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„Für jeden Russen eine Medaille“

Es regnet Auszeichnungen, noch mehr als zu Zeiten der Sowjetunion: Eine Recherche von Projekt darüber, wer in Russland heute eigentlich alles wofür ausgezeichnet wird. Warum das oft keiner weiß. Und was das mit Land und Gesellschaft eigentlich macht.

Quelle Projekt

Am 21. Mai 2015 wurden im Katharinensaal des Kreml staatliche Auszeichnungen verliehen. Als erster trat der verdiente Physiker Jewgeni Welichow vor, der Präsident des Kurtschatow-Instituts; er wurde mit dem Orden Für Verdienste am Vaterland 1. Klasse ausgezeichnet. Danach erhielten aus den Händen Putins der hundertjährige Volkskünstler Wladimir Seldin und Außenminister Sergej Lawrow den gleichen Orden. In dem Beschluss über die Auszeichnungen fanden sich noch über 200 weitere Namen. Allerdings wurden nicht alle öffentlich verliehen, die meisten erhielten ihre Auszeichnung ohne großes Aufsehen. Darunter war der 25-jährige Iwan Setschin, der stellvertretende Leiter der Abteilung Offshore-Projekte von Rosneft und Sohn von Igor Setschin, dem Chef desselben Unternehmens. Setschin der Jüngere erhielt den Orden Für Verdienste am Vaterland 2. Klasse.

Hochdekorierte Kinder hochrangiger Staatsbeamter

Setschin ist keineswegs das einzige Kind eines hochrangigen Staatsbeamten oder staatlichen Managers, das hoch dekoriert wurde und nicht einmal das jüngste. Übertroffen wurde er von Aischat Kadyrowa, der 21-jährigen Tochter Ramsan Kadyrows: Die erhielt am 7. März 2020 aus den Händen ihres Vaters die Medaille Für Verdienste vor der Tschetschenischen Republik – für ihre Teilnahme an der Paris Fashion Week.

Die Auszeichnung von Verwandten ist übrigens nicht die wichtigste Besonderheit der heutigen, überaus verwickelten Auszeichnungspolitik in Russland.

Nach dem Zerfall der UdSSR hatte das sowjetische Ehrungssystem seine Wirkung eingebüßt: Das neue Land brauchte neue Helden. 1994 erging ein Erlass, der die Grundlage für das jetzige System von Auszeichnungen schuf. Darin waren 29 Orden, Medaillen und Ehrenabzeichen sowie eine Reihe beruflicher Ehrentitel aufgeführt. Die höchste Auszeichnung war der Helden-Stern Russlands. Ein Merkmal der Epoche des „freien Marktes“ bestand darin, dass in dem neuen System keinerlei sowjetische Orden und Medaillen für berufliche Erfolge auftauchten.
Mehrmals gab es Abänderungen in dem Erlass für Ehrentitel. 2013 hat Putin eine zweite höchste Auszeichnung eingeführt: den Held der Arbeit. Insgesamt übertrifft Russland mit seinen unterdessen 102 staatlichen Auszeichnungen sogar die späte UdSSR (95 Auszeichnungen).

 

Überaus verwickelte Auszeichnungspolitik

Von 1948 bis 1991 sind 660 Personen zu Helden der UdSSR geworden. Das heutige Russland hat in nur 30 Jahren rund 1100 Helden hervorgebracht.

Putin selbst trägt nicht sonderlich viele Orden. Von den hochrangigen hat er nur den Orden der Ehre erhalten. Daneben hat er drei präsidentielle Belobigungen von Jelzin, einen Ehren-Pallasch [eine Säbelart – dek] der Marine und einen Verdienstorden der Republik Dagestan. Sehr viel zahlreicher sind hingegen seine ausländischen, religiösen und gesellschaftlichen Auszeichnungen, unter anderem aus Europa. Die hat Putin vor 2009 erhalten. Nachdem sich die Beziehungen zum Westen abgekühlt haben, überwiegen in der Liste der Staaten, die Putin Auszeichnungen verliehen, ehemalige Sowjetrepubliken sowie asiatische und afrikanische Länder. 

Großes Geheimnis

Heute ist es oft unmöglich zu erfahren, wer wofür ausgezeichnet wurde. Die Erlasse sind unter Verschluss und Angaben zu den Helden werden nirgends veröffentlicht. Geheime Auszeichnungen wurden zur Norm, seit Russland in eine Anzahl militärischer Konflikte eingriff und die heftige Konfrontation mit dem Westen begann. Mit Hilfe geheimer Erlasse werden oft Auszeichnungen für nicht erklärte Kriege gestiftet, für Militärs, Vertreter der Bürokratie und Journalisten, die im Sinne des Staates arbeiten. Im Mai 2014 hatten über 300 Journalisten der staatlichen Fernsehsender Orden und Medaillen verliehen bekommen „für ihre Professionalität und die objektive Berichterstattung über die Ereignisse auf der Krim“. Doch ein Erlass über die Auszeichnungen ist nicht auffindbar.

Auf dem Höhepunkt des Krim-Frühlings tauchte auch eine spezielle behördliche Auszeichnung des Verteidigungsministeriums auf, die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Auf der Webseite der Firma, die mit dem Entwurf der Medaille befasst war, erschien eine Mitteilung über einen Eilauftrag für die Medaille und deren Beschreibung. Bald schon hatten ukrainische User sozialer Netzwerke auf der Rückseite der Medaille ein Datum für den Beginn der Krim-Operation entdeckt, nämlich den 20. Februar, und zwar noch lange vor dem Referendum über die Rückholung der Krim. Nach vielzähligen Berichten zu diesem Thema wurden die Anordnung des Ministeriums und die Webseite mit der Beschreibung der Medaille entfernt.

Als erste erhielten Militärs und das ernannte Oberhaupt der Republik [Krim] Sergej Aksjonow die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Später kam die Medaille in den freien Verkauf, sie kann jetzt zusammen mit einer Urkunde für rund 500 Rubel erstanden werden.

Per Geheimerlass zum Helden erklärt

Putin verleiht zudem Auszeichnungen für Kriege, an denen Russland, seinen eigenen Worten zufolge, gar nicht beteiligt ist. In dieser Atmosphäre äußerster Geheimhaltung erweisen sich Sammler als diejenigen, die am besten informiert sind. Es ist zwar verboten, staatliche Auszeichnungen zu verkaufen, doch es geschieht trotzdem. Und anhand der Ordnungsnummern lassen sich Rückschlüsse ziehen. So belegen 60.000 Kampfauszeichnungen, die innerhalb kurzer Zeit verliehen wurden, dass Krieg geführt wird – selbst wenn im Fernsehen kein Wort darüber verloren wird. Die Sammler verzeichnen eine Reihe solcher Momente: Anfang der 2000er Jahre (Tschetschenienkrieg), 2014 (die Ereignisse in der Ukraine) und seit 2016 der Einsatz in Syrien.

Geradezu ausgeschüttet wurden Auszeichnungen an Kämpfer privater militärischer Einheiten anlässlich des Krieges in Syrien. Am 9. Dezember 2016 fand zu Ehren des Tages der Helden des Vaterlandes im Kreml ein Empfang statt. Auf einer der Fotografien erkannten Journalisten Dimitri Utkin (den Kommandeur einer Einheit, die als TschWK Wagner bekannt wurde) – anhand seiner Rekrutierungsnummer. Seit 2015 sind Wagnerianer an militärischen Einsätzen in Syrien und sogar in Libyen und anderen afrikanischen Staaten beteiligt. Utkin hatte vier Tapferkeitsorden an der Brust. Auf dem gleichen Foto wurde Andrej Troschew identifiziert, mit einem frischen Stern als Held Russlands am Revers. Troschew ist Direktor eines privaten Militär- und Sicherheitsunternehmens. Zum Helden wurde er durch die Eroberung von Palmyra 2016, per Geheimerlass.

Den derzeitigen Ansatz bei Auszeichnungen beschreibt Andrej Chasin, Mitglied von Einiges Russland und Berater des Chefs der Präsidialadministration, in einer öffentlichen Vorlesung: „Kein Auszeichnungssystem ist objektiv. Es wird nie wirklich alle auszeichnen, die es verdient haben – und auch nicht ausschließlich diejenigen, die es verdient haben. Das System muss so geartet sein, dass die Menschen angesichts eines äußeren Symbols der Tapferkeit oder der Verdienste verstehen, dass derjenige, der es trägt, mit riesiger Wahrscheinlichkeit etwas Wichtiges und Notwendiges getan hat.“ In den meisten Fällen ist dieses Wichtige und Notwendige schlicht die Loyalität gegenüber dem Regime.

Auszeichnung als Dankeschön

Die Erlasse über eine Auszeichnung enthalten verschwommene Formulierungen: „für mehrjährige Gesetzgebungstätigkeit“, „für Verdienste um Staat und Volk durch heldenhafte Taten“. In Wirklichkeit aber wissen die Ausgezeichneten selbst, dass es sich wohl aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Dankeschön handelt. Oft werden die Auszeichnungen sofort nach Ereignissen verliehen, die für das Regime wichtig sind.
Peinlich wurde es, als der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko den Heldenstern Russlands erhielt – unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl 2018 und womöglich dafür, dass dabei für Putin ein sehr gutes Ergebnis gewährleistet worden war. Die Regierung hatte auf eine offizielle Bekanntmachung dieser Auszeichnung verzichtet. Allerdings erfuhr die Zeitung Kommersant davon. Bald nach der Veröffentlichung verlor Sergej Jakowlew, Chefredakteur des Kommersant, seinen Posten.

Überhaupt sind erfolgreiche Wahlen ein hervorragender Anlass, loyale Weggefährten auszuzeichnen. Der Anfang war 2008 gemacht, als Putin einigen Männern aus der Politikwissenschaft, Anführern kremlfreundlicher Jugendorganisationen und den Leitern dreier landesweiter Fernsehkanäle Auszeichnungen verlieh. Nach Angaben des Kommersant geschah das aus Dankbarkeit für deren Beitrag im Wahlkampf von Einiges Russland und des von Putin nominierten Präsidentschaftskandidaten Dimitri Medwedew.

Vorsitzende von Wahlkommissionen erhielten von jetzt an regelmäßig Orden und Medaillen. 2012 wurde Wladimir Tschurow, dem damaligen Leiter der Zentralen Wahlkommission, der Alexander-Newski-Orden verliehen, per Geheimerlass. Einige Monate zuvor war Tschurow zu jener Person geworden, die im Internet am heftigsten diskutiert wurde: Nach den massiven Wahlfälschungen hatten sämtliche Vertreter der Opposition seinen Rücktritt gefordert.

Auch die neue Zentrale Wahlkommission wurde vielfach ausgezeichnet Nach der Wahl von 2018, bei denen die Nichtzulassung von Alexej Nawalny für einen Skandal gesorgt hatte, verlieh der frisch wiedergewählte Präsident Putin der Leiterin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, den Orden Für Verdienste um das Vaterland 3. Klasse. 

Neue Stagnation

Betrachtet man die Gesamtzahl der Auszeichnungen – und hierzu gehören neben den staatlichen auch regionale und behördliche Auszeichnungen –, so hat Russland die Sowjetunion bei weitem überholt. Und zusammen mit den religiösen und gesellschaftlichen Ehrenzeichen geht die Zahl in die Hunderte.

Der Historiker Alexander Spiwak bezeichnet das heutige System der Auszeichnungen als Chimäre. Das sowjetische System hatte sich über Jahrzehnte hinweg herausgebildet und war gegen Ende der UdSSR recht vernünftig organisiert. Im heutigen Russland hingegen hängen die Kriterien, nach denen die Helden bestimmt werden, nicht selten einfach vom Willen der Chefetage ab.

Das wichtigste Prinzip, durch das das System in Russland dem sowjetischen ähnelt, sind die unerlässlichen Auszeichnungen für jene, die dem ersten Mann im Staate Dienste erweisen. 

Im Naturschutzgebiet von Sawidowo, wo die sowjetische Nomenklatura gern Erholung suchte, arbeiteten unter Breshnew zwei bemerkenswerte Menschen, der Generalleutnant Iwan Kolodjaschny und der Jäger Wassili Schtscherbakow. Neben ihrem Arbeitsort verband die beiden, dass sie vollwertige Träger des Ordens waren, der in der Sowjetunion am seltensten verliehen wurde, nämlich des Ordens Für den Dienst am Vaterland in den Streitkräften der UdSSR. Das ließ sich einfach erklären: Kolodjaschny und Schtscherbakow kümmerten sich darum, dass die sowjetische Führungsspitze und ausländische Delegationen in Sawidowo jagen konnten. „Sie haben einfach die Wildschweine und Elche getrieben, und schon hatten sie die Brust voller Orden“, scherzt Historiker Spiwak.

Eine derart zweckgebundene Haltung zu Auszeichnungen erfährt jetzt auch in den Regionen eine Blüte. Die Gouverneure können die Auszeichnungen nach eigenem Gutdünken verleihen, ohne sich mit der Zentralregierung abzusprechen.

Gold mit Rubinbesatz

Die Region mit dem größten Reichtum an Auszeichnungen – im direkten wie im übertragenen Sinne – ist die Republik Tschetschenien. Die höchsten Auszeichnungen in Tschetschenien – die Achmat Kadyrow-Orden und -Medaillen – sind aus Gold gefertigt und mit Brillanten, Smaragden und Rubinen verziert.

Der größte Ordensträger in Tschetschenien ist das Republikoberhaupt selbst. Seine erste staatliche Auszeichnung hat Kadyrow mit 28 Jahren erhalten – gleich den höchsten Ehrentitel des Landes: Putin heftete ihm den Heldenstern an die Brust. Auch sein Vater Achmat Kadyrow wurde zum Helden erklärt – posthum.

Darüber hinaus ist Kadyrow der Jüngere Träger zahlreicher tschetschenischer Orden und Medaillen. Nach vorsichtigsten Schätzungen trägt er mindestens 39 Auszeichnungen.

In Tschetschenien gibt es zudem eine paradox anmutende Auszeichnung, nämlich die Medaille Für die Verteidigung der Menschenrechte. Sie wurde 2007 gestiftet und als erstes Ibragim Dsubairajew verliehen, dem stellvertretenden Apparatsleiter des Menschenrechtsbeauftragten in der Republik Tschetschenien. Dsubairajew hat Memorial und ähnlich ausgerichtete Organisationen 2009 beschuldigt, sie würden sich „zu Menschenrechts- und Informationsterroristen wandeln“. Er hat der von Unbekannten ermordeten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa vorgeworfen, sie wolle die positiven Veränderungen in der Republik nicht wahrnehmen und lasse sich bei ihrer Tätigkeit ausschließlich von PR-Überlegungen leiten. Unter denjenigen, die mit dieser Medaille ausgezeichnet wurden, heißen mindestens drei Personen Kadyrow mit Nachnamen. Es sind Ramsan Kadyrow selbst, dessen Frau Medni und Islam Kadyrow, Bürgermeister von Grosny und ein Neffe dritten Grades von Ramsan Kadyrow. Er hat die Medaille 2013 erhalten; 2019 veröffentlichte die staatliche Rundfunkanstalt Grosny ein Video, das Islam Kadyrow zeigt, wie er Menschen mit einem Elektroschocker malträtiert, um von ihnen Geständnisse zu erzwingen.

Ministerium verleiht Einmal-Medaillen

Bei der Verleihung behördlicher Auszeichnungen hat es eine vollständige Rückkehr zur sowjetischen Praxis gegeben. Es gibt sehr viele dieser Auszeichnungen und viele von ihnen existieren allein zu dem Zweck, sie an einem Gedenktag an Staatsbeamte zu verleihen. 

Dabei nimmt das Verteidigungsministerium traditionell den Spitzenplatz ein. Das geht so weit, dass sogar „Einmal“-Medaillen des Verteidigungsministeriums geschaffen wurden, etwa für den Panzerbiathlon 2014 oder die Teilnahme an einer Siegesparade.

Die Behörden zeichnen nicht nur ihre eigenen Mitarbeiter aus, sondern es ergeben sich mitunter erstaunliche Konstellationen: Die Weltraumbehörde Roskosmos etwa zeichnete einen Mönch des Dreifaltigkeits-Klosters von Sergijew Possad, der in der Sternenstadt die Raumschiffbesatzungen segnet, mit dem Gagarin-Ehrenzeichen aus („für den aktiven Beitrag zur Umsetzung des Föderalen Weltraumprogramms“). Und der Kosmonautik-Verband verlieh Priestern, die in Baikonur arbeiten den Titel eines Verdienten Erforschers.

* * *

Heute kann jeder Bürger Russlands eine Medaille erhalten. Im staatlichen russischen Fernsehen wurde ein Werbeclip mit dem Slogan „75 Jahre Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Für jeden Russen eine kostenlose Gedenkmedaille“ geschaltet. In dem Video ist eine Medaille mit Staatssymbolen zu sehen, dem äußeren Anschein nach aus billigen Legierungen. Die Behauptung, dass die Medaille jedem Bürger kostenlos übergeben wird, ist zumindest ungenau. Die Lieferanten berechnen mindesten 299 Rubel [rund 3,80 Euro – dek] „für Zusatzoptionen“ sowie „für Verpackung und Lieferung“. Auch eine Firma mit dem schönen Namen Kaiserliche Münzstätte macht Geschäfte mit dem Kriegsgedenken. Nutznießer dieser Geschäfte ist letztendlich Dimitri Sobnin, der König des russischen „Sofashoppings“, der über seine Sendungen alles Mögliche verkauft, von der Ikone bis zur Ausstattung für die Datscha.

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Wlast

Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiertLeviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

„Das Volk bleibt stumm“

Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

Historismus und Historiosophie

Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

„Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

„Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

Allgegenwärtig und unsichtbar

Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


1.vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva
2.vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123
3.vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50)
4.vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137
5.Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25
6.vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22
7.vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7
8.Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“,  S. 6-22, hier S. 8
9.Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f.
10.zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69
11.vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f.
12.zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31
13.zit. nach: stoletie.ru:  „Cerkov’ vsegda byla s narodom“
14.vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica
15.Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii
16.YouTube: V. Putin o russkoj duše
17.vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit
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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

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