„Torhüter Djumin ist einer, der galant den Puck ins Tor gleiten lässt, wann immer Wladimir Putin zum Schuss ansetzt.“1 Diese Szene aus der Nachthockeyliga, in der Alt-Stars gegen auserlesene Vertraute Putins antreten, steht bildlich für das innige Vertrauensverhältnis zwischen Putin und seinem ehemaligen Leibwächter. Im Februar 2016 ernannte Putin den damals 43-Jährigen zum Interimsgouverneur der unweit von Moskau gelegenen Oblast Tula. Kurz darauf bezeichnete der legendäre Journalist Sergej Dorenko, damals Chefredakteur des Radiosenders Goworit Moskwa, Djumin als wahrscheinlichsten Nachfolger Putins. Dorenko begründete sein Bauchgefühl folgendermaßen:
„Djumin würde das politische Erbe Putins niemals in Frage stellen und lässt auch Putin selbst nie im Stich. Er wäre ein hervorragender Präsident für die Silowiki der Armee und alle anderen. Er ist ebenso hervorragend als Garant der Sicherheit für einen ruhigen Lebensabend.“2
Seither sind über sieben Jahre vergangen. Djumin ist immer noch Gouverneur der Oblast Tula. Doch sein Stern leuchtete wieder auf, als Berichte über seine entscheidende Rolle bei der Abwendung des Vormarschs von Prigoshins Söldnertruppen erschienen. Manche sehen ihn bereits als potenziellen neuen Verteidigungsminister.
Bis zu seiner Berufung zum Gouverneur schien Alexej Djumin eine steile Karriere hinzulegen. Geboren am 28. August 1972 in Kursk, unweit der ukrainischen Grenze, erlangte er 1994 sein Diplom an der Woronesher Höheren Militäringenieurshochschule für Radioelektronik. Daraufhin war der Ingenieur für Nachrichtentechnik zwei Jahre bei der russländischen Luftwaffe tätig. Anschließend arbeitete er beim Föderalen Bewachungsdienst (heute Federalnaja Slushba Ochrany, FSO, damals noch Hauptabteilung für Bewachung). Der Nachrichtendienst ist nicht nur für die Sicherheit hochrangiger Staatsbediensteter im In- und Ausland zuständig, sondern auch für verschlüsselte Kommunikation. Im August 1999 wechselte Djumin in den Sicherheitsdienst des Präsidenten (Slushba Besopasnosti Presidenta, SBP), der wichtigsten Einheit des FSO. Bei diesem Aufstieg halfen auch Familienbeziehungen. Djumins Vater Gennadi – ein Militärarzt – trug durch seine Freundschaft mit dem Verteidigungsminister Pawel Gratschow (1992–1996) insbesondere in den 1990er Jahren zum Einstieg in den FSO und die folgende Karriere im Sicherheitsdienst bei. Diesen Werdegang bis hin zum stellvertretenden Leiter der Behörde hat Djumin sicherlich auch seiner Sozialisation in einer Militärfamilie und -hochschule mit ihrer hierarchischen Struktur zu verdanken. Dazu kommt seine frühe Bekanntschaft mit den informellen Praktiken des russischen „crony capitalism“ – ein Wirtschaftssystem, in dem der Staatsdienst mit persönlicher Bereicherung einhergeht.3
„Putin vertraut uns genauso wie sich selbst“
Im Laufe der ersten beiden Amtszeiten war es hauptsächlich die bedingungslose Loyalität gegenüber Putin, die Djumins Aufstieg begünstigte. „Putin vertraut uns genauso wie sich selbst.“ So beschrieb Djumin einmal das Verhältnis zwischen dem russischen Staatschef und seinen engsten Leibwächtern.4 Djumin streitet ab, jemals Putins persönlicher Adjutant gewesen zu sein. Allerdings sprechen einige Details seiner Biographie dafür, die Djumin von regulären Offizieren des präsidialen Sicherheitsdienstes unterscheiden.5
Zum einen gab er selbst in einem Interview preis,6 informelle Botschaften und Aufträge von Putin direkt an Minister und Gouverneure weitergegeben zu haben. Aufgrund seiner Nähe zum Präsidenten avancierte er zum Lobbyobjekt und Gatekeeper, der den Zugang zum Staatsoberhaupt regelte und Informationen überbringen konnte. Zudem war Djumin nicht nur Torhüter in der Nachthockeyliga und spielte mit Putin-Vertrauten, – wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Gouverneur der Region Moskau Andrej Worobjow, dem ehemaligen Innenminister Raschid Nurgalijew oder den Oligarchen Arkadi Rotenberg und Gennadi Timtschenko – er stieg auch zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Liga auf. 2012 fungierte er zeitweilig als Berater von Gennadi Timtschenko und dessen Petersburger Eishockeyklub SKA. Darüber hinaus erhielt Djumin während seiner Zeit im SBP Zugang zu exklusiven Grundstücken, die in der Nähe von Putins Residenzen in Nowo-Ogarjowo (Rubljowka) und im Waldai liegen. Letztlich sprechen mehrere Weiterbildungen dafür, dass Djumin in Putins Kaderreserve für höhere Aufgaben war: 2009 promovierte7 er mit einer Arbeit über Global Governance in der G8 an der RANCHiGS. 2013 absolvierte er eine Fortbildung in der Militärakademie des Generalstabs der russländischen Streitkräfte.
Djumin blieb auch Putins Leibwächter, als dieser in der Zeit der „Tandem-Herrschaft“ zwischen 2008 und 2012 Premierminister war. Die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt im Zuge der Rokirowka markierte nicht nur einen Bruch für das Putin-Regime. Eine weitere Herausforderung bestand darin, einen graduellen Generationenwandel in der Staatsverwaltung zu befördern, ohne dabei die Regimestabilität – und damit vor allem Putins Sicherheit – zu gefährden. Einige vormals hochrangige Sankt Petersburger Tschekisten mussten ihren Platz in der Elite verlassen. Als Ausgleich für das Bröckeln des Kooperativs Osero und die fortschreitende Alterung der verbleibenden Silowiki zog Putin eine Kohorte von Leibwächtern heran, zu denen er über die Jahre ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hat.8 Deren herausragendster Vertreter war Alexej Djumin. Ab 2013 kommandierte er die Sondereinsatzkräfte des Generalstabs. Diese Eliteeinheit übernahm besonders heikle Aufgaben, etwa bei der Annexion der Krim. Putin zeigte sich zufrieden und bekleidete Djumin mit Orden. 2015 folgte eine Beförderung zum Stabschef und stellvertretenden Oberkommandeur des russländischen Heeres. Bis zum Ende desselben Jahres stieg Djumin sogar zum stellvertretenden Verteidigungsminister auf. In dieser Position verblieb er allerdings weniger als zwei Monate. Anfang Februar 2016 ernannte Putin ihn zum Interimsgouverneur der Oblast Tula – ein vorläufiger Karriererückschritt, dem möglicherweise ein unterschwelliger Konflikt mit Verteidigungsminister Schoigu vorausging.
Ein Regionalpolitiker auf Zeit mit föderalem Lobbypotenzial
Von Beginn an galt Djumins Versetzung nach Tula in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Zwischenstation, sein Weg sollte zurück in die föderale Exekutive führen. Nicht nur begannen im Jahr 2016 die Spekulationen, Djumin könne im Rennen für die Putin-Nachfolge sein. Er stand auch laut Medien regelmäßig in der engeren Auswahl für prestigeträchtige Posten wie die Ministerien für Verteidigung oder Industrie und Handel. Dennoch versuchte Djumin von Beginn an, seine Moskauer Elitenetzwerke für sich und, bis zu einem gewissen Grad, für die Oblast Tula zu nutzen. Gleichzeitig weckten Unternehmen in der Oblast Tula vermehrt Interesse bei föderalen Eliteakteuren. Über diese versprach man sich Zugang zu Djumin und damit indirekt zu Putin, da dieser trotz Djumins Ausscheidens aus der Leibgarde für ihn weiterhin ein offenes Ohr behielt.
Schon seit der Zarenzeit ist Tula ein Standort für Waffenproduktion. Auch heute noch ist die Region eines der wichtigsten Zentren der russländischen Rüstungsindustrie: Über ein Dutzend strategische Unternehmen des militär-industriellen Komplexes haben hier ihren Firmensitz. Das Gros dieser Waffenschmieden kontrolliert der von Sergej Tschemesow geleitete Rüstungskonzern Rostec. Aber auch das global agierende Unternehmen Almas-Antei, dessen Vorstand der ehemalige Premier und Ex-Chef des Auslandsgeheimdienstes Michail Fradkow9 ist, hat in der Region eine bedeutende Präsenz.
Djumin ist Präsidiumsmitglied des Staatsrats – das wichtigste Koordinationsgremium zwischen dem föderalen Zentrum und den Regionen. Seit Dezember 2020 hat er den Vorsitz des Staatsratsausschusses für Industrie inne. Damit gehört Djumin zu den zentralen Funktionären des militär-industriellen Komplexes. Eines der letzten Treffen von Putin mit den Chefs der größten Rüstungsunternehmen fand etwa im Dezember 2022 in Tula statt.
Djumins tiefe Verwurzelung im russischen Elitenetzwerk verdeutlicht insbesondere der Sport. Obwohl Djumin als passionierter Hockeyspieler gilt, erlebte gerade der ehemals von Finanzsorgen geplagte Tulaer Fußballclub Arsenal ein neues Hoch. Seit Djumin Gouverneur von Tula geworden ist, konnte Arsenal zeitweise Sponsoringverträge mit Gazprom, Rostec, Rosneft sowie mit dem Metall- und Telekommunikationsmagnaten Alischer Usmanow an Land ziehen. Insbesondere der Rosneft-Boss Igor Setschin zeigte sich plötzlich höchst interessiert an der Oblast Tula: So erwarb Rosneft die traditionsreiche Gouverneursresidenz, die Djumin seither selbst nutzt. Rosneft gab 2016 bekannt, dass er in der Region vermehrt im Rahmen der Importsubstitution produzieren wolle. Des Weiteren betreibt Igor Setschin im Gebiet Tula ein weitläufiges Jagdgebiet.
Djumins Netzwerke und der Wagner-Aufstand
Djumins Beziehungen zu Eliteakteuren gehen aber weit über die Rüstungsindustrie und den Sport hinaus. Sie bieten zumindest einen Einblick in Djumins Positionierung vor und während des Wagner-Aufstands. Tschetscheniens Gewaltherrscher Ramsan Kadyrow spricht von Djumin als „älterem Bruder“,10 nach außen projizieren sie ein vertrauensvolles Verhältnis. Kadyrow pflegt ebenfalls enge Beziehungen zum Chef der Nationalgarde, Viktor Solotow, der viele Jahre Djumins direkter Vorgesetzter war. Djumin hat vielfältige private Kontakte zum Gouverneur der Oblast Moskau Andrej Worobjow: Sie gehen zusammen auf die Jagd, besteigen den Elbrus oder pilgern zum Berg Athos. Worobjow zählt aufgrund der Freundschaftsbande zwischen seinem Vater Juri Worobjow und Sergej Schoigu zu dessen engstem Vertrautenkreis jenseits des Verteidigungsministeriums. Deswegen gehören Djumin sowie Dimitri Mironow, ebenfalls ein ehemaliger FSO-Adjutant Putins, zum erweiterten Clan Schoigu-Worobjow-Timtschenko. Dennoch bleibt derzeit offen, wie angespannt das Verhältnis zwischen Schoigu und Djumin ist. Denn schon im Oktober 2022 berichteten unabhängige russische Medien, dass Prigoshin, Kadyrow und auch Mironow die Ernennung Djumins als neuen Verteidigungsminister lobbyierten. Sie begründeten dies mit den Rückschlägen der russländischen Armee an der ukrainischen Front.11
Auch sein Verhältnis zu Prigoshin zeugt davon, dass Djumins Haltung zu Schoigu im besten Fall ambivalent ist und bei weitem nicht immer der Linie des Verteidigungsministeriums entspricht. Die Bekanntschaft der beiden datiert auf die Zeit, als Prigoshin das Catering für Putins Staatsempfänge übernahm. Djumin war dabei für die Sicherheit zuständig. Geleakte Telefon- und SMS-Daten aus den Jahren 2013 und 201412 legen nahe, dass Prigoshin und Djumin in regelmäßigem Kontakt standen, in den Jahren 2012 bis 2022 hatten die beiden mindestens 33 persönliche Treffen.13
Djumin spielte eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Söldnergruppe Wagner und machte gar den ehemaligen GRU-Offizier Dimitri Utkin mit Jewgeni Prigoshin bekannt. Als Djumin 2016 das Verteidigungsministerium verließ, gingen die Staatsaufträge der Behörde an Prigoshin-Strukturen zurück. Gleichzeitig bekamen mit Prigoshin affiliierte Unternehmen vermehrt Aufträge in der Oblast Tula, etwa um die Tulaer Version des Park Patriot des Verteidigungsministeriums zu bauen. Und als Prigoshin im Spätherbst 2022 von der Präsidialadministration die Erlaubnis bekam, in Gefängniskolonien Häftlinge für seine stark dezimierte Söldnertruppe Wagner anzuheuern, so betrieb er dies insbesondere auch in der Oblast Tula.
Dass die Wagner-Söldner beim „Marsch“ auf Moskau noch vor der Region Tula zum Stillstand kamen und wieder umkehrten, trug umso mehr zum „Mythos Djumin“ bei. Djumin selbst schwieg sich am Wochenende des Aufstands aus und ließ über seinen Pressedienst verkünden, dass er nicht an den Verhandlungen über die Beilegung des Aufstands beteiligt gewesen war. Am Sonntag, den 25. Juni, verbreitete Djumin ein Video, in dem er die neu geschaffene Söldnertruppe Tula besuchte. Diese hatte einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen.
Aus der Logik hochpersonalisierter autoritärer Regime heraus handelte Djumin in der heiklen Situation des Aufstands genau richtig. Er hielt sich öffentlich bedeckt und setzte im Hintergrund seine Ressourcen ein. Dabei schlug er sich demonstrativ auf die Seite Schoigus und des Verteidigungsministeriums. Gleichzeitig ließ er nicht den geringsten Verdacht aufkommen, dass er politische Ambitionen jenseits der Oblast Tula an den Tag legt. Denn wer sich zu früh in Stellung bringt, sei es für das Amt des Verteidigungsministers oder gar die Nachfolge Putins, der riskiert, dass konkurrierende Elitegruppen einem den Garaus machen. Derzeit bleibt unklar, inwiefern Djumin über unabhängige Machtressourcen und ein eigenes Team verfügt, die auch ohne Putins Patronage Bestand hätten.
Djumins Aufstieg ist einerseits sehr individuell. Andererseits ist er ein typisches Beispiel für die dynastische Weitergabe von Sozialkapital über Generationen und Regimewechsel hinweg.15 Die Person Djumin charakterisiert somit einen schleichenden Generationenwandel im Putin-Regime. Sie zeigt aber auch, wie putinistisch ein Russland selbst nach Putin aussehen könnte – unabhängig davon, ob Djumin Putins Nachfolger sein wird oder nicht.