Medien

Presseschau № 43: Russland und die USA

Das Verhältnis zwischen Russland und westlichen Regierungen kühlt sich weiter sichtlich ab. Während sich Russland die an den Luftangriffen auf Aleppo geäußerte Kritik verbittet, erheben einzelne Politiker in Europa und Vertreter im UN-Sicherheitsrat schwere Vorwürfe und sprechen von „Kriegsverbrechen“. Scharfe Töne kommen zudem aus den USA, Deutschland und Frankreich.

Kommende Woche wollte Präsident François Hollande bei einem (lange im Voraus) anberaumten Treffen in Paris die Gespräche mit dem Kremlchef nun auf die Lage in Syrien beschränken und anderen gemeinsam angedachten Terminen fernbleiben. Putin ließ den Staatsbesuch platzen.

Nun soll es am Sonnabend neue Friedensverhandlungen für Syrien in der Schweiz geben. Unterdessen bestätigte Russland die Verlegung von atomwaffenfähigen Kurzstrecken-Raketen in die Exklave Kaliningrad, will zudem Militärstützpunkte in Syrien auf eine dauerhafte Nutzung ausrichten.

Seit Beginn der massiven diplomatischen Verwerfungen vergangene Woche sind in der russischen Presse weitere Kommentare und Analysen erschienen. Immer wieder tritt dabei vor allem das konfrontative Verhältnis zu den USA in den Vordergrund: Gibt es einen neuen Kalten Krieg? Hat sich die Lage tatsächlich zugespitzt oder ist alles nur Getöse? Oder droht ein direkter Konflikt mit den USA? Unsere aktuelle Presseschau zeigt Ausschnitte mit verschiedenen Blickwinkeln.

Quelle dekoder

Spektr: Virtuelle Realität

Der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin markiert Handeln und Rhetorik russischer Außenpolitik in einem Kommentar für das Online-Portal spektr als verlängerten Arm der Innenpolitik – als eine selbst geschaffene Realität, die lange schon auf Konfrontation mit dem Westen setze.

Deutsch
Original
Das Kompositum „Kriegsverbrechen“ klingt mehr als ernst, und es handelt sich nicht um einen Krimi, in dem auf der vorletzten Seite der Name des Bösewichts genannt wird. Der Bösewicht ist längst bekannt – das sind wir. Man darf nur keine Angst haben, in den Spiegel zu sehen.

Wäre es ein Film, käme darin ein durchgedrehter Diktator vor, der bereit ist, die ganze Welt im atomaren Bombenkrieg hochgehen zu lassen. Aber war der Zauberer der Smaragdenstadt ein durchgedrehter Diktator? Nein, er war ein fröhlicher Gauner, dessen ganze Größe darin bestand, den Menschen in der Stadt vorzuschreiben, sie müssten grüne Brillen tragen.

Die Menschen, denen derzeit Russland gehört, sind nicht angetreten, um die Welt zu erobern – ihnen genügten schon immer die ungeteilte Macht und die damit verbundenen Reichtümer in ihrem eigenen Land. Und auch die Außenpolitik war für sie seit jeher nur die Fortsetzung der Innenpolitik – als Natoflugzeuge auf ihrem Weg nach und aus Afghanistan in Uljanowsk landeten, berichtete das Fernsehen davon, wie Russland sich der Allianz der NATO entgegenstemmt, und niemand sah darin einen Widerspruch.

Словосочетание «военные преступления» звучит более чем всерьез, и это не детектив, в котором имя злодея прозвучит на предпоследней странице. Злодей уже известен — это мы, надо только не побояться посмотреть в зеркало.

Если бы это было кино, в нем показали бы обезумевшего диктатора, готового спалить весь мир в огне ядерной войны. Но был ли обезумевшим диктатором Волшебник Изумрудного города? Нет, это был веселый плут, величие которого основывалось на обязательных для ношения в городе зеленых очках. Люди, которым принадлежит сейчас Россия, пришли не завоевывать мир — им всегда хватало безраздельной власти и привязанных к ней богатств в своей стране. Да и внешняя политика всегда была для них только продолжением внутренней — когда в Ульяновске приземлялись натовские самолеты по дороге в Афганистан и из Афганистана, телевизор рассказывал о противостоянии России Североатлантическому альянсу, и никто не видел в этом противоречия.

 
erschienen am 12.10.2016

EJ: Vorbereitungen aufs Extreme

Alexander Golz ist Militärexperte und schreibt scharfe Analysen für das oppositionelle Portal ej.ru, das wegen seiner Kritik an der Ukraine-Politik des Kreml seit Jahren im russischen Web gesperrt ist – als Kontrastfolie zu Putins Syrien-Politik und die außenpolitischen Schritte hebt Golz die innenpolitischen Töne und Maßnahmen in Russland hervor.

Deutsch
Original
Vom Katastrophenschutzministerium wurden bislang nie dagewesene Übungen zur Zivilverteidigung abgehalten, an denen, so die offiziellen Zahlen, mehr als 40 Millionen Menschen beteiligt waren. Als Bilanz vermeldete der Vize-Chef des Moskauer Katastrophenschutzes Andrej Mischtschenko eine fabelhafte Nachricht für die Hauptstadtbewohner: Alle zwölf Millionen könnten im Notfall in wohnlich ausgestatteten Bunkern unterkommen.

Doch vor feindlichen Bomben und Raketen Zuflucht zu suchen, reicht nicht aus. Man muss unter dem Schutzdach der Betondecke auch etwas essen. Und da folgt eine erfreuliche Nachricht aus Sankt Petersburg. Der dortige Gouverneur Poltawtschenko bestätigte die Versorgungsnormen der nördlichen Hauptstadt mit Brot. Er verpflichtete seine Untergebenen, so viel Roggen und Weizen einzulagern, dass jeder der fünf Millionen Petersburger über 20 Tage mit je 300 Gramm Brot versorgt werden kann.

Министерство по чрезвычайным ситуациям проводит невиданные доселе учения по гражданской обороне, которые, как утверждают, охватили свыше 40 миллионов человек. И по их результатам заместитель начальника столичного управления МЧС Андрей Мищенко сообщил москвичам замечательную новость: все 12 с лишним миллионов будут укрыты в случае необходимости в гостеприимных бомбоубежищах.

Но мало укрыться от вражеских бомб и ракет. Под сенью бетонных потолков надо еще чего-то есть. И вот радостная весть из Санкт-Петербурга. Тамошний губернатор Полтавченко утвердил нормы снабжения хлебом жителей северной столицы. Он обязал своих подчиненных держать столько ржи и пшеницы, чтобы обеспечить каждого из пяти миллионов петербуржцев 300 граммами хлеба в течение двадцати дней.

 
erschienen am 11.10.2016

Izvestia: USA verweigern gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus

Die USA, so der Politologe Andrej Manoilo in der regierungsnahen Tageszeitung Izvestia, hätten sich mit ihrer Politik im Nahen Osten selbst diskreditiert.

Deutsch
Original
Die Politik des Weißen Hauses seit Beginn der 2000erJahre verwandelte die USA und das große amerikanische Volk von absoluten Gegnern des internationalen Terrorismus zu de facto Gehilfen. [...]

In den Beziehungen zwischen Russland und den USA befinden wir uns aktuell an einem Wendepunkt, von dem aus unsere Beziehungen jede Sekunde entweder in Richtung Frieden oder in Richtung Konflikt rutschen können. Wir und die Vereinigten Staaten befinden uns an einem Scheideweg: Es gibt einen Weg der Rettung, das ist der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus.

Der jedoch wird von Washington aus irgendeinem Grund wütend abgelehnt. Unter solchen Bedingungen kann jede unbedachte Bewegung tödliche Folgen haben, nicht nur für zwei Weltmächte, sondern auch für den gesamten Rest der Welt.

Ein Krieg bleibt nach wie vor nicht unausweichlich, doch aufgrund der Bedrohung seitens der USA steigt das Risiko unterdessen über alle Maßen.

политика, проводимая Белым домом с начала 2000-х годов, превратила США и великий американский народ из непримиримых противников международного терроризма в его фактических пособников. [...]

Нынешняя фаза развития отношений России и США является, по сути, поворотной точкой, из которой наши отношения в любую секунду могут скатиться как в сторону мира, так и в сторону конфликта. Мы с Соединенными Штатами — на распутье: спасительный путь есть, это путь совместной борьбы с терроризмом.

Однако он почему-то яростно отвергается Вашингтоном. В этих условиях любое неосторожное движение может стать гибельным не только для двух мировых держав, но и для всего остального мира в целом.

Война по-прежнему не является неизбежной, но ее риски сегодня благодаря угрозам со стороны США явно зашкаливают.

 
erschienen am 11.10.2016

Slon: Neu belebter Antiamerikanismus

Der Politologe Wladimir Pastuchow spricht in seinem Kommentar für das liberale Webmagazin slon.ru von „hysterischem Antiamerikanismus“, der noch aus Sowjetzeiten bestehe und, wie sich in diesen Tagen zeige, leicht zu entfesseln sei.

Deutsch
Original
Er ist noch nicht verschwunden, der gute alte Antiamerikanismus aus sowjetischen Tagen, der auch bis heute noch mehrere politisch aktive Generationen vereinnahmt hat. Er glomm tief im Unterbewussten und man brauchte nur ein Streichholz nehmen, um diesen Leitstern der sowjetischen Propaganda wieder zum Leuchten zu bringen. [...]

Millionen Menschen atmeten erleichtert auf, als sie für alles eine einfache und verständliche Erklärung fanden. Es irritiert sie nicht, dass es in ihren Ansichten unversöhnliche Widersprüche gibt: Amerika liegt im Sterben und unterjocht gleichzeitig die ganze Welt. Mal ist es die einzige Supermacht, mal ist es geopolitisch eine „lahme Ente“.

Verschwörungstheorien sprießen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen: Es gibt kein Verbrechen in der Welt, keinen Konflikt, keine Dummheit und keine Gemeinheit, die nicht vorher von den Amerikanern geplant worden wäre.

[...] не выветрился еще старый добрый советский антиамериканизм, который впитывали в себя несколько политически активных и по сей день поколений. Он тлел глубоко в подсознании, и достаточно было поднести спичку, чтобы эта путеводная звезда советской пропаганды снова загорелась. [...]

Миллионы людей вздохнули с облегчением, найдя всему простое и понятное объяснение. Их не смущает, что в их воззрениях есть непримиримое противоречие: Америка одновременно умирает и порабощает мир. Она то единственная сверхдержава, то геополитическая «хромая утка». Теории заговоров растут как грибы после дождя – нет такого преступления в мире, нет такого конфликта, такой глупости или подлости, которая не была бы заранее спланирована американцами.

 
erschienen am 13.10.2016

Snob: Kreml treibt künftige US-Regierung vor sich her

Mit dem Aussetzen des Plutonium-Abkommens und anderen konfrontativen Akten versuche sich Russland kurz vor der US-Präsidentschaftswahl einen strategischen Vorteil zu erspielen, meint Alexander Baunow. Auf Snob schreibt der Chefanalyst des Moskauer Carnegie Zentrums, der Kreml habe diesen neuen Tiefpunkt bewusst gesetzt, um selbst die Initiative zu haben:

Deutsch
Original
Durch die scharfen Worte und Handlungen Russlands soll der zukünftigen Administration der USA Raum für Initiativen genommen werden wenn es darum geht, die bilateralen Beziehungen herunterzufahren auf ein Niveau, das der unheilvollen Rolle entspricht, die man Russland im amerikanischen Wahlkampf zugeschrieben hat.

Es ist ein Versuch, für den Moment der Machtübergabe im Weißen Haus eine Situation zu schaffen, in der die Initiative zur Verschlechterung der Beziehungen nicht von den USA ausgehen kann, weil es für eine solche Initiative schlicht keinen Raum mehr gibt.

Der Wunsch, Russland zu bestrafen wird künftig dadurch erschwert, dass das zu einem äußerst gefährlichen Level in den Beziehungen führen würde. Und falls der russische Favorit die US-Wahlen gewinnen sollte, kann man die gegenwärtige Verschlechterung leicht zurückspielen, ohne seine Reputation groß zu schädigen. Denn das wäre dann nicht etwas Neues, Prorussisches, sondern einfach eine Rückkehr zur kürzlichen Normalität. [...]

Das ist eine effektive politische Entscheidung, die Putin außerdem großen Handlungsspielraum gibt bei konkreten Angelegenheiten wie Aleppo oder dem Donbass. Allerdings birgt sie eine offensichtliche Gefahr: Am äußersten Tiefpunkt angekommen, kann es sein, dass man feststellt: Es geht noch weiter nach unten.

Резкие слова и действия России – способ лишить будущую администрацию США инициативы в деле редукции двусторонних отношений к уровню, соответствующему зловещей роли, которую приписали России на американских выборах.

Это попытка создать к моменту передачи Белого дома новому обитателю такую ситуацию, при которой инициатива ухудшения отношений не могла бы исходить от США просто потому, что пространства для такой инициативы уже просто не найдется. Желание наказать Россию будет затруднено тем, что оно уведет на запредельно опасный уровень отношений. Ну а в случае победы российского фаворита нынешнее одномоментное ухудшение можно будет легко отыграть назад без большого ущерба для его репутации, ведь это будет не что-то новое, пророссийское, а просто возвращение к недавней норме. [...]

Это эффектное политическое решение, которое к тому же дает большую свободу действий для Путина в частных вопросах вроде Алеппа и Донбасса, содержит в себе очевидную опасность: под найденным дном может оказаться другое, более глубокое.

 
erschienen am 6.10.2016

Gazeta.ru: Schlechte Zeiten haben Kontinuität

Fjodor Ljukanow ist auf Fragen der russischen Außenpolitik spezialisiert. Für die Internetzeitung Gazeta.ru zieht der Chefredakteur des Magazins Russia in Global Affairs angesichts der aktuellen Spannungen historische Parallelen zur Jelzin-Ära und meint, es sei geradezu eine Gesetzmäßigkeit, dass sich das Verhältnis zwischen Russland und den USA – aufbauend auf einem Grundkonflikt – in Wahlkampfzeiten kontinuierlich verschlechtere.

Deutsch
Original
[Der Verlauf der russisch-amerikanischen Beziehungen – dek] ist den Wahlkampfzyklen unterworfen. In ihnen kann es Schwankungen in die eine oder andere Richtung geben, aber am Ende einer jeden Kadenz erfahren sie ganz sicher eine weitere Verschärfung.

„Bill Clinton hat sich erlaubt, Druck auf Russland auszuüben. Er hat offensichtlich – für eine Sekunde, eine Minute, eine halbe Minute lang – vergessen, wer Russland ist. Dass Russland ein ganzes Arsenal an Atomwaffen besitzt. Clinton entschied sich für Muskelspiele.

Ich will Clinton an dieser Stelle etwas sagen: Er möge nicht vergessen, in welcher Welt er lebt. Es war nie so und es wird nie so sein, dass er allein der Welt diktiert, wie sie zu leben hat. Eine multipolare Welt – das ist die Grundlage von allem. Es ist so, wie ich mich auch mit dem Staatsoberhaupt der Volksrepublik China, Jiang Zemin, verständigt habe: Wir werden der Welt Vorgaben machen, nicht er allein.“

Jelzin sprach diese Worte bei seiner letzten Auslandsreise als Staatschef – in Peking im Dezember 1999. Bis zu seinem aufsehenerregenden Rücktritt blieben zu diesem Zeitpunkt noch etwas mehr als drei Wochen.

Diese Aussagen waren im Wesentlichen ein Schlusspunkt unter den ereignisreichen Beziehungen der beiden Länder und zwischen beiden Präsidenten in den 1990er Jahren (die sich offiziell gegenseitig Freunde nannten). Jelzins scharfe Reaktion war eine Antwort auf die Bemerkung Clintons, dass Russland für sein Vorgehen in Tschetschenien „teuer bezahlen werde“ – der Westen bereitete damals gerade Sanktionen vor. [...]

Letztlich geht es im Grunde auch nicht danach, ob die Chemie zwischen den Präsidenten stimmt (zwischen Putin und Bush gab es sie ja), sondern genau darum, worüber Jelzin damals in Peking 1999 gesprochen hat. Russland war nie bereit, sich in eine von den Amerikanern geführte Weltordnung einzupassen, und hatte zugleich nicht die Kraft, diese ernsthaft herauszufordern. Auch den USA fehlte immer die Kraft, die Welt wirklich zu ordnen, aber sie sind zugleich nicht bereit, von dieser Idee abzulassen.

Она привязана к избирательным циклам, внутри которых могут быть колебания в ту и другую сторону, но к завершению очередной каденции обязательно случается обострение.

«Билл Клинтон позволил себе надавить на Россию. Он, видимо, на секунду, на минуту, на полминуты забыл, что такое Россия, что Россия владеет полным арсеналом ядерного оружия. Клинтон решил поиграть мускулами. Хочу сказать через вас Клинтону: пусть он не забывает, в каком мире живет. Не было и не будет, чтобы он один диктовал всему миру, как жить. Многополюсный мир — вот основа всему. То есть так, как мы договорились с председателем КНР Цзян Цзэминем: мы будем диктовать миру, а не он один».

Слова Бориса Ельцина прозвучали во время его последнего зарубежного визита в ранге главы государства — в Пекин в начале декабря 1999 года. До сенсационной отставки оставалось чуть больше трех недель, и это высказывание по существу подвело черту под насыщенными отношениями двух стран и двух президентов (которые официально именовали друг друга друзьями) в девяностые годы.

Резкая реакция Ельцина последовала в ответ на замечание Клинтона, что Россия «дорого заплатит» за свои действия в Чечне, — Запад готовил санкции. [...]

Однако в основе, конечно, не наличие или отсутствие «химии» между лидерами (у Путина и Буша она как раз была), а то, о чем в декабре 1999 года говорил в Пекине Борис Ельцин. Структурно Россия никогда не была готова вписаться в мир, которым руководит Америка, но и не имела сил бросить серьезный вызов. А у Америки никогда не хватало сил этот мир по-настоящему выстроить, но она не готова и отказаться от этой идеи.

 
erschienen am 7.10.2016

dekoder-Redaktion

 

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Gegensanktionen

Nach der Angliederung der Krim verhängten die USA, die EU und einige weitere Staaten Sanktionen gegen Russland. Daraufhin beschloss Russland am 6. August 2014, Gegensanktionen gegen westliche Produkte einzuführen.1 Dabei handelt es sich vorwiegend um Einfuhrverbote von Lebensmitteln wie Fleisch-, Fisch- und Molkereiprodukte sowie Obst und Gemüse. Die europäische Landwirtschaft, für die Russland der zweitwichtigste Absatzmarkt ist, musste signifikante Einbußen hinnehmen: alleine zwischen Januar und Mai 2015 sanken die russischen Importe aus den sanktionierten Staaten um 26 Prozent, deutsche Agrarverbände beklagten zum Ende Juli 2016 Exportrückgänge in Höhe von rund einer Milliarde Euro. 

Während die europäischen Produzenten ihre Einbußen durch die Erschließung neuer Märkte weitgehend kompensieren konnten, hoffte die russische Landwirtschaft durch das Embargo auf einen Impuls für die eigene Lebensmittelerzeugung, der bisher jedoch ausblieb. Stattdessen stiegen die Importe aus anderen Erdregionen wie Asien und Südamerika. Der seit Herbst 2014 schwächelnde Rubelkurs, die steigende Inflation sowie erhöhte Transportkosten ließen viele Lebensmittelpreise in Russland je nach Produktart zwischen 20 Prozent und 90 Prozent steigen.

Auch Qualität und Angebot litten unter den Gegensanktionen; viele Produkte wurden aus dem Sortiment genommen. Russische Verbraucher klagen zunehmend über die schlechte Qualität einiger heimischer Lebensmittel: Die Verbraucherschutzorganisation Roskontrol schätzt, dass etwa 70 Prozent der Milchprodukte, wie zum Beispiel Käse, falsch deklariert und nicht wie ausgezeichnet aus Milch, sondern aus qualitativ minderwertigem Palmöl hergestellt werden.2 Diese Folgen bekommt vor allem die Mittelschicht in den Großstädten zu spüren, die nun auf liebgewonnene Produkte wie Käse aus Frankreich oder Sushi aus Japan verzichten muss.

Clevere Händler versuchten, die Gegensanktionen zu umgehen, indem sie die sanktionierten Lebensmittel über Belarus importierten, wo die Produkte umetikettiert wurden. In den sozialen Netzwerken kursieren zahlreiche Geschichten über „belarussischen“ Lachs, der in dem Land ohne Meereszugang umdeklariert wird, aber eigentlich aus Norwegen stammt.  

Im August 2015 kündigte die russische Regierung an, rigoros gegen solche Praktiken vorzugehen und lässt illegal importierte Lebensmittel seither in großem Maßstab medienwirksam vernichten. Sowohl die Motive dahinter3, als auch die Aktion an sich sind allerdings umstritten: Während die Gegensanktionen laut einer Bevölkerungsumfrage im August 2015 von der großen Mehrheit (70 Prozent) getragen werden, wird die Vernichtung der Lebensmittel angesichts steigender Preise und der wieder zunehmenden Armut im Land nur von 40 Prozent der Bevölkerung unterstützt.4 Die größten Befürworter Putins unterstützen jedoch auch diese drastischen Maßnahmen: So gibt es zum Beispiel junge Aktivisten, die in Lebensmittelgeschäften gezielt nach sanktionierten Waren suchen, diese als solche kennzeichnen und gleichzeitig Werbung dafür machen, mehr russische Produkte zu essen, um die eigene Landwirtschaft zu unterstützen.


1.Belaya, Vera (2015). Russlands Importverbot für Agrarprodukte und die Folgen für die russischen und europäischen Agrarmärkte, in: Russland-Analysen 2015 (293), S. 2-6
2.Gaseta.ru: Kowo nakasali antisankzii
3.Washington Post: Russia’s food burning campaign is an irrational show of control
4.Lewada.ru: Eda nushna narodu
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Krim

Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Die Wahlbeteiligung und die rund 90-prozentige Zustimmung für Putin auf der Krim stellt der Kreml als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland dar. Gwendolyn Sasse über die mythenumwobene Region, das Narrativ der „russischen Krim“ und die Selbstwahrnehmung der Krim-Bewohner nach der Angliederung an Russland. 

 

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Sanktionen

Als Reaktion auf die Angliederung der Krim und Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine verhängten die EU und die USA im Jahr 2014 Sanktionen gegen Russland. 2018 beschlossen die USA neue Sanktionen, unter anderem wegen Hackerangriffen und Syrien. Seitdem wird diskutiert: Sind Sanktionen sinnvolle Mittel, um Moskau Grenzen aufzuzeigen? Oder schüren sie nur die Eskalation? Janis Kluge über die Strafmaßnahmen und ihre Wirkung.

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Premierminister

Der Premierminister oder Ministerpräsident ist nach dem Präsidenten die zweite Amtsperson im russischen Staat. Er ist vor allem für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich.

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Lewada-Zentrum

Kurz vor der Dumawahl 2016 war es soweit: Das Lewada-Zentrum, das als das einzige unabhängige Meinungsforschungsinstitut Russlands gilt, wurde als ausländischer Agent registriert. Dem international renommierten Institut droht nun die Schließung. Weshalb das Lewada-Zentrum den russischen Behörden schon seit Jahren offenbar ein Dorn im Auge ist, erklärt Eduard Klein.

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Higher School of Economics

Die Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

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Präsidialadministration

Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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