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Totale Aufarbeitung?

„Auch wenn es schrecklich klingt: Mir macht nicht so sehr der Krieg selbst Angst, sondern vielmehr wie er in Russland wahrgenommen wird.“ Auf diese Formel bringt der Politologe Wladimir Pastuchow den Rückhalt des Präsidenten Putin in der russischen Gesellschaft. Dieser liegt laut aktuellen Umfragen bei über 80 Prozent. Obwohl der Wert von Meinungsumfragen in autoritären Regimen strittig ist, ist für den Politologen damit implizit klar, dass dieser Rückhalt grundlegend ist für das System Putin – dass der Krieg erst dadurch möglich wurde.

Zahlreiche Analysten haben den Kitt dieses Rückhalts in vergangenen Jahren als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. 

Das dadurch entstandene Weltbild gelte als unumstößlich, meint Pastuchow. Aus diesem Grund müsse das Übel an der Wurzel gepackt werden: Jede Verbreitung von Gedanken, die irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen, müsse zum absoluten Tabu werden. Die ideologische Aufarbeitung müsse total sein.

Systematische Einschränkung des Pluralismus zwecks Aufbau eines liberal-demokratischen Staates? Heiligt der Zweck die Mittel? Pastuchows Analyse sorgt in liberalen Kreisen Russlands für hitzige Diskussionen. Sein Text ist am 23. März in der Novaya Gazeta erschienen. Fünf Tage bevor die Zeitung bekannt gab, ihre Arbeit bis Ende des Kriegs einzustellen. 

Quelle Novaya Gazeta

Es liegt mir fern, dem Präsidenten Plagiat vorzuwerfen. Aber neu ist an dem, was Putin heute sagt, nur die Tatsache, dass es Putin sagt. All diese Ideen sind Zersetzungsprodukte der kommunistischen Ideologie, die erst jahrzehntelang im Untergrund der sowjetischen Stagnation vor sich hin gerottet und dann nutzlos in den Hinterhöfen der „wilden 1990er“ herumgelegen haben.

Nichts fällt einfach so vom Himmel. Die neue Paranormalität ist nicht das Resultat von Putins Fantasie. Die Mythologie der „Spezialoperation“ ist weder eine kreative Schöpfung Putins noch seiner Administration. Sie kam von außen in den Kreml hinein, wurde vom Zerrspiegel der russischen postkommunistischen Macht reflektiert und dann wieder in die Außenwelt zurückgeworfen – nämlich als das Konzept der Russischen Welt, die einem Stör ähnelt – und zwar nicht zweiten, sondern nur dritten Frischegrades.

Die drei Quellen bzw. drei Bausteine des Putinismus

Diese ziemlich flache Erdscheibe ruht – wie auf alten russischen Stichen – auf drei Walen: dem orthodoxen Fundamentalismus, der Slawophilie und dem Stalinismus (einer radikalen Version des russischen Bolschewismus). Schon die Aufzählung dieser „geistigen Wurzeln“ zeigt, dass man diese Ideologie nicht auf der Müllkippe gefunden hat (obwohl das vielen genau so vorkommt), sondern als Rutenbündel, dessen Wurzeln ganz tief, bis in die dunkelsten Keller der russischen Geisteskultur zurückreichen. Und ich glaube, genau aus diesem Grund hat die Propaganda dermaßen eingeschlagen.

Aus dem Untergrund ins Lushniki-Stadion

Die Perestroika war die Benefizgala einer „Neuauflage“ der russischen Westler. Alle anderen Geistesströmungen wurden zunächst in den Hintergrund geschoben und nach 1993 ganz in den Untergrund gedrängt. Dort degenerierten sie und zersplitterten zu Sekten: Gumiljow-Anhänger, Stalinisten, radikale Orthodoxe und andere. Sie hatten eigene Propheten wie Kurginjan, Dugin oder Prochanow (und noch viele, viele mehr), die sie als Heilige verehrten. Unter Druck geraten, begannen sich diese Geistesströmungen aktiv zu vermischen, und heraus kamen die bizarrsten, abwegigsten Kombinationen, zum Beispiel orthodoxe Stalinisten oder linke Eurasisten.

Sie hätten noch jahrzehntelang so vor sich hinrotten können, aber Anfang des 21. Jahrhunderts fand sich ein Großabnehmer für diesen ganzen Sondermüll – in Person der neuen Macht.

Parallel dazu war nämlich in der Politik ein anderer Prozess vonstatten gegangen: Eine kleine, aber eingeschworene Gruppe von „Petersburgern“ hatte kraft nur teilweise zufälliger Umstände fest die Zügel der Macht an sich gerissen und brauchte für ihre politischen Ambitionen dringend einen ideologischen Überbau. Da sie selbst alle Merkmale einer esoterischen politischen Sekte aufwies, tendierte sie naturgemäß zu einer sektiererischen Weltanschauung. Aus diesem Grund gab es von Anfang an eine gegenseitige Anziehung zwischen den „Petersburgern“ und dem „orthodoxen Untergrund“. Die Frucht dieser Liebe ist das Oxymoron der Putin-Ära: die „orthodoxen Tschekisten“ – und ihr Manifest, das zwischen 2005 und 2010 anonym herausgegebene mehrbändige Werk Projekt Russland.

Bis 2012 blieb der „Geheimbund der Schwerter und Pflugscharen“ allerdings weitgehend unbekannt. Die Kontakte fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die außerehelichen Ideen, die aus ihnen geboren wurden, versuchte der Kreml nicht an die große Glocke zu hängen. Erst nach der gescheiterten Revolution von 2011 bis 2013 wurde der Schleier gelüftet. Den russischen Machthabern, die seit Anfang der 1990er Jahre nach einer Massenideologie gesucht hatten, wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit durch goldenen Sand gelaufen waren. Sie mussten nichts erfinden, es stand quasi alles schon bereit. Also hat der Kreml die „russischen Eurasier“ behutsam aus dem Dreck gefischt, sie gewaschen, gestriegelt und ihnen eine Krone aufgesetzt.

Der Effekt übertraf die kühnsten Erwartungen. Das orthodox-slawophile Mantra, das in der russischen Geisteskultur tatsächlich nicht weniger tief verwurzelt ist als das Westlertum, schlug wie eine Granate ein beim Volk, das durch jahrzehntelanges Chaos zermürbt und durch Gewalt korrumpiert war und den Schock des plötzlichen Zusammenbruchs des Imperiums noch nicht überwunden hatte. In seiner dekadentesten, bis ins Absurde getriebenen Form trat der russische Eurasianismus aus dem Untergrund empor und geradewegs auf die Bühne von Lushniki.

Das Symbol der Kreml-Religion

Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kremlideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen. Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven.

Die Überlegenheit der russischen Nation

Wie die meisten anderen Theorien dieser Art basiert sie auf einer hypertrophierten Vorstellung von der Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der man Züge eines einzigartigen und unvergleichlichen historischen Subjekts verleiht. Diese These hat zwei Vektoren: einen äußeren und einen inneren. Der innere Vektor impliziert die Anerkennung des bedingungslosen Vorrangs der Nation vor dem Individuum. Der äußere – die Anerkennung einer absoluten Überlegenheit der russischen Nation gegenüber allen anderen Nationen und Völkern. In ihrer tragikomischsten Form kommt diese These in den Worten eines der wichtigsten Hofideologen [des ehemaligen Kulturministers Wladimir] Medinski zum Ausdruck, der behauptete, die Russen hätten ein zusätzliches Chromosom.

Minderwertigkeit der anderen Nationen

Einer der Eckpfeiler der neuen Ideologie ist die These, dass nur die russische Nation in der Lage sei, einen vollwertigen souveränen Staat zu bilden. Den meisten anderen Nationen spricht der Kreml diese Fähigkeit ab und betrachtet sie lediglich als „Stellvertreter“ der USA, die nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten. Besonders minderwertig sei in dieser Hinsicht die Ukraine, deren Staatlichkeit nach Meinung des Kreml künstlich sei und ausschließlich dank der Unterstützung von außen bestehe.

Die Existenz eines natürlichen Feinds

In der Vorstellung der Kremlideologien hat die russische Nation einen Blutfeind: die Angelsachsen. Wie es sich für einen mythischen Feind gehört, bilden auch die Angelsachsen eine mythische Kategorie. Wenn es sich dabei um die modernen Briten und, von ihnen abgeleitet, die Amerikaner handeln soll, dann sind das wohl eher Normannen, die seinerzeit die Angelsachsen auseinandergetrieben und assimiliert haben, aber wen kümmern schon die Details. Je weniger real die Angelsachsen sind, desto besser eignen sie sich als natürliche Feinde.

Ihre Projektion innerhalb des Landes ist die „fünfte Kolonne“, die sich von einer politischen Kategorie nun zu einer ethnisch-kulturellen gewandelt hat: Das sind alle, die den Angelsachsen geistig nahestehen. Die Haupt-Handlanger der Angelsachsen sind jetzt den Umständen entsprechend die Ukrainer, aber das ist eine rein funktionale Entscheidung, an ihrer Stelle könnte jeder andere stehen.

Die Ukraine als Heiliger Gral

In der Tradition von Solschenizyn und anderen Eurasiern misst der Kreml der Kontrolle über die Ukraine besondere, mythische Bedeutung zu. Die von niemandem rational begründete These, dass das Russische Reich nicht existieren kann, wenn nicht die Ukraine dazugehört, wird als unbedingtes Axiom akzeptiert und ist grundlegend für alle geopolitischen Konstruktionen des Kreml. Die Ukraine ist nach seinem Verständnis sowohl heilige Messen wert als auch eine „Spezialoperation“, die man im Zentrum Europas als letzte und entscheidende Schlacht inszenieren kann.

Das Recht auf Krieg

Allein die Existenz eines heiligen Ziels rechtfertigt den Krieg als Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Beigemischt wird Nietzsche mit einer Prise Dostojewski: „Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht?“. In der Vorstellung des Kreml bedeutet „können“ sowohl „das Recht dazu haben“, als auch „müssen/sollen“. Die neue Ideologie ist in dieser Hinsicht eine Apotheose jenes Kults der Stärke, der jahrelang die esoterische Religion des Petersburger Clans war. Der Militarismus der neuen Ideologie ist keine Notwendigkeit, sondern ihr innerster Kern.

Die Idee von der Normalität des Krieges

Die Rehabilitation des Krieges nicht nur als mögliches, sondern als das wirksamste Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele ist die natürliche Fortsetzung der Philosophie der Gewalt. Die apokalyptisch-mythische Vorstellung, dass der Krieg ohnehin unvermeidlich ist, weil die USA ihn entfesseln würden, um ihren unabwendbaren finanziellen und moralischen Bankrott zu verhindern, verstärkt den eigenen Militarismus, und sogar den Willen, als Erster anzufangen, weil man sich davon irgendwelche illusorischen Vorteile ausrechnet.

Die Macht der Ideologie 

Der ohrenbetäubende Erfolg der militaristischen Propaganda, den wir heute von Moskau bis in die entlegensten Winkel des Landes beobachten können, ist keineswegs zufällig oder spontan. Er wurde nur möglich, weil der Kreml tatsächlich im Besitz einer umfassenden und perfekten „ideologischen Massenvernichtungswaffe“ ist. Die Ideologie des russischen Hypernationalismus hat es geschafft, die Eliten im Kreml zu vereinen, und zwar nicht von außen, sondern von innen heraus, nicht durch Furcht, sondern durch den Glauben. Ich vermute, dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich mit diesem Virus infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens.

Dabei ist nicht gesagt, dass alle auf dieselbe primitive Weise glauben, in jener karikierten Form, in der die Solowjows und Kisseljows uns diese Irrlehre darbringen. Es kann auch eine ausgefeilte Philosophie sein. Diese neue Ideologie wird künftig bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen, die individuellen Unterschiede und Interessen der einzelnen Führer dagegen eine immer kleinere. Entsprechend werden der Militarismus und die Aggressivität des Regimes nur zunehmen. Es wird versuchen, sämtliche verfügbaren Räume auszufüllen, die man ihm lässt, solange, bis es auf eine andere Kraft stößt, die es nicht imstande ist zu bezwingen.             

Wie holen wir Russland zurück?

Mitte der 1990er Jahre veranstalteten die legendären [Wissenschafts-]Urgesteine, Saslawskaja und Schanin in Moskau die unter Intellektuellen sehr beliebte Reihe Wohin steuert Russland?. Bei diesen Treffen warnte ich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit davor, dass Russland absolut nicht dorthin steuere, wo die Anwesenden es haben wollten, und dass alles mit einer neuen UdSSR enden würde. Heute, da Russland schließlich genau dort angelangt ist, stellt sich eine neue Frage, und zwar, ob man es von dort zurückholen kann. Offen gesagt, Beispiele für eine erfolgreiche Rückkehr von diesem Ort mit drei oder sechs Buchstaben gibt es in der überschaubaren historischen Vergangenheit nur wenige, und wenn, dann kehrten die Betreffenden im Schlepptau eines fremden Panzers zurück.

Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Der Zustand nämlich, in dem sich die russische Gesellschaft heute befindet. Wir beobachten einen emotionalen Flächenbrand, der nicht ewig andauern kann. 

Es gibt zwei Szenarien, wie man diese Fackel zu einem Ewigen Licht machen könnte, doch beide sind im heutigen Russland nur schwer vorstellbar. 

Im ersten Szenario wird die Flamme mit fremden Ressourcen genährt – so wie Nordkorea von China. Aber so viel kann China gar nicht schultern.

Im zweiten Szenario kann man sich wärmen, indem man selbst Stück für Stück abbrennt – die Variante der stalinistischen Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert auf Kosten der ausgebeuteten russischen Bauernschaft betrieben wurde. Das Problem ist allerdings, dass alle Bauern schon vor hundert Jahren enteignet wurden und es in Russland niemanden mehr gibt, den man massenhaft ausrauben könnte. 

Bleibt also nur die Option, relativ schnell (wenige Monate bis Jahre) auf diesem Scheiterhaufen des „kalten“ Bürgerkriegs zu verbrennen. Übrig bleibt: ein Aschehäuflein mit Resten schwelender ziviler Apathie. Ich kann nicht vorhersagen, wie genau das Regime unter dieser Asche begraben werden wird, aber genau dieses Szenario halte ich mittelfristig für das wahrscheinlichste. Wobei ich den nuklearen Staub, der aus dem Kremlfernsehen rieselt, jetzt mal ausklammere. Könnte natürlich auch sein, dass da jemand kollektiven Selbstmord begehen will, dann kann man ihn schlecht davon abhalten, aber Selbstmörder bauen keine Paläste

Auf praktischer Ebene stellt sich bereits heute die Frage, wie wir Russland weniger anziehend machen, entmagnetisieren werden, wenn erstmal die Sektierer vom Kreml abgelassen haben. Der wichtigste Schluss, den die noch heißen Spuren nahelegen, ist folgender: So abstoßend die „russischen Typen“ auch sein mögen, die „russischen Ideen“ sind noch grauenerregender. 
Das russische Volk lebt innerhalb einer totalitären Matrix, die sich von Epoche zu Epoche reproduziert. Diese Matrix wird von den russischen Ideen erzeugt. Wie viele Zähne hat man sich an der nie erfolgten Aufarbeitung in den 1990er Jahren ausgebissen, und noch mehr werden es bei der noch bevorstehenden Aufarbeitung der 2030er (oder vielleicht schon 2020er) Jahre sein. 
Die ideologische Aufarbeitung muss total sein. Nachdem die russische Mentalität nach holistischen, mystischen und totalitären Gesinnungen regelrecht süchtig ist, wird man in Russland die Verbreitung von allen Ideen verbieten müssen, die sich ähnlich, symmetrisch oder identisch zu jenen verhalten, die in ihrer Steigerung zu einer Rechtfertigung der „Spezialoperation“ geführt haben. Jede Verbreitung von Gedanken, die direkt oder indirekt, unmittelbar oder mittelbar irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen – egal ob Orthodoxie, Kommunismus, Stalinismus, Nationalismus oder sonst irgendetwas –, jeder Versuch, solches Geistesgut in staatlichen oder außerstaatlichen Sphären zu verbreiten, muss ein absolutes Tabu werden. 
Angesichts der Komplexität des Problems sind zuallererst zwei Maßnahmen zu ergreifen: 

Entkirchlichung

In Russland muss eine strikte Antiklerikalisierung durchgeführt werden, in erster Linie – aber nicht nur – durch eine umfassende und reale Trennung der Kirche als solcher und speziell der orthodoxen Kirche von Schule und Staat. Die russisch-orthodoxe Kirche muss als Institution, die sich mit ihrer Unterstützung und Rechtfertigung des Terrors endgültig diskreditiert hat, organisatorisch und ideologisch entstaatlicht werden. Sie muss sämtliche staatlichen Subventionen verlieren und ihrer Gemeinde überantwortet werden, die ihr Stimmrecht in kirchlichen Fragen zurückerhalten muss. Vielleicht entsteht dann anstelle der pyramidenförmigen Hierarchie der Russisch Orthodoxen Kirche ein echter demokratischer Kirchenverband, ein Zusammenschluss von freien Pfarreien, die sich selbst verwalten und ausschließlich über ihre Mitglieder finanzieren. 

Entkommunisierung

Im Land muss endlich eine vollständige und konsequente Entkommunisierung (und nicht nur Entstalinisierung) stattfinden. Die Propaganda kommunistischen Gedankenguts muss verboten, die Ideen selbst müssen als menschenverachtend entlarvt werden. Alle politischen Organisationen, die den Kommunismus offiziell predigen und irgendeine Form von Terror rechtfertigen, müssen verboten werden. Das gilt auch für alle zeitgenössischen Derivate des Kommunismus, einschließlich der eurasischen Utopien von Alexander Dugin und Alexander Prochanow, der neurussischen Passionen von Wladislaw Surkow, der Reenactments von Strelkow und alles, was auf dem Grabhügel des russischen Kommunismus sonst noch so blüht. 

Kommt Ihnen das unrealistisch vor? Heute – ja. Morgen wird es Realität sein. Das Pendel der russischen Geschichte hat zu weit ausgeschlagen. Um es aus seiner gottverlassenen Lage wieder herauszuholen, braucht es harte, vielleicht sogar grausame Entscheidungen, die uns gestern noch unnötig und undenkbar erschienen. Die Zeit der halben Sachen ist vorbei. Wenn wir diese Entscheidungen treffen, müssen wir daran denken, dass es nicht so sehr die bösen Menschen, sondern böse Ideen waren, die Russland in diese historische Sackgasse getrieben haben. 

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Russki Mir

Russki Mir (dt. „Russische Welt“) ist ursprünglich ein Kulturkonzept, das in seiner ideologisierten Form auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt wird. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität.
Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg, der jeweils am 9. Mai in großen Paraden und darüber hinaus in zahlreichen Produkten der Populärkultur inszeniert wird. Die Russische Welt umfasst ihrem Anspruch nach alle Gebiete, in denen die russische Kultur präsent ist.1

Die Anfänge der Russischen Welt gehen mindestens zehn Jahre zurück. Präsident Putin definierte das Konzept programmatisch bei einem Treffen mit Kulturschaffenden im Jahr 2006: „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch leben, in Russland oder außerhalb. Verwenden Sie diesen Ausdruck so oft wie möglich – Russische Welt.“2 Putin erklärte das Jahr 2007 offiziell zum „Jahr der russischen Sprache“ und verwies dabei auf die Wichtigkeit des Russischen als eines verbindenden Elements zwischen den Bürgern der Russischen Föderation und den „Landsleuten“ im nahen Ausland.
Neben der Sprache wurden aber auch eklektisch einzelne Elemente aus den Werken von Philosophen wie Wladimir Solowjow, Nikolaj Berdjajew oder Iwan Iljin zur Begründung der Ideologie der Russischen Welt herangezogen.
Inhaltlich ist die Ideologie der Russischen Welt weitgehend konturlos und unbestimmt. Immer wieder werden eigene „geistig-moralische Werte“ beschworen, die sich angeblich grundlegend von den Idealen eines als feindlich wahrgenommenen Westens unterscheiden.3

Vom kulturellen Projekt zur Ideologie

Aus einem zunächst nur kulturellen Projekt wurde aber bald eine politische Ideologie, die zur Rechtfertigung der russischen Intervention in Georgien (2008) und der Angliederung der Krim (2014) eingesetzt wurde. Die Militäraktion in Südossetien wurde vom damaligen Präsidenten Medwedew mit dem Schutz der „Landsleute“ begründet (die meisten Südosseten verfügen über russische Pässe).
Wladimir Putin verkündete bereits am Nationalfeiertag 2013, dass „die Russische Welt nicht auf dem Prinzip ethnischer Exklusivität“ beruhe, sondern offen für alle sei, die „sich selbst als Teil Russlands und Russland als ihre Heimat“ betrachteten.4 Ein Jahr später hob der Präsident hervor, Russland habe auf der Krim bewiesen, dass es seine „Landsleute“ beschützen und „Wahrheit und Gerechtigkeit“ verteidigen könne.5

Auch in den ostukrainischen Kriegsgebieten zeigt der Begriff der Russischen Welt seine Wirkmächtigkeit: In der Präambel der Verfassung der Donezker Volksrepublik wird er gleich vier Mal erwähnt.6

In der nationalen Sicherheitsstrategie, die am 31. Dezember 2015 in Kraft trat, taucht das Konzept der Russischen Welt zwar nicht explizit auf, es gibt aber ein ganzes Kapitel, das sich der Kultur widmet.
Artikel 81 hält explizit fest, dass die russische Sprache folgende Aufgaben erfülle: Sicherung der staatlichen Einheit des Landes, Kommunikation zwischen den einzelnen Nationen der Russischen Föderation, Integration im postsowjetischen Raum sowie Kulturleben der Landsleute im Ausland.7

Die Stiftung Russki Mir

Parallel zur politischen Instrumentalisierung des Kulturprojekts erfolgte eine Institutionalisierung der Russischen Welt. Seit 2007 existiert eine staatliche Stiftung mit dem Namen Russki Mir, die im Jahr 2015 aufgrund der Wirtschaftskrise allerdings nur etwa 60 Prozent der vorgesehenen 750 Millionen Rubel [etwa 10,5 Millionen Euro] erhielt.8 Auf ihrer Website legt die Stiftung offen, dass ihr Ziel in der „Förderung der Verbreitung objektiver Information über Russland, über die russischen Landsleute und Schaffung einer Russland wohlgesonnenen öffentlichen Meinung“ bestehe.9

Die Stiftung Russki Mir ist hauptsächlich im kulturpolitischen Bereich tätig. An ausgewählten ausländischen Universitäten werden Russische Zentren eingerichtet, die Sprachunterricht und Bibliotheksdienste anbieten.10
Bereits die hochkarätige Zusammensetzung des Stiftungsbeirats zeigt, welche Wichtigkeit dieser Organisation beigemessen wird: Aus dem Kabinett sind der Bildungsminister, der Kulturminister und der Außenminister vertreten.

Der Vorsitzende der Stiftung Russki Mir, Wjatscheslaw Nikonow, befindet sich ganz auf der Linie der patriotischen Staatsideologie. Die Ukraine hält er für einen „failed state“, der über „keine Regierung, keine Armee, keine Wirtschaft, keine innere Einheit, keine Demokratie und keine Ideologie“ verfüge.11 Russland sei demgegenüber eine starke Nation, die auf bedeutende historische Errungenschaften zurückblicken könne.

Nikonow beschreibt die russische Geschichte als fortwährende Expansion – von der sibirischen Landnahme über die Kolonisierung Amerikas bis zur Eroberung des Kosmos.12 In solchen Verlautbarungen zeigt sich auch der Unterschied zu ähnlichen Institutionen anderer Länder wie etwa der Goethe-Institute.

Die Reichweite des ideologischen Konzepts der Russischen Welt ist allerdings beschränkt. In einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Dezember 2014 in Russland stellte sich heraus, dass 71 Prozent der Befragten noch nie von Russki Mir gehört hatten.13


1. Jilge, Wilfried (2014): Was treibt Russland? Zum Hintergrund der Ukraine-Krise, in: Andruchowytsch, Juri (Hrsg.): Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Berlin, S. 183–194
2. Tztver.ru: Imperia postfaktum: Russkij mir
3. Eltchaninoff, Michel (2016): In Putins Kopf: Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten, Stuttgart, S. 7
4. Kremlin.ru: Reception to mark National Unity Day (2013)
5. Kremlin.ru: Presidential Adress to the Federal Assembly (2014)
6. Zabirko, Oleksandr (2015): „Russkij Mir”: Literatrische Genealogie eines folgenreichen Konzepts, in: Russland-Analysen Nr. 289
7. RG.ru: Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federatcii ot 31 dekabrja 2015 goda N 683 "O Strategii nacional'noj bezopasnosti Rossijskoj Federacii"
8. Kommersant.ru: Minobrnauki nužny den'gi na „Russkij mir“
9. Siehe die Website der Organisation. Die Übersetzung des Zitats folgt dem russischen Original, die deutsche Website von Russki Mir ist sprachlich mangelhaft.
10. Gasimov, Zaur (2012): Idee und Institution: Russkij Mir zwischen kultureller Mission und Geopolitik, in: Osteuropa 5, S. 69–80
11. Wjatscheslaw Nikonow auf RG.ru: Korotkaja telegramma: „Ne nadorvites'”
12. Duma.gov.ru: Wjatscheslaw Nikonow: Otnošeniye k strane vo mnogom zavisit ot togo, čto budet napisano v učebnike istorii
13. Wciom.ru: Press-vypusk №2728
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Krim

Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Die Wahlbeteiligung und die rund 90-prozentige Zustimmung für Putin auf der Krim stellt der Kreml als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland dar. Gwendolyn Sasse über die mythenumwobene Region, das Narrativ der „russischen Krim“ und die Selbstwahrnehmung der Krim-Bewohner nach der Angliederung an Russland. 

 

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Krim-Annexion

Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

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Nikolaj Berdjajew

Nikolaj Berdjajew (1874–1948) war ein russischer Philosoph mit weltweiter Wirkung. Zunächst marxistisch beeinflusst, stellte er sich noch vor der Oktoberrevolution gegen den Atheismus der Kommunisten und wurde 1922 ausgewiesen. Seine christlich-existenzialistische Philosophie stellt die Freiheit des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, zielt dabei aber auf eine geistige Erneuerung der Gemeinschaft. Die religiöse Rückbesinnung in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beruft sich vielfach auf Berdjajews Denken.

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Iwan Iljin

Er gehört zu den Säulenheiligen der neuen konservativen Staatsideologie in Russland. Seine autoritäre und monarchistische Gesellschaftskonzeption wird in der Ära Putin für die Legitimierung der Vertikale der Macht eingesetzt. Ulrich Schmid über den russischen Religionsphilosophen Iwan Iljin, der am 21. Dezember 1954 verstarb – und dessen gehaltvolles theologisches Werk heute von der politischen Vereinnahmung überschattet wird.

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Krieg im Osten der Ukraine

Zum ersten Mal treffen sich Wladimir Putin und sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selensky heute persönlich in Paris. Thema ist der Krieg im Osten der Ukraine, der trotz internationaler Friedensbemühungen seit April 2014 anhält. Er kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Steffen Halling zeichnet die Ereignisse nach.

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Um die Jahrtausendwende von der Russisch-Orthodoxen Kirche aus der westlichen Kulturwissenschaft übernommen. Heute ist die Idee der orthodoxen Zivilisation im aktuellen Diskurs vom Begriff der Russischen Welt (russki mir) ersetzt worden.

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