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Bystro #8: Ljudmila Alexejewa

Am 8. Dezember 2018 ist Ljudmila Alexejwa mit 91 Jahren verstorben. Sie galt als Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung. Was machte sie so einzigartig? Einen Überblick über ihr Leben und Wirken gibt Maike Lehmann – in fünf Fragen und Antworten.

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  1. 1. Am Samstag ist Ljudmila Alexejewa verstorben, die Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung. Was für ein Mensch war sie?

    In gewisser Hinsicht war Ljudmila Alexejewa eine typische Vertreterin ihrer Generation. Aufgewachsen in den 1930er und 1940er Jahren, war sie eine junge Stalinistin bis sie nach der Geheimrede Chruschtschows 1956 in ihrer Parteizelle den stalinistischen Terror erklären musste. 
    Aber während sich Altersgenossen in der neuen sowjetischen Konsumgesellschaft einrichteten, beteiligte sich Ljudmila Alexejewa in den 1960er und 1970er Jahren an der Dokumentation staatlicher Repressionen. Sie organisierte außerdem die Unterstützung der Familien von Inhaftierten, trotz mehrerer Verhöre durch den KGB. 
    Nachdem sie 1976 die Moskauer Helsinki Gruppe mit begründet hatte, wurde sie ins Exil gedrängt, setzte aus den USA aber ihre Informationsaktivitäten zu Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion fort und erklärte dem Westen zugleich die Dissidentenbewegungen.

  2. 2. Was machte Ljudmila Alexejewa so einzigartig?

    Was sie von ihren MitstreiterInnen unterschied, war ihre besondere Fähigkeit, zwischen Ost und West zu übersetzen, mit soviel Bestimmtheit wie Humor und ohne viel Aufhebens um ihre eigene Person. Sie verstand im besonderen Maße wie Aufmerksamkeit in den Medien dem Kampf für Menschenrechte dienlich sein konnte. Zugleich gehörte sie zu den wenigen exilierten DissidentInnen, die nach 1991 nach Russland zurückkehrten und dort ihre Arbeit fortsetzten. 
    Trotz nachlassender Gesundheit nahm sie bis vor wenigen Jahren an Demonstrationen teil, reiste um die Welt, schuf durch konsistente Anwesenheit bei den öffentlichen Sitzungen des Polizeikonzils eine effektive Plattform zur Verteidigung der Rechte von verhafteten Demonstranten. Und sie scheute sich zugleich nicht, im Menschenrechtsrat der Regierung mitzureden und -zustreiten, ob es nun um den Tschetschenienkrieg, das Agentengesetz oder die Versammlungsfreiheit ging. 
    Einzigartig war auch ihre Bereitschaft über die Jahre, mit allen zu reden, beharrlich in ihren Grundsätzen, witzig und pointiert, mit viel Hoffnung für die junge Generation, aber auch ohne große Illusionen über die Schwierigkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements in Russland.

  3. 3. Ljudmila Alexejewa war zu Sowjetzeiten Mitbegründerin der Moskauer Helsinki Gruppe. Was war das für eine Organisation?

    Die Moskauer Helsinki Gruppe wurde 1976 gegründet, nachdem die KSZE-Schlussakte in Helsinki unter anderem die Achtung der Menschenrechte samt der Gedanken- , Überzeugungs-, Religions- und Meinungsfreiheit völkerrechtlich für alle Unterzeichnenden und somit inklusive der Sowjetunion festlegte. Die Gründungsmitglieder waren Dissidenten und Menschrechtsaktivisten, die schon zuvor in unterschiedlichen Konstellationen die Verletzung der sowjetischen Verfassung und Gesetzgebung durch Gerichte, Geheimdienst und Miliz dokumentiert und international publik gemacht hatten. 
    Mit Helsinki gab es nun eine internationale Rechtsnorm, deren Nichteinhaltung durch den sowjetischen Staat neben der Moskauer auch Helsinki Gruppen in der Ukraine, dem Baltikum und im Kaukasus dokumentierten. Letztere hatten aber keinen vergleichbaren Zugang zu internationalen Medien wie die Moskauer Helsinki Gruppe. Nach Verhaftungen und Exilierung der Mitglieder stellte die Moskauer Helsinki Gruppe 1982 ihre Aktivitäten ein.

  4. 4.  Und was macht die Moskauer Helsinki Gruppe heute?

    1989 kam es zu einer Neugründung der Gruppe, die sich seither weiterhin für die Wahrung von Menschenrechten und Versammlungsfreiheit einsetzt. In den 1990er Jahren erhielt die Gruppe Büroräume auf Anweisung von Präsident Jelzin, was damals als Ausweis des Prestiges der Gruppe gesehen wurde. 
    Angesichts des Agentengesetzes von 2012 entschied sich die Moskauer Helsinki Gruppe dafür, ausländische Finanzquellen aufzugeben, um ihre Menschenrechtstätigkeit zumindest im eingeschränkten Rahmen fortsetzen zu können. Dennoch setzt die Gruppe ihre Kritik an der staatlichen Politik fort, nicht zuletzt am Agentengesetz. So trat Ljudmila Alexejewa aus Protest gegen die Wiederwahl Putins aus der Menschrechtskommission 2012 zurück, kritisierte 2014 die Besetzung der Krim, um dann 2015 wieder einen Sitz in der Menschenrechtskommission des Präsidenten zu übernehmen, um hier die Stimme der Nichtregierungsorganisationen hörbar zu machen.

  5. 5. Putin honorierte nun ihre Verdienste für die Zivilgesellschaft, war auf ihrer Trauerfeier. Wie war das Verhältnis der beiden zueinander?

    Ljudmila Alexejewa hat Putin wiederholt für seine Politik kritisiert, sei es in Tschetschenien, in der Ukraine, in Bezug auf seine dritte Wahl zum Präsidenten, die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die politische Atmosphäre, die die Regierung nach Beginn des Krieges in der Ostukraine im Land schürte.
    Als Putin sie zu ihrem 90. Geburtstag besuchte, nutzte sie die Gelegenheit, ihn um die Amnestierung von Igor Ismestijew zu bitten, einen ehemaligen Senator, der 2007 wegen Mordes angeklagt und verurteilt wurde, wofür nach Ansicht seiner Anwälte keine ausreichenden Beweise präsentiert wurden.

     



*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Maike Lehmann
Stand: 12.12.2018

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„Agentengesetz“

Vor dem Hintergrund der Bolotnaja-Proteste hat die russische Staatsduma im Jahr 2012 das sogenannte „Agentengesetz“ verabschiedet. Es sanktioniert „politisch aktive“ Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die finanziell aus dem Ausland unterstützt werden.

Das Gesetz wurde seitdem mehrfach ausgeweitet und verschärft: Seit November 2017 können auch Medien zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, seit Ende November 2019 auch Einzelpersonen. Seit Dezember 2020 können soziale Bewegungen und Einzelpersonen nicht nur bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland zu „Agenten“ erklärt werden, sondern auch dann, wenn sie „politische Aktivitäten“ im Interesse einer „ausländischen Quelle“ entfalten. Außerdem werden sie verpflichtet, ihre Publikationen mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ zu versehen. Auch Medien müssen darauf verweisen, wenn sie entsprechende Personen oder Organisationen erwähnen. Im Juli 2022 unterschrieb Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Die Regelungen sind schwammig formuliert, das aus der Stalinzeit stammende „Agenten“-Label wird nicht selten selektiv und willkürlich angeheftet. Betroffene Organisationen müssen außerdem strenge Vorschriften einhalten, die ihre Arbeit erheblich erschweren.

Mit Beginn der dritten Amtszeit Putins ist der Druck auf Nichtregierungsorganisationen in Russland gestiegen. Vor dem Hintergrund der Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12, die vom Kreml schnell als durch die USA gesteuert dargestellt wurden, unterschrieb Putin noch im Jahr 2012 eine Änderung des „Gesetzes über nicht-kommerzielle Organisationen“. Das sogenannte „Agentengesetz“ stigmatisiert „politisch aktive“ NGOs, die aus dem Ausland finanzielle Förderung erhalten, als „ausländische Agenten“. Es sieht eine Reihe von Vorschriften und Sanktionen für die betreffenden NGOs vor: Diese umfassen strenge Rechenschaftspflichten, die Vorgabe, sämtliche publizierte Materialien mit dem Label „ausländischer Agent“ zu versehen sowie Geldstrafen und Freiheitsentzug im Falle einer Nicht-Registrierung im Agenten-Verzeichnis des Justizministeriums.

Wie wirkt das Gesetz in der Praxis? Die Erfahrungen mit dem Agentengesetz zeigen, dass die Umsetzung in erster Linie uneinheitlich und selektiv erfolgt.1 Dies mag zum einen an den diversen Verteidigungsstrategien der betroffenen NGOs liegen. Zum anderen aber auch an der bewusst vagen Formulierung des Gesetzes an sich: Das Kernkonzept „politisch aktiv“ wird nirgends umfassend definiert. Ambivalente Gesetze räumen Staatsorganen einen hohen faktischen Ermessensspielraum ein und öffnen einer selektiven Rechtsanwendung Tür und Tor.2 Die Justiz wird mehr und mehr zum Spielball politischer Einflüsse. Dass einige Gerichtsurteile zum Agentengesetz ungewöhnlich lange auf sich warten ließen, ist mehrfach so interpretiert worden, dass zunächst auf eine Anweisung „von oben“ gewartet werden musste.3

Die Phase der Nicht-Anwendung des Gesetzes unmittelbar nach seinem Inkrafttreten hat bald darauf einer aktiven „Agentenjagd“ Platz gemacht: Im Frühjahr 2013 begannen weitreichende und unangekündigte Überprüfungen von NGOs, die teilweise Sanktionen auf Grundlage des Agentengesetzes nach sich zogen. Neuen Antrieb erhielt die Kampagne gegen NGOs weiterhin durch eine Gesetzesänderung im Frühjahr 2014, die es dem Justizministerium erlaubt, NGOs eigenhändig in das Verzeichnis ausländischer Agenten einzutragen. Das zu Beginn noch leere Agentenregister des Justizministeriums füllte sich zusehends: Im August 2015 wurde die 87. Organisation registriert. Viele NGOs stellten daraufhin ihre Arbeit ein, andere wandten sich von ausländischen Fördergeldern ab und schränkten ihre Ausgaben ein. Somit konnte das Justizministerium mit der Zeit vermelden, weniger „Agenten“ in dem Register zu führen: Im Februar 2021 waren es 75 Organisationen, unter ihnen das Meinungsforschungsinstitut Lewada und die Menschenrechtsorganisation Memorial, sowie fünf ihrer Unterabteilungen beziehungsweise regionalen Niederlassungen.4 Der Handlungsspielraum von NGOs ist zusätzlich eingeschränkt durch das im Mai 2015 in Kraft getretene Gesetz über „unerwünschte Organisationen“, das administrative und strafrechtliche Sanktionen (bis hin zum Tätigkeitsverbot) für in Russland tätige ausländische Organisationen vorsieht, die als Regimebedrohung aufgefasst werden. Im Februar 2021 galten insgesamt 31 Organisationen als „unerwünscht“.5

Seit November 2017 können zudem auch Medien als „ausländische Agenten“ deklariert werden. Auch hier ist das Gesetz so schwammig formuliert, dass schon eine Teilnahme an einer Journalisten-Konferenz im Ausland ausreicht, um das ganze Medium zum „Agenten“ zu erklären. Ende November 2019 hat die Duma außerdem in dritter Lesung ein Gesetz verabschiedet, wonach auch Einzelpersonen zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden können. Theoretisch reicht es aus, wenn sie den Beitrag eines Mediums, das bereits als ausländischer Agent gilt, öffentlich teilen und außerdem Geld aus dem Ausland erhalten, unabhängig aus welcher Quelle. Duma-Abgeordnete beeilten sich damals, zu versichern, dass das Gesetz als Gegenmaßnahme zu ähnlichen US-amerikanischen Regelungen gedacht sei. Vor allem sei es gegen Mitarbeiter von denjenigen Auslandsmedien gerichtet, die als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Tatsächlich ist das Gesetz jedoch so breit formuliert, dass eine selektive und willkürliche Auslegung möglich ist. Im Dezember 2020 hat das Justizministerium fünf Einzelpersonen in das Agentenregister für Medien aufgenommen, unter anderem den Menschenrechtsaktivisten Lew Ponomarjow.6 Im Juli 2022 unterschrieb Wladimir Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Insgesamt sollen diese Regelungen die Arbeit von politisch aktiven Organisationen erschweren; sie funktionieren aber auch als eine Drohkulisse, die „unerwünschte“ politische Aktivitäten im Keim ersticken. Ihre Verabschiedung ging einher mit dem systematischen Beschneiden der Bürgerrechte in Russland. So sind heute alle Dimensionen der Handlungsfelder unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen – von Registrierung und Aktivitäten, über Versammlungsfreiheit und freie Rede bis hin zu Ressourcen und internationalen Kontakten – mit rechtlichen Schranken versehen und zum Teil kriminalisiert.

Stand: 14.07.2022


1.ausführlich zu den Auswirkungen des Agentengesetzes: Ochotin, Grigorij (2015). Agentenjagd: Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa 2015 (1-2), Berlin, S. 83-94 
2.vgl. Lauth, Hans-Joachim / Sehring, Jenniver (2009). Putting Deficient Rechtsstaat on the Research Agenda: Reflections on Diminished Subtypes, in: Comparative Sociology 2009 (8), S. 165-201 
3.Siegert, Jens (2014). Mehr als ein Jahr „Agenten“-Jagd – eine Art Zwischenbericht, in: Russland-Analysen 2014 (278), S. 25-27 
4.vgl. minjust.ru: Svedenija reestra NKO, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
5.vgl. minjust.ru: Perečen' inostrannych i meždunarodnych nepravitel'stvennych organizacij, dejatel'nost' kotorych priznana neželatel'noj na territorii Rossijskoj Federacii 
6.minjust.gov.ru: Reestr inostrannych sredstv massovoj informacii, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
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Farbrevolutionen

Als Farbrevolutionen bezeichnet man eine Reihe friedlicher Regimewechsel in post-sozialistischen Ländern. Diese wurden unter anderem durch gesellschaftliche Großdemonstrationen gegen Wahlfälschungen ausgelöst. Aufgrund der Farben beziehungsweise Blumen, mit denen die Bewegungen assoziiert werden, ist der Sammelbegriff Farbrevolutionen entstanden. Stellt der Begriff für die politische Elite in Russland eine Bedrohung ihrer Macht dar, verbinden oppositionelle Kräfte damit die Chance auf einen Regierungswechsel.

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AGORA

AGORA ist eine bekannte russische Menschenrechtsorganisation, die sich juristisch für die Rechte von Aktivisten, Journalisten, Bloggern und Künstlern einsetzt. In jüngster Zeit geriet die Organisation in die Schlagzeilen, da sie vom Justizministerium als sog. ausländischer Agent registriert wurde.

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