Medien

Politik aus der Trickkiste

„Irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, so beschreibt ein Polittechnologe sein Berufsbild auf Meduza. Russland ist das Geburtsland der Polittechnologie. Was wie eine Wissenschaft klingt, meint ein Arsenal von Manipulationstechniken, die den politischen Prozess maßgeblich beeinflussen können. Vor allem bei Wahlen kommen diese Instrumente zum Einsatz. 

Der Begriff Polittechnologie ging während des russischen Präsidentschaftswahlkampfs 1996 in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Mit zweifelhaften Methoden versuchen Polittechnologen, den Wählerwillen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um ihrem Kandidaten zum Sieg zu verhelfen. Sie berufen sich auf Machiavelli: Jedes Mittel zur Machterlangung und zu deren Erhalt ist ihnen recht. Am Geburtstag des politischen Philosophen feiern sie den Tag des Polittechnologen.

Taissija Bekbulatowa hat sich in der Branche umgehört. 

Quelle Meduza

1999 fanden in der chakassischen Stadt Sajanogorsk Bürgermeisterwahlen statt. Der junge Unternehmer Oleg Deripaska versuchte, anstelle des ihm nicht freundlich gesonnenen Stadtoberhaupts „seinen“ Kandidaten unterzubringen. In der Zeit vor den Wahlen wurde Sajanogorsk in ein merkwürdiges Spiel hineingezogen – die Wähler wurden aufgefordert, an einer Verlosung teilzunehmen: Um zu gewinnen, musste man den Ausgang der Wahlen voraussagen. Im Fernsehen wurden dann täglich die Umfragewerte gezeigt. Die Bewohner der Stadt setzten auf den führenden Kandidaten – und stimmten schließlich auch für den, auf den sie gesetzt hatten. Deripaskas Kandidat siegte mit großem Abstand. Er hatte das Ranking angeführt, das ständig im Fernsehen lief und mit der Realität nichts zu tun hatte.

Das war das „Smirnowsche Hütchenspiel“. Dessen Erfinder, der Polittechnologe Wjatscheslaw Smirnow, nennt es bescheiden eine „primitive Technik, die auf Gier setzt“: „Die Leute sahen sich  Clips an, die ich schon aufgenommen hatte, bevor sie ihre Stimmzettel ausfüllten, und sie sahen, dass unser Kandidat führt. Den Wahlkampfstab leitete Deripaska persönlich. Er saß mit Stift und einem Notizheft für fünf Kopeken da und schrieb irgendwas auf.“

Mit Methoden wie dieser haben sie Bekanntheit erlangt, die Vertreter eines für Russland neuen Berufsstandes. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als echte Wahlen eingeführt wurden, war der Beruf des Polittechnologen entstanden, und zwar in enger Nachbarschaft zum Geld: bei den Großunternehmen, die in den Regionen „ihre“ Gouverneure und Bürgermeister einsetzen wollten. Die Finanz- und Industriegruppen hatten in den Regionen ihre spezifischen Interessen. Und bei den für sie wichtigen Fragen hingen die Entscheidungen von den Stadt- und Regionalregierungen ab.

„Der Beruf [des Polittechnologen] ist ein Grenzgänger, irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, erklärt Smirnow. „Einerseits gibt es bestimmte Methoden, wissenschaftliche Gesetze. Andererseits musst du schon Geld zur Arbeit mitbringen, weil du ein halbes Jahr deines Lebens in irgendeiner Region herumhängen musst, um irgendeinem Bürgermeister oder Gouverneur zur Wahl zu verhelfen.“

Bald war in diesem Bereich viel Geld im Spiel. Teilweise stürzten sich für die Platzierung eines Wunschkandidaten zwei, drei Firmen mit vergleichbaren Ressourcen ins Rennen. Diese Firmen stellten dann die ersten Technologenteams auf. Denn die Sponsoren zogen es vor, den Spitzenkandidaten nicht direkt Geld zu geben. Sie konnten ja nicht wissen, wofür es ausgegeben wird. Stattdessen schickte man firmeneigene Leute, die dann das Wahlkampfbudget verwalteten.

NAMENSVETTER UND GEFÄLSCHTE ANZEIGEN

Recht bald wurde mit „Polittechnologie“ der Begriff „schwarze PR“ assoziiert. Wahlen in Russland waren ein sehr spezifisches Phänomen und unterschieden sich deutlich von Wahlen in westlichen Ländern. Daher reichte es nicht, die Instrumente der europäischen und amerikanischen Kollegen zu übertragen – die Technologen in Russland mussten selbst kreativ werden: Bei den Wahlen tauchten plötzlich Namensvetter auf, gefälschte Anzeigen in Zeitungen, die die Opponenten diskreditieren sollten, und vieles mehr. Technologien, die sich in einer Region bewährt hatten, fanden sofort in anderen Regionen Anwendung. Viele von ihnen werden bis heute eingesetzt.

Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Bogdanow gilt als Erfinder vieler Wahltechniken. „Das [mit den Namensvettern] hat sich Bogdanow ausgedacht“, behauptet Smirnow. „Später dann, bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma, hat man ihm deswegen den Kopf eingeschlagen, einfach, weil er erklärt hatte, dass er einen Namensvetter gegen einen mit uns befreundeten Kandidaten aufstellen wird. Der hat daraufhin zwei Kerle mit Schlageisen bei ihm vorbeigeschickt.“ In den Medien wurde schließlich nur erwähnt, dass Bogdanow während des Wahlkampfes 1997 von Unbekannten angegriffen worden war.

Bogdanow hat Smirnows Aussage bestätigt. Auch heute noch werden Polittechnologen bedroht. Einer von ihnen meint im Scherz „Ein Technologe im Feldeinsatz, der noch nie in einem Kofferraum irgendwo in den Wald gefahren wurde, ist kein Technologe.“

Folge der „schwarzen“ Innovationen war, dass als Polittechnologien vor allem die bunten Tricks  wahrgenommen wurden – zum Beispiel der aus Krasnojarsk 1998: Um den Gouverneursposten kämpften damals Alexander Lebed und Waleri Subow. Zur Unterstützung des ersten trat Alain Delon auf, für den zweiten Alla Pugatschowa. Gewinnen sollte Lebed, doch wollten die Sponsoren der Kampagne auf keinen Fall, dass der General schon im ersten Durchgang siegt, weil sie befürchteten, dass er dann nicht mehr kompromissbereit wäre. Also finanzierten sie eine Kampagne für und eine gegen ihn.

Zur Unterstützung des einen trat Alain Delon auf, für den anderen Alla Pugatschowa

Höhepunkt der Kampagne war der Marsch der Penner. „Wir heuerten Obdachlose an, gaben ihnen Topfdeckel und Schöpflöffel, hängten ihnen Schilder um, mit Portraits von Lebed und Parolen wie Lebed ist unsere Wahl auf Leben und Tod“, erzählt Smirnow. „Alle Fernsehsender warteten darauf, das auf dem zentralen Platz der Stadt filmen zu können.“

Gleichzeitig erschienen „Leute von Lebeds Wahlkampfstab“ in der Stadt, die die Höfe abklapperten und fragten, wieviel Schweine und Hühner es da gebe, angeblich für den Entwurf einer Sondersteuer auf landwirtschaftliche Selbstversorger­wirtschaft; auch davon wurden Berichte im Fernsehen gezeigt. Lebed siegte, wie geplant, erst im zweiten Durchgang.

KREATIVE TECHNIKEN

Kreative Techniken gefallen den Politikern gewöhnlich sehr, funktionieren aber nicht immer. „Nehmen wir mal an, ein Kandidat ist reich, und er will gegen den Konkurrenten gleich fünf Namensvettern ins Rennen schicken. Du erklärst ihm dann, dass das nicht besonders hilfreich sein wird. Der aber meint: ‚Der soll ruhig nervös werden, ich will ihm eine verpassen‘ “, erklärt Smirnow.

Das Gleiche gilt auch für gröbere Methoden wie Wählerbestechung: „Unsere Wähler sind bereit, jemandem gegen Geld ihre Stimme zu geben. Sie sagen: ‚Komm und bau uns eine Haustür aus Metall ein, dann können wir miteinander reden.‘ In vielen Regionen ist das durchweg so. Die Rentner sagen: ‚Schaut, Pupkin hat mir einen Lebensmittelkorb gebracht, ich bin für ihn.‘ Allerdings sind unsere Rentner auch nicht blöd – nach einer gewissen Zeit holen sie sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht.“

Unsere Rentner sind auch nicht blöd: Sie holen sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht

Die Technologen, die schon in den 1990er Jahren tätig waren, haben jene Zeit als unerreichbare, goldene Ära in Erinnerung: Das Geld floss in Strömen, es gab viele Wahlen, und Auftraggeber auch. Die Ära endete abrupt.

„Ungefähr seit der Verhaftung Chodorkowskis hörte die Wahlfinanzierung durch große Unternehmen auf. Es wurde ihnen einfach verboten“, erinnert sich Smirnow. „Jetzt ist es nicht mehr möglich, dass jemand ‚seine‘ Gouverneure installiert. Jetzt entscheidet die Regierung, wer ernannt wird.“

Im Endeffekt wurde nicht nur von den Politikern verlangt, systemkonform zu werden, sondern auch von den Technologen, die für sie arbeiten. Für die besteht laut Branchenmitgliedern eine Erfolgsgarantie vielfach darin, gute Kontakte zur Machtpartei und zur Präsidialadministration zu unterhalten.

Oppositionsparteien bringen nichts ein

„Jetzt sehen die Spielregeln so aus: Sucht euch Aufträge bei Einiges Russland. Die anderen Parteien dienen nur als Deko. Das sind nur Krümelreste. Die haben ihre Haustechnologen“, sagt Bogdanow. „Der größte Arbeitgeber, das ist die Staatsmacht. Über 90 Prozent der normalen, guten Aufträge kommen von dort“, bestätigt der Polittechnologe Wladimir Perewostschikow.

Mit der Systemopposition arbeiten die Technologen nur wenig zusammen und reißen sich auch nicht darum – es bringt wenig Geld, und die Chancen auf einen Sieg sind klein. „Die LDPR hat überhaupt keine Technologen nötig“, merkt Jewgeni Malkin an, einer der erfahrensten Polittechnologen im Land. „Shirinowski ist selbst Technologe genug.“

„Das größte Problem der [System-]Opposition ist, dass sie nicht so richtig gewinnen will. Größeren Anspruch zu erheben, ist gefährlich, sie wollen ihre Opponenten nicht allzu sehr angehen. Sie sind mit allem zufrieden, so wie es ist“, fährt Malkin fort. „Wir können aber keine halbherzige Kampagne entwerfen.“ Das Elend der demokratischen Parteien sieht Malkin in deren „ineffektiver und kaum fokussierter Botschaft“: „Würden sie mit der Parole Putin muss weg! antreten, kämen sie auf sechs Prozent.“

Würde die Opposition mit der Parole Putin muss weg! antreten, käme sie auf 6 Prozent

„Unsere Gesellschaft ist in Wirklichkeit ziemlich auf Protest aus. Sie sieht alles, was vor sich geht, durchschaut es, duldet es einfach“, ergänzt Perewostschikow. „Fast in jeder Gegend Russlands ließe sich innerhalb weniger Monate ein Protest lostreten.“

Der Polittechnologe Abbas Galljamow erinnert sich, dass sie bei einer der Kampagnen vor der Hälfte der Wohnungstüren „schon nach dem Satz ‚Guten Tag, wir sind von Einiges Russland‘ sofort eine Abfuhr erlebt haben“.

Für eine erfolgreiche Protestkampagne der Opposition reichen die Ressourcen aber nur selten – die Anzahl der Leute, die sowohl das Geld haben, um die Administrativen Ressourcen zu übertrumpfen als auch Kampfeswillen, liegt dem Politberater Valentin Bianki zufolge bei „ungefähr null.“ Gewöhnlich sieht die Auseinandersetzung der Regierung mit der Opposition aus wie „ein Panzer, der einen Frosch niederwalzt“, wie es Perewostschikow ausdrückt.

DIE ARBEIT IM FELD

Ein Teil der Polittechnologen ist mit der ständigen Begleitung der Kandidaten in einer Region befasst. Früher konnte es passieren, dass ein ganzes Team von bis zu 120 Personen angeflogen kam, das dann auch den Wahlkampfstab bildete. Doch diese Zeiten sind vorbei, jetzt erlauben es die Wahlkampfbudgets nur selten, derart große Teams von extern anzuheuern. „In jeder Region haben sich eigene Medienleute, feste Wahlkampfhelfer bei den Parteien und eigene Technologen etabliert“, erklärt der Politikberater Dimitri Gussew. Es hat sich ein Format entwickelt, bei dem zwei, drei erfahrene Polittechnologen zum Einsatzort fliegen und dann Technologen vor Ort einweisen.

Unter den Polittechnologen gibt es die gesonderte Gruppe der Politikberater, die in der Regel die Kampagnen vor Ort nicht selbst führen.  Zu ihnen gehören die bekanntesten Markt-Akteure. „Wenn man sich die Top-20 [der Polittechnologen in Russland] anschaut, ist dort außer Parfjonow niemand Polittechnologe im Sinne des Handwerkes; der also in der Lage wäre, alles von der Pike auf selbst zu machen, der hinfährt, eine klare Strategie entwirft, ein Konzept, der die Mobilisierung organisiert, der selbst Fokusgruppen durchführen kann und auch Meinungs­umfragen“, meint ein Gesprächspartner von Einiges Russland. „Alle diese Leute delegieren bis zu einem gewissen Maße die Aufträge nur weiter. Sie fahren rum, holen Aufträge ein, indem sie ihr Gesicht zeigen. Dann kommen sie zu irgendeiner Sitzung in der Präsidialadministration und erzählen: ‚Ich komme gerade aus der Region X, der Dreck an meinen Stiefeln ist noch nicht trocken.‘ Und zur gleichen Zeit befindet sich das Team in der Region – und am Steuer sitzt ein ganz anderer.“

Es gibt die Bürosklaven und den Chefredakteur, der die Sache verkauft

„Politikberatung ist, wenn zum Gouverneur ein kluger Herr in feinem Anzug kommt, der in der Regel die Sitzungen bei Surkow-Wolodin-Kirijenko besucht und zu den Top-Polittechnologen Russlands gehört“, erzählt Wjatscheslaw Smirnow. „Er schreibt dann ein Konzept, auf welche Weise die Wahl zu gewinnen ist, mit welcher Ideologie und so weiter. Genauer gesagt: Die Bürosklaven schreiben alles auf, und er ist der Chefredakteur, der die Sache verkauft. Der Preis liegt zwischen 50.000 und 150.000 Dollar pro Konzept.“

Bogdanow und Smirnow haben ihre eigene Nische: Sie „halten sich Parteien“, die von Interessenten gegen eine bestimmte Summe für ihre Zwecke gepachtet werden können. (Aufgrund der „Liberalisierung“ der Parteiengesetze nach den Protesten von 2011/2012 ist es Bogdanow gelungen, mehrere Parteien mit unterschiedlichen Namen beim Justizministerium registrieren zu lassen.) „Wenn Sie mal Vorsitzender einer Partei waren, und sei es nur für drei Monate, für die Zeit der Wahlen, dann kommen Sie in Ihrer Stadt mächtig voran“, erklärt Smirnow.

Bogdanow fügt hinzu, dass man nicht nur mit Parteien Geld verdienen könne, sondern auch mit gesellschaftlichen Organisationen (von denen er auch einige im Angebot hat). In der Vorwahlzeit zum Beispiel würden sich sehr gut Beschäftigungs­nachweise in NGOs verkaufen, die man in den Wahlunterlagen angeben kann.

Bogdanow fasst es so zusammen: „Auf dem Markt gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt.“

DER MARKT WANDELT SICH

Auf dem schrumpfenden Markt der Wahlen in Russland versuchen die Akteure mittlerweile, andere Verdienstmöglichkeiten zu finden. Ihre eigentlichen Fertigkeiten bringen Polittechnologen aus Russland oft in den Ländern der GUS an den Mann, wo es bis heute riesige Budgets gibt (besonders gute Honorare werden, so ein Gesprächspartner von Meduza, in den nicht anerkannten Republiken gezahlt, etwa in Südossetien). Einige machen ihre Erfahrung zu Geld, indem sie Schulungen anbieten und Vorträge halten.

„Mein Eindruck ist, dass der Markt nicht kleiner wird, sondern sich wandelt“, meint Alexej Kurtow, Gründer der Agentur InterMediaKom. „Politikberatung betrifft nicht nur Wahlen, sie ist ein ständiger Prozess.“

Es gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt

Die Präsidialadministration wurde in der Ära Putin zum wichtigsten politischen Entscheidungszentrum des Landes – also auch zum Anziehungspunkt für Polittechnologen. Jeder Leiter erneuert in den ersten sechs bis zwölf Monaten nach seiner Ernennung das System.

Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, für die Staatsmacht erfolgreich Wahlen zu bestreiten: Die Präsidialadministration und das zentrale Exekutivkomitee von Einiges Russland widmen sich den Wahlen auf föderaler Ebene, ist von einer Quelle in der Partei zu erfahren.

Andrej Koljadin, früher Leiter der Abteilung Regionalpolitik des Referats für Innenpolitik in der Präsidialadministration, berichtet, dass er sich unter Surkow auch mit dem FSB auseinandersetzen musste. Denn der war seinerzeit entschlossen, anderthalb Monate vor den Wahlen das Oberhaupt einer Region zu verhaften. „Ich habe mit denen vom FSB total gestritten, weil die Festnahme eines Gouverneurs vor den Wahlen eindeutig die Wahlergebnisse verdirbt. Er wurde verhaftet, aber erst nach den Wahlen.“

Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht

Unter Wjatscheslaw Wolodin, der Surkow im Dezember 2011 [in der Präsidialadministration – dek] abgelöst  hatte, änderte sich das System ein wenig. „Es gab weniger Einmischung in die regionalen Wahlkämpfe, so nach dem Motto: Ihr sollt ruhig eure eigene lokale Agenda haben“, berichtet ein Gesprächspartner von Meduza, der Einiges Russland nahesteht. Ihm zufolge nahm das neue Team [im Kreml] die regionalen Wahlen nicht mehr als Gefahr wahr, nachdem die Proteste von 2011/2012 abgeklungen waren. Und nach der Angliederung der Krim haben sie sich auch hinsichtlich der föderalen Wahlen beruhigt.

„Der einzige große Fehler war die Bürgermeisterwahl [2013] in Moskau“, so der Informant. „Warum haben sie damals Nawalny zugelassen? Sie wollten ihn wunderschön ausspielen! Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht“ (Nawalny hatte später mit 27 Prozent der Stimmen den zweiten Platz errungen – Anm. Meduza).

Jetzt, da in der Präsidialadministration Sergej Kirijenko für die Innenpolitik verantwortlich ist, ändere sich das Gefüge allmählich, berichten Marktakteure. Insgesamt arbeite Kirijenko sehr viel weniger intensiv mit Experten als seine Vorgänger. Er verschickt keine Themen-Memos, hat es nicht eilig, Geld zu verteilen, und vielen ist daher nicht klar, was weiter zu tun ist.

„Wo will man als Politologe unterkommen? Der wichtigste Auftraggeber für diese Sparte sind in Russland die Regierungsstrukturen. Es gibt zwar noch die großen Unternehmen, aber auch da ist es besser, systemkonform zu sein. Und die Opposition ist keine ernstzunehmende Geldquelle“, erläutert Nikolaj Mironow.

Ökonomie der Politik

„Die teuerste Kampagne, die gibt es nicht“, meint Jewgeni Malkin. Marktakteure räumen allerdings ein, dass die für Polittechnologen vorgesehenen Budgetposten geschrumpft sind, sodass Kampagnen wie die Gouverneurswahlen 2002 in der Region Krasnojarsk, als der Wahlkampf von Alexander Chloponin noch um die 30 Millionen Dollar kostete, sind heute  kaum noch möglich. „Ich kenne Menschen, die sich einander gegenüber gesetzt und geübt haben, folgenden Satz ruhig auszu­sprechen: ‚Das kostet eine Million Dollar‘“, erzählt einer der Gesprächs­partner von Meduza. „Aber die Zeiten sind jetzt natürlich andere.“

Ein großer Teil der Wahlkampfgelder fließt „inoffiziell“. Nach Einschätzung von Valentin Bianki bekommen rund zehn Prozent der Technologen eine offizielle Entlohnung. Ein Gesprächspartner von Einiges Russland sagte Meduza, die Zunft sei nicht sonderlich an einer Legalisierung ihrer Budgets interessiert. „Mindestens jeder zweite Technologe fährt nicht wegen der Honorare zu einem Wahlkampf, sondern um vor Ort Kohle abzuzwacken“, meint der Informant.

„Man braucht sehr viel Cash“, meint einer der Marktakteure. „Nehmen wir an, du schickst Kiezagitatoren los, um den Wahlkampf der Opposition zu sabotieren, wie bezahlst du die, aus dem Budget? Man muss den Journalisten was zahlen, den Wahlkommissionen, den Wahlbeobachtern. Man muss irgendjemandes Wahlkampf stören, Provokateure zu fremden Veranstaltungen schicken ... Schließlich kann man wohl schlecht in einen Vertrag reinschreiben: ‚Provokationen – 5 Stück à 1 Stunde‘. Man muss Bots oder echte Menschen ranholen, die die Kommentare zumüllen. Und dann muss man manchmal jemanden mit Füßen treten. Was in den Regionen oft vorkommt.“

Wettbewerb der politischen Instrumente

Weithin bekannt ist beispielsweise der Fall Nikolaj Sandakow. Der ehemalige Vizegouverneur des Gebietes Tscheljabinsk, der seit April 2016 in Haft ist, wird beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Auch Nikita Belych, seinerzeit Gouverneur des Gebietes Kirow, der im Juli 2016 bei der Entgegennahme von 400.000 Euro in bar festgenommen wurde, soll nach Angaben der Agentur Reuters von örtlichen Unternehmern Geld „für die Wahlen“ eingesammelt haben.

„Die verschiedenen politischen Player wollen den Markt umschichten“, meint Jewgeni Mintschenko. „Die einen sagen: Warten Sie mal, wozu brauchen wir einen Wahlkampfmarkt, wenn man alles administrativ regeln kann? Andere wiederum sagen: Wozu alles administrativ entscheiden, wenn wir alles mit Hilfe eines Strafverfahrens oder einer Durchsuchung regeln können? Das ist der Wettbewerb der politischen Instrumente ...“

Andrej Koljadin fasst zusammen: „Ein Polittechnologe, das ist unter anderem auch jemand, der weiß, wie man einen Wahlkampf führt, ohne dass jemand ins Gefängnis wandert.“

Der Beruf des Polittechnologen weist heute in Russland eine eindeutige Spezifik auf: Da die Wahlen meist von oben kontrolliert werden, ist der Sinn von Wahlkämpfen nicht immer klar. Die Wahlkampfstäbe von Einiges Russland in den Regionen arbeiten stets im Verbund mit der Regierung vor Ort, in deren Händen sich in der Regel die wichtigsten Ressourcen befinden, unter anderem die Medien.

Es gibt auch direktere Methoden, um auf den Ausgang von Wahlen Einfluss zu nehmen. „Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt“, erklärt Smirnow. „Der Traum eines jeden reichen Kandidaten ist es, dass er zum Vorsitzenden der Wahlkommission geht, diesem Geld zahlt – und dass dieser ihm ein Protokoll gibt, das den Sieg feststellt. Möglichst schon vor den Wahlen.“

Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt

Andrej Bogdanow zufolge „werden Technologen jetzt in Wirklichkeit nicht mehr gebraucht“, weil Wahlkämpfe oft einfach nur Blendwerk seien, das verdecken soll, dass alles schon durch Abmachungen und Scheinkandidaten entschieden ist.

„Alle unerwünschten Kandidaten werden vor den Wahlen aus dem Rennen genommen. Der Polittechnologe ist jetzt eher ein Unterhändler, ein Bindeglied zwischen Präsidialadministration und den lokalen Eliten“, erklärt Bogdanow.

Die Technologen sind überzeugt, dass ihr Beruf gefragter sein wird, sobald es mehr echte Urnengänge und Referenden gibt.

„Man sagt: Diese Politberater, das sind Leute, die der Gesellschaft schaden ... Wir gehören aber zu denen, die der Demokratie weltweit am meisten nützen!“, erklärte Jewgeni Malkin jüngst bei einem Briefing zum Tag des Politikberaters. „Wir sind auf dem Feld des realen elektoralen Wettbewerbs präsent, wir erklären den Politikern, was die Leute wirklich von ihnen wollen, wir helfen Koalitionen zu schmieden und Übereinkommen zu erreichen, um die Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen der Elite zu minimieren. Solch hervorragende Leute wie uns sollte man nicht beschimpfen, sondern sie auf Händen tragen und jeden Tag ‚Danke‘ sagen.“

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Polittechnologie

Polittechnologija bezeichnet in Russland und anderen postsowjetischen Staaten ein Menü von Strategien und Techniken zur Manipulation des politischen Prozesses. Politik – als Theater verstanden – wird dabei als virtuelle Welt nach einer bestimmten Dramaturgie erschaffen. Politische Opponenten werden mit kompromittierenden Materialien in den Medien bekämpft, falsche Parteien oder Kandidaten lanciert oder ganze Bedrohungsszenarien eigens kreiert.

Zwar sehen sich russische Polittechnologen mitunter in europäischer, auf das alte Rom und später Niccolò Machiavelli1 zurückgehender, Tradition. Verwandt ist der Begriff auch mit dem US-amerikanischen Konzept des political Consulting, also der Politikberatung beziehungsweise den spin Doctors: 1996 beispielsweise war ein Team um den Clinton-nahen Richard Dresner kurzzeitig für Boris Jelzin2 tätig, und die Russische Assoziation der Politikberater3 um Igor Mintusow oder Jewgeni Mintschenko versteht sich als Vertretung der PR- und GR4-Berater. Dennoch ist Polittechnologija als ein eigenständiges Konzept zu verstehen, dessen Wurzeln bis auf die Geheimpolizei Ochrana im Zarenreich, auf die psychologische Kriegsführung (aktive Maßnahmen) des KGB und auf die Sowjetpropaganda zurückzuführen sind. Zugleich spielt es auf Werbesprache und französische postmoderne Denker wie Jean Baudrillard oder Roland Barthes an. In Viktor Pelewins Generation P wurde es zudem literarisch verewigt.

Die Hochzeit der Polittechnologen waren die 1990er und frühen 2000er, in denen Politik über das Fernsehen mit einer entsprechenden Dramaturgie als virtuelle Welt in einem Theater5 vermittelt wurde, ganz nach dem Motto „Nichts ist wahr und alles ist möglich“6. Mehr oder minder kompetitive Wahlen waren von Informationskriegen begleitet, für die Politiker aus Quellen jenseits der legalen Wahlfinanzierung für oft horrende Summen Polittechnologen anheuerten, die den Gegner bekämpften. Zu den Mitteln gehörten graue und schwarze PR7  (Provokationen durch öffentlich gewalttätige Gruppen, das Unschädlichmachen von Medienressourcen des Gegners, das Lancieren von spoiler-Parteien und Doppelgängerkandidaten und so weiter) oder Kompromat – „kompromittierende Materialien“. Diese werden in den Medien über Schmiergeld als sogenannte Sakasucha oder Dshinsa platziert und diskreditieren den Gegner mithilfe frei erfundener Geschichten oder illegal beziehungsweise geheimdienstlich beschaffter Informationen, suggerieren Nähe zur organisierten Kriminalität oder geben Details aus dem Privatleben preis. Zu neueren Formen der Polittechnologie im Internet gehören Hackerattacken und Trollfarmen8, die content entweder lahmlegen oder inhaltlich manipulieren.

In der gelenkten Demokratie der 2000er Jahre greifen zudem Präsidialadministration (vor allem die Abteilung für Innenpolitik), amtierende Gouverneure oder Bürgermeister auf Administrative Ressourcen zurück, um Wahlen manipulativ für sich zu entscheiden. Dies beinhaltet ungleiche Wahlkampffinanzierung, Instruktionen an staatliche Medien (Temniki), Einschalten von Gerichten und Staatsanwaltschaft gegen Opponenten oder Betrug am Wahltag (wie Zwangsabstimmung bei Staatsangestellten, mehrfache Abgabe von Stimmzetteln oder Fälschungen beim Auszählen).

In den 1990er und frühen 2000er Jahren gehörten Gleb Pawlowski, Marat Gelman, Igor Mintusow und Sergej Markow mit der Stiftung für effektive Politik zu den einflussreichsten Polittechnologen. Alexej Chesnakow, Konstantin Kostin oder Dimitri Badowski verbanden in ihrer Karriere den Staatsdienst in der Präsidialadministration mit einer Beratungstätigkeit für staatliche Akteure und Einiges Russland oder die Allrussische Volksfront. Andere, wie Dimitri Orlow, spezialisieren sich vor allem auf Parteien oder, wie Michail Winogradow oder Jewgeni Mintschenko, auf die russischen Regionen.

In der Wahrnehmung der Bevölkerung ist Polittechnologie meist negativ konnotiert und wird oft auch mit Politologie, also Politikwissenschaft, verwechselt, was nicht nur vom manipulativen Charakter des politischen Prozesses im postsowjetischen Russland, sondern auch von der tiefen Krise der Geistes- und Sozialwissenschaften zeugt9.


1.Nicht von ungefähr ist nach dem Fürstenberater eine der bekanntesten russischen Agenturen benannt: Nikkolom.
2.Zasurskiĭ, I. (2004): Media and power in post-Soviet Russia, New York, S. 72 - 76
3.rapc-congress.ru: II Kongres Russijskoj associacii političeskich konsulʼtatov (RAPK)
4.government relations
5.Wilson, A. (2005): Virtual politics: faking democracy in the post-Soviet world, New Haven
6.Pomerantsev, Peter: Nichts ist wahr, alles ist möglich
7.Ledeneva, A. V. (2006): How Russia really works: The informal practices that shaped post-Soviet politics and business, New York, S. 28 - 56
8.The New York Times: The Agency
9.Kharkhordin, O. (2015): From Priests to Pathfinders: The Fate of the Humanities and Social Sciences in Russia after World War II, in: The American Historical Review, 120(4), S. 1283-1298
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Die Russische Zentralbank ist die Hüterin der Währungsstabilität. War die vorrangige Aufgabe der Zentralbank in den 1990ern, die Inflation des Rubels zu begrenzen,so konnte sie im letzten Jahrzehnt dank steigender Rohstoffexporte große Währungsreserven anhäufen. Ende 2014 musste die Zentralbank einen Teil der Reserven jedoch verkaufen, um den drastischen Kursverfall des Rubels zu verhindern.

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Sergej Udalzow (geb. 1977) ist einer der bekanntesten russischen Oppositionspolitiker. Er ist in mehreren Bewegungen aktiv und gilt als einer der Anführer der außerparlamentarischen Linken. Aufgrund seiner regierungskritischen Aktivitäten steht er regelmäßig in Konflikt mit der Staatsmacht. 2013 wurde er wegen Organisation von Massenunruhen bei den Bolotnaja-Protesten zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, im August 2017 kam er frei. 

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