schieben, er ermöglicht Geheimhaltung, erlaubt es, Ausgaben zu verbergen, Diebstähle, Fehler und sogar die Zahl der Toten zu verschweigen, Vorwürfe wegen wirtschaftlicher Probleme abzuwehren – „das ist alles der Feind!“. Deshalb ist es mal eine begrenzte Operation, mal ein Weltkrieg. Je nach medialer Situation.

Putin wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann

Er wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann. Sobald dieser Krieg vorbei ist – auf die eine oder andere Weise –, geht auch Putin zugrunde. Möge mit ihm nur auch der permanente Krieg zugrunde gehen.

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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

Am 22. Oktober 2015 meldete das 1987 gegründete staatliche Umfrageinstitut WZIOM1 erneut einen Rekordwert von 89,9 Prozent Zustimmung für Präsident Wladimir Putin. Seit der Angliederung der Krim im Frühling 2014 war der Zustimmungswert nach langjährigem Tief zwischen 60 und 70 Prozent wieder auf über 80 Prozent angeschwollen. Als Begründung für das Oktoberhoch nannte WZIOM das russische Eingreifen in Syrien. Schwankungen im Präsidentenrating und deren mögliche Ursachen lassen sich am besten mit Rückgriff auf russische und internationale Meinungsforschung erklären, die seit 1990 die Zustimmung zu sowjetischen und russischen Präsidenten analysiert.

Auffällig ist, wie unterschiedlich die Präsidenten Jelzin in den 1990ern und Putin in den 2000ern von der Bevölkerung bewertet werden. Fand Jelzin im September 1991 noch bei 81 Prozent der Bevölkerung Zustimmung, so waren es am Ende seiner Amtszeit gerade einmal 8 Prozent, vor den Präsidentschaftswahlen 1996 lagen seine Werte lange unter denen des Kommunisten Gennadi Sjuganow. Noch als Premier hatte Wladimir Putin im August 1999 eine Zustimmung von 31 Prozent, im Januar 2000 als designierter Jelzin-Nachfolger waren es schon 84 Prozent. Seitdem liegen Putins Werte dauerhaft über 60 Prozent. Bemerkenswert ist zudem, dass er von 2008 bis 2012 selbst als Premierminister mehr Zustimmung erfuhr als der amtierende Präsident Dimitri Medwedew.

Grafik 1: Zustimmungswerte und Bewertung von Boris Jelzin (1993 - 1999) und Wladimir Putin (2000 - 2008) nach einem Datensatz von Daniel Treisman.2

Vor Präsidentschaftswahlen nahmen die Zustimmungswerte von Putin und Medwedew zu – nicht zuletzt durch Einsatz von Administrativer Ressource (siehe auch Polittechnologie) soll potentiellen Gegeneliten Macht demonstriert und unzufriedenen Bevölkerungsgruppen signalisiert werden, dass Proteste gegen Wahlfälschungen fruchtlos sind.3 Die Versessenheit Putins auf Zustimmungswerte wurde deswegen auch als Ratingokratie4 bezeichnet, was durchaus populistische Gesten gegenüber der Bevölkerung mit einschließt. Zudem können außergewöhnliche Ereignisse wie die Geiselnahme im Dubrowka-Theater 2002 oder der Georgienkrieg 2008 zu Höchstständen führen. Die Zustimmung kann aber auch zeitweilig einbrechen, so etwa 2005, als einige Sozialleistungen in einen Geldwert umgerechnet wurden, oder bei den Bolotnaja-Protesten 2011.

Grafik 2: Zustimmungswerte von Wladimir Putin und Dimitri Medwedew 1999 - 2015, Zusammenstellung nach Daten des Lewada-Zentrums.5

Forschungsergebnisse legen nahe, dass das Präsidentenrating stark von wirtschaftlichen Faktoren abhängt, genauer: davon, wie die russischen Bürger die Zukunftsperspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung wahrnehmen. Dabei scheint die Wahrnehmung der Volkswirtschaft als ganzer wichtiger zu sein als die der Entwicklung der eigenen Finanzen.6 Auch der Personenkult und das Phänomen Putin sind keineswegs dem entkleideten Torso des langjährigen Staatsoberhaupts zu verdanken. Vielmehr bringen Russen, die die Entwicklung der russischen Wirtschaft als positiv einschätzen, dieses Wachstum mit der Person Putin in Verbindung.7 Mit einem komplexen statistischen Verfahren kommt Daniel Treisman zu dem Schluss, dass Jelzin mit den Wirtschaftsdaten der Putinjahre einen positiven Trend bei der Zustimmung aufgewiesen hätte und 1999 auf einer Zehnpunkteskala anstatt mit zwei gar mit einer acht bewertet worden wäre.8

Konsequenterweise sanken mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nach 2008 auch die Zustimmungswerte von Putin und Medwedew, und zwar bei allen sozialen Gruppen. Insbesondere die kreative Klasse, Frauen, Wohlhabende und Einwohner von Kleinstädten machten Wladimir Putin persönlich verantwortlich.9 Bei ihnen verlor Putin am stärksten an Unterstützung. Die Bedeutung der Angliederung der Krim und des Ukraine-Konflikts sowie der Syrienkrise ist wohl darin zu sehen, dass das Präsidentenrating bis auf weiteres von der Wahrnehmung der Wirtschaft entkoppelt (siehe auch Gesellschaftsvertrag) und auf die Außenpolitik umgepolt wurde. Der Leiter des Lewada-Zentrums Lew Gudkow meint, dass ideologische Elemente wie Neotraditionalismus, geopolitische Denkmuster, die Einheit der Nation, Anti-Westernismus verbunden mit dem Glauben, dass es eine Verschwörung gegen Russland gebe, derzeit das hohe Rating von Putin begründen.10

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die befragten Bürger bei Meinungsumfragen wahrheitsgemäß ihre Präferenzen angeben und Putin tatsächlich populär ist.11 Dennoch kommt es in Russland, wie auch in vergleichbaren autoritären Regimen, durch Einschränkung der Medienfreiheit, der bewusst forcierten „Alternativlosigkeit“ Putins als Präsident sowie durch gezielte Repressionen gegen öffentlich sichtbare Andersdenkende bei medialen Meinungsführern zu sogenannten Präferenzfalsifikationen12. Dies bedeutet, dass öffentlich und privat geäußerte Ansichten dieser Meinungsmacher auseinanderklaffen, also öffentlich eine positive Meinung geäußert wird, auch wenn die Personen im Privaten vom Gegenteil überzeugt sind. Dies kann sich auch in den tatsächlichen Ansichten der breiten Bevölkerung niederschlagen.

Zuletzt ist anzumerken, dass die Höhe der Zustimmungswerte nichts über Tiefe und Dauerhaftigkeit der Zustimmung aussagt. Hohe Präsidentenratings gehen durchaus auch mit einer kritischen Bewertung der Lage im Land einher: Die Liste der Antworten auf die Frage, in welchem Bereich Putin am wenigsten erfolgreich war, führen Antikorruptionsmaßnahmen, die Verbesserung des Lebensstandards, Einschränkung des Einflusses von Oligarchen und Verbrechensbekämpfung an.13 Zudem erzeugen Rekordwerte bei der Zustimmung auch Druck auf den Präsidenten, da jedes noch so kleine Wiederabsinken den Eliten und der Bevölkerung Schwäche signalisiert.


Mehr dazu: Das Präsidentenrating für Wladimir Putin als interaktive Infografik

1.Wciom.ru: Press vypusk No.2958
2.Treisman, Daniel (2011): Presidential popularity in a hybrid regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science 55(3), S. 590-609
3.Hale, Henry E. (2014): Patronal Politics: Eurasian Regime Dynamics in Comparative Perspective, Cambridge University Press, S. 74f.
4.Russkij Žurnal: Konec rejtingokratii
5.Levada.ru: Assessment of situation in the country
6.Treisman, D. (2011): Presidential popularity in a hybrid regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55(3), S. 590-609 und Rose, R. / Mishler, W. / Munro, N. (2011): Popular support for an undemocratic regime: The changing views of Russians. Cambridge University Press
7.White, S. / McAllister, I. (2008): The Putin Phenomenon, in: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 24(4), S. 604-628; Rose, R. (2007): The impact of president putin on popular support for Russia's regime, in: Post-Soviet Affairs, 23(2), S. 97-117
8.Wichtig anzumerken ist, dass Treisman dabei die Wirtschaftsleistung nicht den jeweiligen Präsidenten zuschreibt, sondern jeweils als „geerbt“ betrachtet: Jelzin erbte eine kollabierende Wirtschaft von der Sowjetunion, und Putin profitierte vom Ölpreisboom.
9.Treisman, D. (2014): Putin's popularity since 2010: why did support for the Kremlin plunge, then stabilize? In: Post-Soviet Affairs, 30(5), S. 370-388
10.Gudkov, L. (2015): Antiamerikanismus in Putins Russland: Schichten, Spezifika, Funktionen, in: Osteuropa 4/2015, S. 73–97
11.Frye, T, Gehlbach, S. / Reuter, O.J. (2015): Is Putin’s popularity real? In: Ponars Eurasia Policy, Memo 403
12.Institute of Modern Russia: Timur Kuran: 'An Atmosphere of Repression Leads to Preference Falsification Among Opinion Leaders'
13.Daten des Lewada-Zentrums
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Der Premierminister oder Ministerpräsident ist nach dem Präsidenten die zweite Amtsperson im russischen Staat. Er ist vor allem für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich.

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Rokirowka - zu Deutsch Rochade - ist ein aus dem Schach entlehnter Begriff, der im russischen politischen Diskurs einen Ämtertausch meint, genauer die Rückkehr Wladimir Putins in das Präsidentenamt 2012 nach der Interimspräsidentschaft von Dimitri Medwedew (2008-2012).

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Kurz vor der Dumawahl 2016 war es soweit: Das Lewada-Zentrum, das als das einzige unabhängige Meinungsforschungsinstitut Russlands gilt, wurde als ausländischer Agent registriert. Dem international renommierten Institut droht nun die Schließung. Weshalb das Lewada-Zentrum den russischen Behörden schon seit Jahren offenbar ein Dorn im Auge ist, erklärt Eduard Klein.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)