Dossier

Die Mythen der 1990er

Das laufend wachsende Dossier „dekodiert“ die Mythen der 1990er – und analysiert, was ihr Erbe für das Russland von heute bedeutet. 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 waren die 1990er Jahre in Russland geprägt vom demokratischen Aufbruch einerseits und wirtschaftlichen Niedergang andererseits. Diese Jahre der radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation sind ins kollektive Gedächtnis des Landes eingegangen als lichie 90-e, die wilden 1990er. In den westlichen Gesellschaften dagegen ist nur wenig über diese Zeit bekannt – dabei prägt sie Russland bis heute, auch politisch. 

Hyperinflation, Massenarmut, illegale Privatisierungen, Kriminalität, Babuschkas, die sich vor Metrostationen ihre karge Rente aufbesserten, die Rubelkrise – all das prägte den Alltag. 1993 sicherte Jelzin blutig und unter Einsatz der Armee die Demokratie, das Ergebnis war eine Verfassung, die dem Präsidenten einen besonders starke Rolle zuschrieb. 1994 begann der Erste Tschetschenienkrieg. Doch das ist nur die eine Seite der 1990er. Auf der anderen Seite stehen eine erstarkende Zivilgesellschaft, die auch beginnt, die Schrecken der stalinistischen Diktatur aufzuarbeiten, und der Aufbau einer unabhängigen Medienlandschaft. Es entwickelte sich eine urbane Kultur mit alternativen Räumen und Klubs und auch die Kunst blühte auf.

30 Jahre Ende der Sowjetunion und Demokratiebeginn in Russland nimmt dekoder zum Anlass für dieses Dossier, das sich den Errungenschaften und Verwerfungen der 1990er widmet und das Spannungsfeld beschreibt, in dem sich das neue, demokratische und marktwirtschaftliche Russland konstituierte: In Artikelübersetzungen, Gnosen, Multimedia-Formaten, auf Deutsch und Russisch.

Inhalte

Gnose

Die Geschichte der NATO-Osterweiterung

„Keinen Zoll ostwärts“: Gab es in den 1990er Jahren ein Versprechen an die Sowjetunion beziehungsweise an Russland, dass sich die NATO nicht weiter Richtung Osten ausdehnt? Kristina Spohr analysiert den „Krieg der Narrative“ und landet damit auf Platz 2 der meistgelesenen Texte im Russland-dekoder 2022.

Gnose

Die Wilden 1990er

Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

Gnose

Die 1990er

Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Gnose

Wlast

Sie kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, Regierung, Behörden, Oligarchen oder irgendeine Obrigkeit. Anton Himmelspach über die Vieldeutigkeit der russischen Wlast.

Gnose

Verfassungskrise 1993

Die Ereignisse vom Oktober 1993 bilden die Grundlage für das heutige politische System Russlands. Philipp Casula über die Verfassungskrise, die eine politische Kultur der Stärke und Kompromisslosigkeit hervorbrachte.

Gnose

Attribute der Macht

Im russischen Fernsehen ist Putin allgegenwärtig. Worin besteht der Persönlichkeitskult um ihn? Und auf welche Kraft setzt der Kreml bei den Bildern? Anton Himmelspach über die „Arbeit am Charisma“ des nationalen Leaders.

Gnose

Voucher-Privatisierung

Vor 26 Jahren begann die größte Privatisierungsreform der Weltgeschichte. Sie sollte im Russland der 1990er Jahre vor allem eines sein – „gerecht“. Wie es dazu kam, dass sie später als „Raub am Volk“ bezeichnet wurde, das erklärt Ewa Dąbrowska.

Gnose

Augustputsch 1991

Die Putschisten wollten die Sowjetunion vor dem Zerfall bewahren – und beschleunigten im August 1991 nur ihr Ende. Vor 31 Jahren wurde ein Grundstein für das neue Russland gelegt. Ewgeniy Kasakow zeichnet die Ereignisse nach.

Gnosen
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Die Wilden 1990er

Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

Der im russischen Sprachgebrauch verwendete Terminus lichije 90-ie (wörtlich flott, schneidig) bezeichnet die wilden und stürmischen 1990er Jahre des postsowjetischen Russland. Die radikalen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bedeuteten nicht nur neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten, sondern vielfach Rechtlosigkeit und Armut. Laut dem Historiker Jörg Baberowski profitierten „[...] von den Segnungen dieser Reformen [...] nur die Mächtigen und Einflussreichen, die sich aneigneten, was einmal dem Staat gehört hatte. In blutigen Verteilungskriegen wurden wenige sehr reich und viele sehr arm. Der Traum von Wohlstand und Sicherheit verwandelte sich in einen Albtraum.“1

Zu der Armut, den Ängsten und der Unsicherheit kam eine normative Orientierungslosigkeit hinzu: Die sowjetischen Normen brachen praktisch über Nacht zusammen, während der zerfallende Staat keine neue Ideologie bieten konnte und ein normatives Vakuum entstand. Neben dem täglichen Überlebenskampf wurde das Streben nach Geld zur Ideologie der Eliten. Die schwachen staatlichen Strukturen ermöglichten alten Seilschaften und neuen Gewaltunternehmern2, unter Einsatz häufig illegitimer und auch illegaler Mittel, zu Reichtum zu gelangen. Kriminelle Übernahmen, Korruption und Auftragsmorde standen auf der Tagesordnung; alleine 1994 fielen den Verteilungskämpfen mehr als 600 Unternehmer, Politiker und Journalisten zum Opfer3, was dieser Zeit den Begriff Raubtierkapitalismus einbrachte.

Zugleich stehen die wilden 1990er für eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Hoffnung auf eine Zukunft nach westlichen Standards und Waren, für die sich das Land nun öffnete: Das Staatsmonopol zerfiel, Zensurbeschränkungen wichen einer bis dahin unbekannten Meinungsfreiheit und zahlreiche neue Medien und Diskussionsforen entstanden, die, zumindest für eine kurze Zeit, einen öffentlichen politischen Diskurs ermöglichten. Es entwickelte sich eine urbane Kultur mit Cafés und Klubs und auch die Kunst blühte auf: Verstärkt wurden neuere Strömungen wie Performance oder experimentelles Theater aufgegriffen und auch oftmals die negativen und gewaltsamen Aspekte dieser Zeit verarbeitet. Der Film Brat (Der Bruder, 1997) von Alexej Balabanow, in dem sich ein junger Russe mit der Mafia anlegt, wurde nicht nur zum ersten großen postsowjetischen Kassenschlager, sondern zu einem Symbol dieser Zeit. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts wird in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit verarbeitet.

Im Gegensatz zu den wilden 1990ern gelten die 2000er Jahre als ruhiges und stabiles Jahrzehnt, in dem unter Wladimir Putin ein spürbar steigender Wohlstand für die breite Bevölkerung einsetzte, der mit ihm persönlich in Verbindung gebracht wird. Die gegenwärtigen Machthaber greifen gerne auf die Abgrenzung wilde 1990er, Jelzin, Demokratie und Armut versus stabile 2000er, Putin, „souveräne Demokratie“ und Wohlstand zurück, um den zunehmend autoritären Kurs und die Freiheitsbeschränkungen zu legitimieren.


1.Die Zeit: Kapitalismus in Russland: „Das sind einfach Diebe“
2.Volkov, Vadim (2002): Violent Entrepreneurs. The use of Force in the Making of Russian Capitalism, Ithaca
3.Die Zeit: Kapitalismus in Russland: „Das sind einfach Diebe“
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Die 1990er

Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

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Higher School of Economics

Die Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

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Zentralbank

Die Russische Zentralbank ist die Hüterin der Währungsstabilität. War die vorrangige Aufgabe der Zentralbank in den 1990ern, die Inflation des Rubels zu begrenzen,so konnte sie im letzten Jahrzehnt dank steigender Rohstoffexporte große Währungsreserven anhäufen. Ende 2014 musste die Zentralbank einen Teil der Reserven jedoch verkaufen, um den drastischen Kursverfall des Rubels zu verhindern.

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Jegor Gaidar

Jegor Gaidar (1956–2009) war einer der wichtigsten Reformer der 1990er Jahre und gilt als Vater der russischen Marktwirtschaft. In der russischen Gesellschaft ist Gaidar sehr umstritten: Während seine Befürworter ihm zugute halten, dass er die Rahmenbedingungen für das private Unternehmertum in Russland schuf und das Land vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps bewahrte, lastet ihm der Großteil der Bevölkerung die Armut der 1990er Jahre an. Nach Gaidars Tod wurde ihm zu Ehren eine Stiftung gegründet: Diese fördert unter anderem (Wirtschafts)Wissenschaftler und engagiert sich für eine liberale Grundordnung. 

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Oligarchen

Als Oligarchen werden Großunternehmer bezeichnet, die starken Einfluss auf die Politik nehmen. In Russland, aber auch in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen Wirtschaft und Politik sehr eng verwoben sind, stellen sie ein zentrales Charakteristikum des politischen Systems dar.

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