Dossier

Die 1990er

Die Einordnung der „wilden“ 1990er Jahre spaltet die russische Gesellschaft bis heute.

Auf der einen Seite markieren die 1990er Jahre eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs nach der Auflösung der Sowjetunion.
Auf der anderen Seite stehen die „wilden 1990er“ für einen Zustand der Armut und Rechtlosigkeit, in der Korruption und Kriminalität auf der Tagesordnung standen. 
Das traumatische Ausmaß der Armut löste in der Bevölkerung einen Wunsch nach Stabilität aus, der noch heute immer wieder zur Legitimierung autoritärer Herrschaftsmuster genutzt wird.

Das Dossier versucht dem tiefen Einschnitt auf die Spur zu kommen, den die 1990er Jahre in der russischen Gesellschaft hinterließen, und bündelt dafür Reportagen, Gesellschaftsanalysen und historisches Hintergrundwissen.

Inhalte

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Die Wilden 1990er

Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

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Die 1990er

Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

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Jegor Gaidar

Jegor Gaidar (1956–2009) war einer der wichtigsten Reformer der 1990er Jahre und gilt als Vater der russischen Marktwirtschaft. In der russischen Gesellschaft ist Gaidar sehr umstritten: Während seine Befürworter ihm zugute halten, dass er die Rahmenbedingungen für das private Unternehmertum in Russland schuf und das Land vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps bewahrte, lastet ihm der Großteil der Bevölkerung die Armut der 1990er Jahre an. Nach Gaidars Tod wurde ihm zu Ehren eine Stiftung gegründet: Diese fördert unter anderem (Wirtschafts)Wissenschaftler und engagiert sich für eine liberale Grundordnung. 

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Higher School of Economics

Die Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

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Default (1998)

Vor 25 Jahren, am 17. August 1998, erklärte der russische Staat unter der Führung Jelzins seine Zahlungsunfähigkeit nach einer Zeit des wirtschaftspolitischen Chaos. Dieses Ereignis markierte eine Wende in der russischen Finanzpolitik und es trug zur Popularität Putins bei – da er im Gegensatz zu Jelzin den gesellschaftlichen Bedarf an Stabilität und relativem Wohlstand bedienen konnte.

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Auflösung der Sowjetunion

Heute vor 31 Jahren trafen sich die Staatsoberhäupter von Russland, Belarus und der Ukraine und vereinbarten, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu gründen. Damit besiegelten sie faktisch das Ende der Sowjetunion. Welche Dynamiken damals die einstige Supermacht zum Zerfall brachten, skizziert Ewgeniy Kasakow.

 

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Augustputsch 1991

Die Putschisten wollten die Sowjetunion vor dem Zerfall bewahren – und beschleunigten im August 1991 nur ihr Ende. Vor 31 Jahren wurde ein Grundstein für das neue Russland gelegt. Ewgeniy Kasakow zeichnet die Ereignisse nach.

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Die 1990er

Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Politisch befand sich Russland zu Beginn der 1990er Jahre im Spannungsfeld zwischen demokratischen und reaktionären Kräften. Die Zerissenheit der politischen Eliten zeigte sich im August 1991 in einem Putschversuch kommunistischer Hardliner gegen Gorbatschow, der zwar nach drei Tagen scheiterte, die Sowjetunion aber weiter destabilisierte, sodass diese sich schließlich am 21. Dezember 1991 auflöste.

Ab 1992 trieben Präsident Boris Jelzin und Regierungschef Jegor Gaidar eine tiefgreifende Transformation zu parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft voran. Der Widerstand mehrerer Parteien gegen die liberale Wirtschaftspolitik gipfelte 1993 in einem Machtkampf zwischen Präsident und Parlament, den Jelzin mithilfe der Armee für sich entschied. Die bis heute gültige Verfassung von 1993, die die politische Vormachtstellung des Präsidenten festigte, ist eine Konsequenz der damaligen Verfassungskrise.

Durch die Machtkämpfe und die politische Öffnung verlor der Zentralstaat an Kontrolle über die Regionen. Unabhängigkeitsbestrebungen einiger ethnischer Republiken beantwortete der Staat teils mit Autonomiezugeständnissen, teils mit Gewalt (1. Tschetschenienkrieg 1994 – 1996).

Außenpolitisch verlor Russland mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts an Einfluss. In den folgenden Jahren näherte man sich dem einstigen Feind, der NATO, an: Die im Jahr 1997 unterzeichnete Nato-Russland-Grundakte sollte die Kooperation in der internationalen Sicherheitspolitik fördern.

Ein weiterer radikaler Umbruch war der Wandel von der sozialistischen Planwirtschaft hin zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Eine Riege radikaler Jungreformer unter Wirtschaftsminister Jegor Gaidar war für die Systemtransformation verantwortlich. Mit einer Preisliberalisierung und Privatisierungen der Staatsbetriebe verpassten sie dem Land eine „Schocktherapie“. Von 1992 bis 1994 wurden im Rahmen der sogenannten Voucher-Privatisierung Gutscheine an die Bevölkerung ausgegeben, die diese zu Aktienanteilen ihrer Betriebe umwandeln konnten. Viele verkauften ihre Voucher jedoch an die Betriebsleitungen, sodass letzlich nicht wie gedacht die Bevölkerung profitierte, sondern die Manager der ehemaligen Staatsbetriebe.

Als der Staat 1995/96 kurz vor dem Bankrott stand, wurden auch die letzten großen Staatsbetriebe privatisiert, um frisches Geld in die Staatskassen zu spülen. Allerdings wurden die Auktionen des Aktien-für-Kredite genannten Programms mehrheitlich von den aus dem Bankensektor aufstrebenden Oligarchen manipuliert, die die Betriebe weit unter Wert erwarben. Für diese illegalen Pivatisierungen bürgerte sich der negativ konnotierte Begriff Prichwatisazija ein, eine Zusammensetzung aus dem Wort für Privatisierung und dem Wort prichwatit (wörtl. abstauben).

Durch den Niedergang der ineffektiven sowjetischen Schwerindustrie und die sinkenden Ölpreise ging die Wirtschaftsleistung trotz des Aufblühens des Klein(st)unternehmertums drastisch zurück; zwischen 1990 und 1996 sank das russische BIP um mehr als 50 %. Die marode Wirtschaft und die Hyperinflation (1992: 1526 %, 1993: 875 %) stürzten große Teile der Bevölkerung in Armut. 1998 führte die Wirtschaftskrise in den asiatischen „Tigerstaaten“ zu Erschütterungen auf den Finanzmärkten, die auf Russland übergrifffen und den wirtschaftlichen Niedergang beschleunigten, was zur Zahlungsunfähigkeit Russlands führte (Default). Erst mit dem Anstieg der Ölpreise zum Ende des Jahrzehnts sollte sich die rohstoffabhängige russische Wirtschaft wieder stabilisieren.

Die enormen gesellschaftlichen Spannungen führten dazu, dass die Epoche auch als die „wilden 90er“ bezeichnet wurde, und zwar im guten wie im schlechten Sinne: Einerseits boten sich gewaltige Chancen für Neuanfänge; andererseits führten Deregulierung und Kriminalität (Stichwort: russische Mafia) zu Gefühlen ständiger Unsicherheit und Bedrohung bei weiten Teilen der Bevölkerung. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts hat sich in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit, aber auch filmischen Werken, wie in Alexej Balabanows Der Bruder, verewigt.

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Higher School of Economics

Die Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

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Jewgeni Jasin

Jewgeni Jasin (1934–2023) war ein liberaler russischer Ökonom, der zunächst als Berater von Boris Jelzin und von 1994 bis 1997 dann als Wirtschaftsminister die Wirtschaftsreformen der Jelzinzeit entscheidend mitprägte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war er weiterhin gesellschaftspolitisch aktiv: Jasin war Forschungsdirektor der Higher School of Economics, leitete die Stiftung Liberale Mission und war Kolumnist beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Elite kritisierte er die zunehmende Autokratisierung in Putins Regime und forderte mehr Rechtsstaatlichkeit ein.

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Zentralbank

Die Russische Zentralbank ist die Hüterin der Währungsstabilität. War die vorrangige Aufgabe der Zentralbank in den 1990ern, die Inflation des Rubels zu begrenzen,so konnte sie im letzten Jahrzehnt dank steigender Rohstoffexporte große Währungsreserven anhäufen. Ende 2014 musste die Zentralbank einen Teil der Reserven jedoch verkaufen, um den drastischen Kursverfall des Rubels zu verhindern.

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Andrej Swjaginzew

Er war ein Laie, dessen erster Film 2003 mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig ausgezeichnet wurde. Heute zählt er zu den wichtigsten Regisseuren Russlands. Sein Werk Neljubow (Loveless) war für den Oscar nominiert. Eva Binder über den ungewöhnlichen Filmemacher Andrej Swjaginzew.

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Sergej Gandlewski

Sergej Gandlewski (geb. 1952) ist ein bekannter russischer Schriftsteller, Dichter und Übersetzer.

Seit seiner Jugend schreibt er Gedichte, die allerdings bis zum Ende der 1980er Jahre nur im Ausland erscheinen konnten. Er war während der Sowjetzeit gemeinsam mit anderen Schriftstellern wie Lew Rubinschtein in sowjetischen literarischen Untergrundzirkeln aktiv und veröffentlichte in dieser Zeit im Samisdat. Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Werke hat Gandlewski verschiedene Literaturpreise erhalten, darunter 2010 die wichtigste russische Auszeichnung für Dichter, den „Poet“.

Im September 2014 unterzeichnete Gandlewski zusammen mit 6.000 weiteren Intellektuellen eine Erklärung gegen die russische Aggression in der Ukraine.

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Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

Die russische Parteienlandschaft wird seit Mitte der 2000er von der Regierungspartei Einiges Russland dominiert. Dabei wurde durch restriktive Gesetze das Angebot an Parteien dezimiert, die übrigen verloren an Bedeutung. Diese autoritäre Umstrukturierung wurde allerdings dadurch erleichtert, dass die politischen Institutionen die Entwicklung starker Parteien seit den 1990ern gehemmt hatten und Parteien kaum in der Gesellschaft verankert waren.

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