Die Stiftung Nushna pomoschtsch (dt.: Hilfe gesucht) war die größte nichtstaatliche Hilfsorganisation in Russland. Ihren Ursprung nahm die Organisation nach einer Flutkatastrophe in Südrussland im Juli 2012: Nach heftigen Regenfällen kam es damals zu Überschwemmungen und Erdrutschen in Krymsk im Gebiet Krasnodar. Mehr als 4000 Menschen kamen ums Leben. Weil die Hilfe durch staatliche Institutionen nur schleppend anlief, organisierten Bürgerinnen und Bürger in Moskau und anderen Großstädten Hilfstransporte. Sie konnten dabei auf Strukturen zurückgreifen, die im Protestwinter 2011/2012 gewachsen waren, als Hunderttausende gegen den Ämtertausch zwischen Dimitri Medwedew und Wladimir Putin auf die Straßen gingen. Die Netzwerke aus dem Protestwinter und die Reichweite in Social Media halfen jetzt, schnelle Hilfe in einer Situation zu organisieren, in der der Staat seinen Aufgaben nicht nachkam. Eine Besonderheit war, dass bei der Organisation der Krymsk-Hilfe Aktivistinnen und Aktivisten aus der Protestbewegung und Vertreterinnen und Vertreter Kreml-freundlicher Jugendorganisationen punktuell zusammenarbeiteten.
Eine zentrale Rolle spielte damals der Moskauer Fotograf und Aktivist Mitja Aleschkowski. Aus der Erfahrung mit der Krymsk-Hilfe entwickelte er Nushna pomoschtsch. Ziel der Initiative war es, soziale Projekte dabei zu unterstützen, professioneller zu arbeiten. Dazu gehörten Fortbildungen zu Fundraising, Workshops zu wirksamer sozialer Arbeit, zu Transparenz und dazu, sich im Dschungel russischer Gesetze zurechtzufinden. Nushna pomoschtsch entwickelte zugleich eine Art Gütesiegel für private und zivilgesellschaftliche Initiativen: Einer Initiative, die von Nushna pomoschtsch empfohlen wurde, konnte man vertrauen.
Als Nebenprojekt entstand das Online-Medium Takie Dela, das über soziale Themen in allen Regionen des Landes berichtet und Spenden für die vorgestellten Projekte sammelt. Bis 2024 sammelte Nushna pomoschtsch nach eigenen Angaben mehr als zwei Milliarden Rubel (heute etwa 19 Millionen Euro) an Spenden. Damit wurden Hunderte, meist kleine Initiativen unterstützt.
Am 7. August 2024 gab Nushna pomoschtsch ihre Schließung bekannt. Im März hatte das Justizministerium die Organisation als „ausländischen Agenten“ eingestuft. Das toxische Label macht eine Zusammenarbeit mit der Stiftung für andere zur Gefahr. Meduza fasst zusammen, was das Ende von Nushna pomoschtsch für den sozialen Bereich und für die Bedürftigen in Russland bedeutet.
Im Juli 2012 sammelten Freiwillige in Moskau Hilfsgüter für die Bewohner der überfluteten Stadt Krymsk. Viele hatten vorher an Protesten teilgenommen. Soziales Engagement schien eine Möglichkeit zu sein, jenseits der Politik etwas zum Besseren zu verändern / Foto © ITAR-TASS Imago
Die Nachricht ist für den Sozialbereich in Russland niederschmetternd. Besonders stark sind kleinere Stiftungen betroffen. Die Stiftung Nushna pomoschtsch ist 2015 zu einer eigenständigen Organisation geworden. Sie leistete selbst keine konkrete Hilfe für Bedürftige, was in jener Zeit eine Seltenheit war. Stattdessen unterstützte sie nichtkommerzielle Organisationen (im Weiteren: NGOs) in ganz Russland dabei, effektiver zu arbeiten und Spenden zu akquirieren. Theoretisch können Stiftungen auch selbst die Erstellung von Rechenschaftsberichten, das Etablieren von Prozessen, das Akquirieren neuer Spenderinnen und Spender und die Ausbildung von Mitarbeitern übernehmen. Doch das ist alles schwer zu organisieren, insbesondere, wenn es sich um eine kleine NGO handelt, die kaum über genügend Ressourcen verfügen. Daher musste eine Stiftung, die bei all diesen Fragen hilft, schnell und unweigerlich zu einer der wichtigsten Strukturen für den Sozialbereich in Russland werden. Die Stiftung Nushna pomoschtsch unterstützt nicht nur bei Verwaltungsfragen, sondern setzte auch Qualitätsstandards und half Organisationen dabei, neue Gruppen von Spendern zu erschließen.
Die Stiftung bewertete die Transparenz russischer NGOs und führte eine Liste jener Organisationen, die sauber arbeiten. Das war eines der wenigen Verzeichnisse, denen man vertrauen konnte.
Die Stiftung unterstützte NGOs mit Infrastruktur. Dabei handelte es sich um IT-Dienstleistungen zur Analyse von Spendenstatistiken und zur Berichterstattung gegenüber Förderern. Darüber hinaus bot die Stiftung Online-Schulungen an, die NGOs dabei unterstützten, die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter zu erhöhen (mit der Ausbildung von Menschen, die im Nonprofit-Bereich arbeiten wollen, gibt es nach wie vor große Probleme). Die Stiftung verfügte auch über ein gleichnamiges Medium zu karitativer Arbeit, eine Forschungsabteilung zum Nonprofit-Sektor und eine Plattform, mit deren Hilfe jedermann eine Initiative empfehlen oder Bekannten vorschlagen konnte, Geld an eine Stiftung zu überweisen. Das alles brauchen NGOs. Theoretisch können sie das auch selbst machen, doch zweifellos dürften nur wenige die Ressourcen dafür haben.
Die Stiftung half Hunderten NGOs, ein zuvor nur schwer zugängliches Publikum zu erreichen und die Zahl der Zuwendungen zu erhöhen. Nushna pomoschtsch hat Aktionen durchgeführt, durch die Spendensammlungen unterstützt wurden, darunter auch regelmäßige Spenden. Selbst weniger bekannten NGOs wurde so geholfen. Es gab zum Beispiel die Aktion Ein Rubel am Tag, bei der man eine ganz kleine Dauerspende einrichten konnte („Ein Rubel am Tag ist viel, wenn wir viele sind“). Oder die Aktion Einer für alle, deren Sinn darin bestand, dass man nicht eine einzelne NGO auswählte, der das Geld zugutekam, sondern die allgemeine Richtung der Hilfe (für Tiere, Kinder, die Natur…); die Spende wurde dann zwischen denjenigen NGOs aufgeteilt, die in diesem Bereich tätig sind. Laut Angaben der Stiftung wurden in all den Jahren über zwei Milliarden Rubel gesammelt.
Seit Kriegsbeginn sind die Spenden stark zurückgegangen
2023 wurde Jelisaweta Wassina Direktorin von Nushna pomoschtsch. Sie hat im Oktober des gleichen Jahres in einem Interview von den Plänen der Organisation erzählt:
„Einer der Orientierungspunkte ist jetzt die Begleitung von NGOs. Wenn wir uns früher eher der Überprüfung von Stiftungen gewidmet haben, so geht unsere Arbeit jetzt dahin, sie bei der Weiterentwicklung zu unterstützen.
Darüber hinaus ist unser Ziel, bereits bestehende Produkte und Angebote bekannter zu machen und den NGOs zu helfen, sie einzusetzen. So vermitteln wir NGOs, wie Freiwillige Fundraising betreiben können, indem unsere Plattform Polsujas slutschajem [dt. Bei der Gelegenheit] behilflich sein kann, mehr Mittel für ihre Klientel zu sammeln. […]
Jetzt arbeiten wir erfolgreich mit Dienstleistungen für Unternehmen. Wir helfen ihnen, Sozialprogramme aufzulegen und Aktionen zu starten. Hier ergibt sich ein dreifacher Effekt: Wir selbst verdienen als Berater, die Unternehmen können ihren Mitarbeitern oder Kunden verschiedene soziale Aktionen vorschlagen. Und die NGOs bekommen die Gelegenheit, Unterstützung durch große Unternehmen zu erhalten. Wir planen aktuell, ein Projekt für den Einzelhandel zu entwerfen. Wir wollen dort helfen, Discounts und Prämienpunkte in Spenden umzuwandeln.“
Nach Beginn des Krieges sind die Spenden stark zurückgegangen. Nushna pomoschtsch weigerte sich, die Armee zu unterstützen, und einige der Mitarbeiter unterzeichneten einen Brief gegen den Krieg.
„2023 war für den Nonprofit-Bereich ein Jahr der Stagnation; diese hatte bereits 2022 eingesetzt. Einige Gebiete der sozialen Arbeit erlebten eine Krise, die durch äußere Faktoren ausgelöst wurde“, schrieb Nushna pomoschtsch in ihrer Spendenanalyse über 2023.
Um ihre Arbeit fortzuführen, kürzte die Stiftung ihre Ausgaben. Unter anderem wurde die zusätzliche Krankenversicherung für die Mitarbeiter gestrichen. Den Partner-Stiftungen werden die Gebühren für Zahlungssysteme nicht länger erstattet.
Ein Teil der Projekte musste aus der Stiftung ausgegliedert werden:
Das Publikationsprogramm Jest smysl [dt. Es hat Sinn] hatte in der Vergangenheit eine Vielzahl von Büchern über karitative Arbeit und soziale Probleme veröffentlicht. Nach dem Finanzierungsstopp durch die Stiftung erschienen einige Bücher gemeinsam mit einem anderen Verlag.
Der Marktplatz, auf dem NGOs ihre Merchandising-Artikel verkauften, wurde geschlossen.
Das Online-Medium Takie Dela trennte sich von Nushna pomoschtsch.
Das Projekt Jesli byt totschnym [dt. Um genau zu sein], das offen zugängliche Daten zu sozialen Problemen sammelt und analysiert, arbeitet jetzt ebenfalls eigenständig und mit Hilfe selbst gesammelter Spenden weiter.
Die Stiftung weigert sich, Geld für militärische Zwecke zu sammeln. Im Frühjahr wurde sie als „ausländischer Agent“ eingestuft
Nach Beginn des großangelegten Kriegs gegen die Ukraine unterschrieben 470 NGOs einen Brief gegen den Krieg (die Unterschriftensammlung wurde am 4. März wegen der Einführung von Zensur und repressiver Gesetze gestoppt). Zu den Unterzeichnenden gehörten auch einige Mitarbeiter der Stiftung Nushna pomoschtsch, unter anderem deren damalige Direktorin Sofja Shukowa. Sie hat diesen Schritt in einem Interview mit Meduza im November 2022 folgendermaßen kommentiert:
„Ich bedaure kein bisschen – nicht eine Sekunde! – dass ich unterschrieben habe. Ich denke, ich habe richtig gehandelt: Das ist die Position von Sofja Shukowa! Ich habe vollends das Recht darauf, und dieses Recht habe ich deutlich gemacht. Was hat sich für uns verändert? In diesem Jahr wurde uns drei Mal nahegelegt, meine Unterschrift unter den Brief zurückzuziehen. Das haben wir nicht getan.“
„Wer hat Ihnen das nahegelegt?“
„Ein hervorragender Mensch, ich werde den Namen nicht nennen. Das war die Bedingung dafür, dass wir bekannter, populärer werden können. Damit wir die Zahl der Kontakte und Spender zurückholen können. Ich bin von dem begeistert, was von diesen Leuten für den Nonprofit-Bereich getan wurde [die forderten, die Unterschrift zurückzuziehen]. Die haben gerade selbst ihre eigenen Probleme. Kurz gesagt, wir haben es nicht gemacht.
Wir haben bei den letzten Ausschreibungen keine Fördermittel bekommen. Ob das an den Unterschriften unter dem Brief liegt? Das kann ich nicht sagen. Ich vermute aber, es hängt damit zusammen. Ich meine, unsere Mitarbeiter haben gute Anträge geschrieben. Und ich kann garantiert sagen, dass in 90 Prozent der Fälle NGOs, die mit den Behörden zusammenarbeiten und Fördermittel erhielten [auch nach Kriegsbeginn – Meduza], keine Briefe unterschrieben haben. Ich weiß aber auch von Organisationen, die einen Brief gegen den Krieg unterschrieben haben und Fördermittel erhielten.“
Die Haltung der Stiftung bestand grundsätzlich darin, kein Geld für Waffen und andere militärische Zwecke zu sammeln: „Es gibt NGOs, die soziale Probleme lösen wollen. Für die Sicherheit des Landes zu sorgen, ist die Aufgabe des Staates“, heißt es auf der Internetseite der Stiftung.
Andere NGOs fürchten, ebenfalls als „ausländische Agenten“ eingestuft zu werden. Also beendeten sie die Zusammenarbeit mit Nushna pomoschtsch
2024 wurde die Stiftung zum „ausländischen Agenten“ erklärt, worauf sie geschlossen wurde.
„Eines der Projekte, das unserer Prüfung nicht standhielt, schwärzte uns 2023 an“, schreibt die ehemalige Direktorin Sofja Shukowa. „Ich denke, das ist einer der Gründe, warum das Justizministerium auf uns aufmerksam wurde. In dem Beschluss stand geschrieben, dass wir ausländische Agenten seien, weil wir Studien zu professioneller karitativer Arbeit durchführen, oder weil wir ausländische Agenten unterstützen, was grundsätzlich nicht verboten ist.“
In dem Augenblick, als die Stiftung als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde, gab es auf der Liste von ihr verifizierter NGOs 787 Organisationen. Fünf Monate später, im August 2024, waren es nur noch 385. Obwohl die Zusammenarbeit mit einer zum „ausländischen Agenten“ erklärten Stiftung legal ist, kann sie unerwünschte Folgen haben. Unter anderem den Status eines „ausländischen Agenten“. Deshalb nahmen NGOs Abstand von einer Zusammenarbeit mit Nushna pomoschtsch. Das Gleiche galt für Förderer. Die Tinkoff–Bank [seit Juni 2024: T-Bank – dek.] stoppte die Möglichkeit, Cashback-Zahlungen in Spenden zugunsten der Stiftung umzumünzen.
Die Organisation versuchte, mit Hilfe der Aktion „Nushna pomoschtsch braucht Hilfe“ Gelder zu sammeln. Das gelang jedoch nicht. Seit März 2024 sind die Spenden von monatlich 28 Millionen Rubel bis Juni dieses Jahres auf 2,6 Millionen Rubel zurückgegangen.
Eine neue Organisation soll die Arbeit fortsetzen
Der diskriminierende Status brachte eine Vielzahl offizieller Beschränkungen für die Arbeit mit sich. Vor allem die Rechenschaftslegung ist erheblich komplizierter geworden. Das Risiko von Geldstrafen wächst, und auf staatliche Förderung ist nicht zu hoffen.
Schließlich beschloss der Stiftungsrat von Nushna pomoschtsch, dass die Organisation geschlossen werden müsse. Das wurde am 7. August 2024 bekannt gegeben. Tatsächlich war die Entscheidung den Worten der ehemaligen Direktorin Sofja Shukowa zufolge bereits einen Monat früher gefallen: In einem Rundschreiben an Geldgeber wurde das allerdings recht nebulös formuliert. In dem Schreiben wurde mitgeteilt, dass Spenden an Stiftungen jetzt über die neue Stiftung Prodolshenije (dt.: Fortsetzung) abgewickelt werden, die ihre Tätigkeit im Juni 2024 aufnahm. Prodolshenije plant, eine Verifizierung von NGOs vorzunehmen (was bereits bei 400 NGOs geschehen ist) und dann deren Arbeit zu unterstützen. Ein Teil des Teams von Nushna pomoschtsch wird dort weitermachen.