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Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

Michail Gorbatschow hat in Russland einen denkbar schlechten Ruf. In breiten Kreisen der Bevölkerung gilt er als verantwortlich für den Untergang des sowjetischen Imperiums, eine Einschätzung, die von der derzeitigen Staatsführung durchaus bewusst weiter kultiviert wird.

Anlässlich von Gorbatschows 85. Geburtstag im März 2016 führte das staatliche Meinungsforschungsinstituts WZIOM eine Umfrage durch. Sie ergab, dass zwar 46 Prozent der Befragten einräumten, Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber auch 47 Prozent der Ansicht sind, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinen sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.

Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Stimmung in Russland sind diejenigen Stimmen umso bemerkenswerter, die entgegen dem Mainstream auch die positiven Aspekte seiner liberalisierenden und auf Rechtsstaatlichkeit zielenden Politik würdigen. Zu ihnen gehört der langjährige Kulturredakteur der Zeitschrift Ogonjok (seit 2009: Kommersant-Ogonjok), Andrej Archangelski, dessen letzte Woche auf Slon erschienenen Artikel wir hier wiedergeben. Archangelski, geboren 1974, ist selbst in den Gorbatschow-Jahren in Moskau aufgewachsen und liefert hier ein sehr leidenschaftliches, sehr persönliches Statement zu einem Politiker, der, wie er sagt, seine „Seele gerettet“ hat.

Quelle slon

Wenn es um Gorbatschow geht, sagen Leute, die ihn ablehnen, meist: „Was hat er uns denn schon gegeben, euer Gorbatschow?“ Die Frage ist rhetorisch, gemeint ist – dass nichts.

Als Äußerung ist das sehr aufschlussreich, das wichtigste Wort hier lautet: „gegeben“. In der durch und durch materialistischen Konstruktion der Frage „Was hast du mir gegeben?“ wird die Liebe zum Staatsoberhaupt als Menge der von ihm gebotenen materiellen Güter gemessen: Er hat den Menschen separate Wohnungen gegeben, zum Beispiel, oder hat uns billigen Wodka gegeben. Und mag diese Frage auch rhetorisch sein, zum Jubiläum Gorbatschows, der 85 geworden ist, kann man versuchen, sie zu beantworten.    

Das Erste und Wichtigste: Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen. Ich bin ein typisches Produkt der Perestroika; als sie begann, war ich in der vierten Klasse. In Mathematik war ich schlecht, die Regeln des Lebens in der Sowjetunion beherrschte ich aber schon gut. Zum Beispiel, dass man nicht nur für Wissen gute Noten bekam, sondern auch dafür, der Lehrerin brav nach dem Mund zu reden. Die vierte, fünfte sowjetische Generation hatte die Fähigkeit „sich im Leben einzurichten“ bereits im Blut, das war ein Instinkt, alle sagten von klein auf ja, waren einverstanden, nickten. In all dem lag eine unerklärliche Trostlosigkeit, doch grundsätzlich war klar: So ist es eben. Punkt.

Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen.

Man musste lernen, seine Gedanken zu verbergen, sich zu verstellen, nicht aufzufallen, Loyalität zu demonstrieren. Auf der Straße das eine sagen, in der Schule was anderes, zu Hause was Drittes – kurz, ein Doppelleben zu führen, wie jedermann. Und da kam Gorbatschow und rettete mich (und viele andere) vor diesem Zwang zur permanenten Heuchelei. Man konnte natürlich weiterhin lügen, doch ab jetzt hatte man die Wahl: Jetzt konnte man auch NICHT lügen. Lügen war nicht mehr lebensnotwendig. Und mehr noch, die Wahrheit zu sagen lohnte sich nun, wenn man das so zynisch ausdrücken will: Nicht die Ähnlichkeit mit anderen, sondern die Andersartigkeit wurde zur Erfolgsgarantie.

Heutzutage ist es schwierig, das zu erklären, aber die Perestroika hat eine enorme menschliche Energie freigesetzt, Millionen verschiedener Talente entfesselt und die Entwicklung von Stärken möglich gemacht. Die fünf Jahre Perestroika waren wie ein ewiger Frühling der Gedanken und Gefühle, fast ein Karneval, in der Tat eine glückliche Zeit: Wenn der Wunsch, nicht zu lügen, nicht nur nicht bestraft, sondern sogar – im Gegenteil – vom Staat gefördert wird.

In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher.

Auch der soziale Erfolg hatte zu tun mit der Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, beziehungsweise einfach das, was man dachte. Deswegen bin ich Gorbatschow verbunden was meine Fähigkeiten, meine Berufswahl und meine Karriere angeht. Vor allem aber hat er mich und Millionen anderer vor einer doppelten inneren Buchhaltung bewahrt, vor moralischer Zersplitterung und Zerstörung. Er hat meine Seele gerettet – das scheint mir keine Übertreibung zu sein. Man kann lang und breit darüber reden, dass solche Dinge nicht vom Staat abhängen, aber das stimmt nicht: In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher. Auch jetzt spüren die Kinder ganz genau, wie man sich verhalten muss, um Erfolg zu haben. Die Kinder der Perestroika hatten mit dem Staat Glück wie keine andere Generation – im Grunde verlief ihr gesamtes bewusstes Leben „in Freiheit“, damit war in Russland selten eine Generation gesegnet.

In Freiheit, die in Russland gern präzisiert wird: „Freiheit wozu?“, „Freiheit wovon?“ – die aber einfach nur bedeutet: die Möglichkeit zu haben, nicht zu lügen.

In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen.

Noch etwas, was Gorbatschow uns gegeben hat: Er hat den Menschen die Sprache zurückgegeben. Hat den Menschen die Kommunikation wiedergegeben, die Möglichkeit, sich frei zu unterhalten. In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen. Die Sprache des Verschweigens, die Kultur des Verheimlichens war bis zum Jahr 1980 so weit gekommen, dass man mit der offiziellen Sprache, mit der Sprache der Zeitung Prawda nicht einmal die einfachsten Gedanken ausdrücken konnte. Die sowjetische Sprache hatte einen gigantischen Zerfallsprozess erlebt. Das, was bis 1985 gesprochen wurde, war kein Gedankenaustausch, sondern ein Ritual, eine Wiederholung, eine Tautologie, die völlig sinnlos wurde.  

Es ist eine erstaunliche Leistung des Totalitarismus, wenn das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich die Sprache, den Menschen stört, anstatt ihm zu helfen. „Schweigen ist Gold“, bekam man bei uns auf Schritt und Tritt zu hören, und das Schweigen wurde zur einzigen ehrlichen Form der Kommunikation. Genau dasselbe geschieht mit der Sprache jetzt wieder. Der Ausdruck „ich habe dich gehört“ ist ein deutliches Indiz dafür, dass diese Stummheit zurückkehrt – Schweigen als Form der Kommunikation.    

Bei Hannah Arendt findet sich folgende Beobachtung über Menschen in Deutschland in den 1930ern, die gegen den Totalitarismus immun geblieben waren. Arendt stellt die Frage: Worin unterschieden sich diese Menschen von der Mehrheit? Sie kommt zu dem Schluss, dass etwa hohe Kultiviertheit oder Bildung dabei überhaupt keine Rolle spielen. Die Fähigkeit zum Widerstand haben sich nur Menschen einer bestimmten psychischen Wesensart bewahrt, stellt Arendt fest, jene, die es gewohnt waren, einen ständigen inneren Dialog mit ihrem zweiten Ich zu führen, oder, vereinfacht gesagt, mit ihrem Gewissen. Menschen, die es gewohnt sind, jede ihrer Handlungen mit ihrem inneren Kammerton abzustimmen, können nicht gegen ihn agieren – einfach weil sie damit nicht weiter leben könnten, ihr Gewissen würde sie quälen. Der Jammer ist, so Arendt, dass für die meisten Menschen dieser innere Dialog nichts Unumgängliches ist, beziehungsweise dass sie diese zur Notwendigkeit gewordene Gewohnheit einfach nicht besitzen.    

Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht.

Die Perestroika – das waren Gespräche, klar, aber das Wichtigste war, dass Gorbatschow das innere Gespräch des Menschen mit sich selbst in Schwung brachte. Gorbatschow gab also den Leuten ihr inneres zweites Ich zurück, ihr Gewissen – beziehungsweise nicht das Gewissen selbst, sondern die Möglichkeit, nach dem Gewissen zu entscheiden.   

Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht; dabei genießen ausnahmslos alle heutzutage ihre materiellen Vorteile, ihre wirtschaftlichen Folgeerscheinungen: den freien Markt, den Austausch von Waren, die Reisefreiheit. Nein, etwas Materielles hat uns Gorbatschow wirklich nicht gegeben, keine Lebensmittelprämien oder Wohnungen. Aber so ein „Geben“ ist selbst eine zwiespältige Sache: Denn Materielles, das gegeben wird, kann auch weggenommen werden. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, das ist ungefähr das Schema, nach dem das Leben heute in Russland wieder läuft. Doch was Gorbatschow uns gegeben hat, kann uns niemand nehmen. Weil es eben keine Sache ist.  

Man kann nicht mal sagen, dass er uns „die Freiheit gab“ – das wäre geradezu beleidigend, Freiheit kann man jemandem nicht geben wie einen Rubel, wir haben sie selbst errungen. Doch Gorbatschow hat die Bedingungen dafür geschaffen, vom Leben das Beste zu nehmen und nicht das Schlechteste. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, in einem volleren Sinne zu Menschen zu werden, und jeder machte daraus, was seinen Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Dass wir dieses offene Fenster zur Freiheit nicht umfassend genutzt haben (wann wird es wohl das nächste Mal offenstehen?), ist wahr. Aber dennoch haben die Menschen, die die neuen Regeln angenommen haben, das Verhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit in Russland grundlegend verändert. Freiheit, das sind jetzt nicht mehr zwei Dutzend in Küchen sitzende Dissidenten, Freiheit ist das Gut von Millionen Menschen geworden. Und diese Menschen nehmen an scheinbar zwecklosen Protestmärschen teil, gehen als Wahlbeobachter in Stimmlokale und wechseln auf der Brücke, auf der Nemzow ermordet wurde, täglich das Wasser in den Blumenvasen.

Gorbatschow hat die Sozialstruktur Russlands verändert, 15 Prozent des Landes (jene, die nicht zu den 85 Prozent1 gehören) – das ist trotz allem schon näher an einem Normalzustand als die sieben Personen, die 1968 auf dem Roten Platz waren. Gorbatschow ist es gelungen, eine Art fragile Balance zu erzeugen, mehr solche Menschen hervorzubringen, denen der innere Dialog mit ihrem zweiten Ich wichtiger ist als der Monolog der Propaganda. Und dank der Energie von vor 30 Jahren sind sie weiterhin da, und möglicherweise hat auch Gorbatschow es dieser Energie zu verdanken, dass er in seinem 86. Lebensjahr steht. Großartige Sache, kann ich nur empfehlen.


1.Gemeint ist die in Umfragen erhobene Zustimmung zur Tätigkeit des Präsidenten oder der Regierung. Wladimir Putin verzeichnet durchgängig Zustimmungswerte von über 60 %, seit Beginn der Ukraine-Krise liegt diese Zahl um 85 %.
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Auflösung der Sowjetunion

Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik.

Bereits in den ausgehenden 1980er Jahren kündigten sich zentrifugale Tendenzen in der UdSSR an. Es gründeten sich zahlreiche protopolitische Vereinigungen, die das Machtmonopol der KPdSU herausforderten. Offenes Reden über Probleme wie das Warendefizit, die Bürokratie oder die ideologische Bevormundung entzogen der KPdSU zunehmend die Legitimation. Die Krise des Staates wurde noch verstärkt durch das unablässige Wettrüsten mit den USA, das die Ressourcen der UdSSR verschlang. Die Wirtschaft des Landes konnte mit den Ansprüchen der Bevölkerung nicht mehr mithalten. In dieser Zeit wurden auch die Forderungen nach mehr Selbständigkeit der Republiken zunehmend radikaler. Einigen Historikern zufolge war es diese Krise, die das Land zu Fall brachte. Andere Historiker widersprechen dieser These: Es war die Perestroika Gorbatschows – ein letzter, jedoch erfolgloser Versuch der Erneuerung – , die ihrer Ansicht nach dem Staat entscheidend zusetzte: Mit der Schwächung der Partei, die in der Politik der Perestroika angelegt war, griff Gorbatschow die Grundlage der eigenen Macht an.

Einen Präzedenzfall schuf Estland am 16. November 1988. Noch vor den ersten halbfreien Wahlen zum Volksdeputierten-Kongress der UdSSR, proklamierte der Oberste Rat der Estnischen SSR die Souveränität der Republik. Im nächsten Jahr folgten Litauen und Lettland. Diese Souveränitätserklärungen bedeuteten jedoch noch nicht den Austritt aus der Sowjetunion, sondern lediglich den Vorrang der eigenen Gesetze gegenüber der unionsweiten Gesetzgebung.

Im Laufe des Jahres 1990 erklärten alle Republiken außer Armenien ihre Souveränität. Den nächsten Schritt machten im selben Jahr die drei baltischen Republiken – Litauen, Lettland  und Estland – als ihre Obersten Räte den Austritt aus der Union beschlossen. Doch der schwerste Schlag traf die Sowjetunion am 12. Juni 1990, als Russland (RSFSR) seine Souveränität erklärte. Alle Gremien der Unionsebene befanden sich in Moskau, ohne Russland konnte die Union nicht existieren. Der Oberste Rat der UdSSR und die Unionsministerien verloren in der Folge rapide an Macht gegenüber den Organen der RSFSR.

Sowohl in der Bevölkerung als auch unter den Eliten bestand Uneinigkeit im Bezug auf die Zukunft der Sowjetunion. Nicht nur die „Demokraten“ um den ehemaligen Moskauer Parteichef Boris Jelzin, sondern auch die „konservativen“ Kritiker der Perestroika sahen in der Unabhängigkeit Russlands eine Möglichkeit, die unpopuläre Führung Gorbatschows abzuschütteln. Gorbatschow geriet so zwischen die politischen Fronten  der immer offener prowestlich-liberal auftretenden Opposition um Jelzin, die seine Reformen als zu halbherzig kritisierten, und den „Konservativen“, denen seine Reformen zu weit gingen. Begünstigend für den Zerfallsprozess wirkte auch die Tatsache, dass die Bevölkerung sowohl in Russland, als auch in den „nationalen“ Republiken jeweils ihre eigene Republik bei der Verteilung der Ressourcen im Nachteil sah.1 Für den Erhalt der Union plädierten vor allem Vertreter der russischen Minderheit in den nationalen Republiken, orthodoxe Kommunisten sowie einige Fraktionen innerhalb des demokratischen Lagers, wie zum Beispiel die Demokratische Partei Russlands.2 Innerhalb der nationalen Republiken begannen auch die KPdSU-Funktionäre, offen über die Unabhängigkeit zu diskutieren.

Am 17. März wurde auf Vorschlag von Gorbatschow ein Referendum über den Erhalt der UdSSR abgehalten, das jedoch von den drei baltischen Republiken sowie Georgien, Armenien und Moldawien boykottiert wurde. In den restlichen Republiken sprachen sich 77,8 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion aus. Doch das Kräftemessen zwischen der sowjetischen und der russischen Regierung ging weiter. Jelzins nächster großer Sieg nach der Souveränität der RSFSR war die Einführung des Präsidentenamtes in Russland am 17. April 1991. Durch die Direktwahl mit 57,3 Prozent der Stimmen genoss Jelzin mehr Legitimität als Gorbatschow, der Präsident der UdSSR, der in sein Amt ein Jahr zuvor durch den Obersten Rat gewählt worden war.

Ab April 1991 verhandelten Gorbatschow und die Oberhäupter Russlands, der Ukraine, Belarus', Aserbaidschans sowie der zentralasiatischen Republiken über einen neuen Unionsvertrag. Im Sommer wurde der Text erarbeitet, für den 20. August war die Gründung der Union Souveräner Staaten geplant, eines föderativen Staatengebildes. In Russland appellierten einige Politiker des demokratischen Lagers an Jelzin, den neuen Vertrag nicht zu unterzeichnen, da Russland sich dann im ständigen Konflikt mit der Unionsregierung befinden würde.3 Der neue Unionsvertrag kam faktisch ohne Zustimmung der republikanischen Legislative zustande.

Einen Tag vor dem geplanten Vertragsabschluss begann am 19. August 1991 ein dreitägiger Putschversuch der Hardliner aus der Unionsregierung, der zwar den Erhalt der Union zum Ziel erklärte, nach Meinung der meisten Experten den endgültigen Zerfall jedoch noch beschleunigte. Nach der Niederlage der Putschisten stand Jelzin als unbestrittener Sieger gegenüber Gorbatschow da.

Nachdem der Staatsrat der UdSSR am 5. September die Unabhängigkeit der baltischen Staaten – ohne das vorgeschriebene Referendum – anerkannt hatte, drängte man auch in der Ukraine auf Autonomie. Nach der Proklamation der Unabhängigkeit am 24. August wurde am 1. Dezember 1991 ein neues Referendum durchgeführt, bei dem sich eine Mehrheit von 90,32 Prozent  für die Unabhängigkeit aussprach. Ohne die als zweitwichtigste geltende Republik konnte Gorbatschows Idee der als Konföderation umorganisierten UdSSR nicht aufrechterhalten werden. Gorbatschow drängte zwar weiterhin auf eine Einigung mit den Republiken. Doch ein Treffen Jelzins mit den Präsidenten der Ukraine und Belarus', Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch, am 8. Dezember 1991 in Belawesschkaja Puschtscha durchkreuzte diese Versuche endgültig. Dort wurde die Auflösung der UdSSR für bereits geschehen erklärt und die Schaffung eines losen Zusammenschlusses, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) vereinbart.

Am 12. Dezember ratifizierte der Oberste Rat der RSFSR das Abkommen von Belawesschkaja Puschtscha mit 188 Stimmen, bei nur sechs Gegenstimmen. Die russische Delegation wurde infolgedessen aus beiden Kammern des Obersten Rates der UdSSR abberufen. Der Rat der Union verlor dadurch sein Quorum und war so formal entscheidungsunfähig. Am 25. Dezember legte Gorbatschow sein Präsidentenamt nieder. Einen Tag darauf erklärte der Rat der Republiken, das Oberhaus des Obersten Rates der UdSSR, die Existenz der Union für beendet.

Zum damaligen Zeitpunkt befanden sich schon etliche Republiken im faktischen Kriegszustand. Die lokalen Konflikte an der Peripherie wurden jedoch in Russland zunächst aus der Wahrnehmung verdrängt. In globaler Perspektive galt nun die größte Sorge dem atomaren Erbe der sich auflösenden Weltmacht.


1.Nezavisimaja gazeta: Obraščenie k presidentu Rossii B. N. El'cinu , 08.08.1991 
2.Buldakov, Vladimir (1997): Krasnaja smuta: Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija. Moskau, S. 367 
3.Hosking, Geoffrey (2006): Rulers and Victims – The Russians in the Soviet Union, Cambridge-London, S. 382-385 
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